Ellen war dreimal verheiratet, das erste und längste Mal mit einem Polizisten. Dann zweimal verwitwet. In der vierten Ehe mit Hermann gebar sie ihr erstes Kind, eine Tochter. Als diese sechs Jahre alt war und in die Schule kam, machte sich der Vater aus dem Staub.
Nach dem Jahr, in dem sie in eine kleinere Wohnung zog, waren der Frühling und auch der Sommer die glücklichste Zeit in ihrem Leben. Auch, weil sie so manches aus früherer Zeit verdrängt hatte. Als alleinerziehende Mutter hatte sie nicht das Geld, um mehr als ein paar Möbel zu kaufen. Aber in der Leere und Einfachheit gab es viel Raum für Glück mit ihrer Tochter. Allerdings lastete eine unendlich empfundene Verantwortung auf ihr. Vergleichbar einem Zuschauer, der mit seinem Blick einen Seiltänzer ins Schwanken und vielleicht sogar zum Absturz bringt.
Gerade ist Ellen dabei sich ihren Lidstrich nachzuziehen und die Wangen frisch zu pudern, als es an der Haustür klingelt. Eine alte Frau aus der Nachbarschaft mit einem Gesicht wie eine Dörrpflaume steht vor ihr. Sie grinst und entblößt die Lücken zwischen den Zähnen, die in alle Richtungen stehen. Von den Menschen aus der Siedlung wurde sie immer geschnitten.
„Am Fußgängerüberweg, Ende der Straße, ist ein Kind angefahren worden“, sagt sie mit ihrer tiefen Stimme. „Ich glaube es ist ihre Tochter. Ein Notarztwagen fährt sie gerade ins Krankenhaus Wandsbek.“
Ellen bedankt sich erschrocken für die Nachricht, sprintet sofort zu ihrem Auto und fährt los.
Sie versucht sich auf die Fahrt zur Unfallklinik zu konzentrieren, doch Erinnerungen an gemeinsame Unternehmungen und Gefühlsgewitter mit dem Mann ihrer Tochter verhaken sich ineinander. Nur kurze Zeit, vielleicht wenige Minuten vor der Ankunft in der Unfallklinik, herrscht konzentrierte Stille in ihrem Kopf.
In der chirurgischen Abteilung wird ihr gesagt, dass dem Kind gerade ein Bein amputiert wird. Sie müsse solange hier im Wartezimmer bleiben, bis die Operation beendet und die Wirkung der Narkose vorüber ist.