Kriminelles Verhalten ist, was wir als kriminell definieren

Text

von  Mondscheinsonate

Feedback- Soziologischer Ansatz, welcher die Bewertung eines Verhaltens als abweichend als Ergebnis eines Zuschreibungsprozesses versteht. Handlungen sind demnach nicht an sich krank oder kriminell, sondern werden in einem sozialen Aushandlungsprozess zu solchen erklärt.

Pschrembel.de - Labeling Theorie


Das Gegenstandsinteresse der Forschung ist die Normanwendung, nicht die Norm. 

Beispiele:

Ein junger Mann zahlt an der Kasse ein paar Sachen, will hinausgehen, wird vom Ladendetektiv aufgehalten (übrigens, 10% werden im Schnitt beim Diebstahl erwischt. Supermärkte kalkulieren das in die Preise mit ein), wird gebeten, dass er die Hosentasche leert, darin findet sich eine Dose Red Bull (eingetragene Marke). 

Der junge Mann sagt, dass er die Dose vorhin bei einem Stand gekauft hat. Die Frage: Glaubt ihr das?


Überlegen wir: 

- Der junge Mann ist der Sohn von der besten Freundin der Kassiererin. 

- Der junge Mann hat Migrationshintergrund

- Der junge Mann ist äußerst gut gekleidet 

- Der junge Mann wohnt in einem Dorf, wo jeder jeden kennt


Wann wird eher geglaubt?


Zweite Situation:


Samstag Nacht, zwischen zwei und drei Uhr Früh, ein äußerst gut gekleideter Herr, sichtlich illuminiert (auf Deutsch: besoffen), geht zur Gardarobe, schnappt sich einen Mantel und will gehen. Da schreit einer: "Halt! Das ist meiner! Diebstahl!"

Der Mann entschuldigt sich und meint, es sei ein Irrtum gewesen. 

Selbe Situation, nur ein sichtlich delogiert wirkender Mensch handelt gleich, sagt dasselbe. 

Glaubt man beiden?

 





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Kommentare zu diesem Text


 lugarex (17.05.24, 10:47)
heute glaube ich nie niemanden -- vielleicht morgen, sorry

 Graeculus (17.05.24, 14:46)
Ich möchte unterscheiden zwischen kriminellem Verhalten an sich und der Zuschreibung eines bestimmtaen kriminellen Verhaltens bei einer bestimmten Person.
So ist z.B. Ladendiebstahl bei uns ein kriminelles Delikt, aber ob dieser Mann ein Ladendieb ist, steht auf einem anderen Blatt und muß erst in einem Strafverfahren untersucht werden.

Daß kriminelles Verhalten an sich eine Sache gesellschaftlicher Definition ist, dafür sind homosexuelle Handlungen ein gutes Beispiel: In vielen Staaten galten und gelten sie als kriminell, bei uns hingegen überhaupt nicht mehr.

Aber wie steht es mit folgendem Beispiel? (Vgl. Sophokles: Antigone) Der Staat erklärt einen Bürger zum Staatsfeind und verbietet seine Bestattung - er soll den Hunden überlassen werden.
Die Schwester dieses Mannes setzt sich über das Verbot hinweg und bestattet ihren Bruder. Der Staat erklärt dies zu einer kriminellen Handlung.
(Etwas Ähnliches hatten wir jetzt in Rußland: Der Priester, der Alexei Nawalny rituell bestattet hat, ist von der russisch-orthodoxen Kirche bestraft worden.)
Hier bin ich der Ansicht, daß es ein höheres Recht als das des Staates gibt (nenne man es nun natürliches oder göttliches Recht), und daß der Staat selbst, der kriminelles Verhalten definiert, nach einem anderen Maßstab kriminell sein kann.
Ob ein vom Staat besoldeter Jurist dem zustimmen würde, weiß ich nicht; aber ich bin kein solcher und sage es in voller Überzeugung: Der konkrete Staat mit seinem positiven Recht ist nicht die höchste Instanz. Wenn ein Staat die Bestattung des Bruders verbietet oder Juden für vogelfrei erklärt, dann begeht er ein Unrecht und ist selbst kriminell.

Als Maßstab für ein solches höheres Recht möchte ich die sog. Goldene Regel ins Gespräch bringen: Behandele die anderen Menschen so, wie du von ihnen behandelt werden möchtest. Niemals hätten Die Nazis irgendjemandem zugestimmt, der sie selbst für vogelfrei erklärt hätte.
Das ist aber nur ein Diskussionsvorschlag, denn man muß sich schon darüber unterhalten, worin dieses höhere Recht bestehen soll, sofern es nicht selbst kodifiziert ist.

Kommentar geändert am 17.05.2024 um 14:54 Uhr

 Mondscheinsonate meinte dazu am 17.05.24 um 15:24:
Wir sind die höchste Instanz. Und, es gibt ein Klassenrecht. Desweiteren, es wird nicht eine Tat als kriminell betrachtet, sondern viele sagen: Das ist ein Krimineller. Daher war die Labeling Theory ein guter Wegweiser für die Einführung der Diversion. Besonders wichtig bei Jugendlichen. 
Auch ist es klar, dass sozial Schwächere schneller kriminalisiert werden als Reiche. Was glaubst du, dreiviertel des StGB (Ö und D) ist voll von der Bestrafung bei Eigentumsdelikten. Das ist auch gewollt, es geht um die kapitalistische Gesellschaft, das wurde angepasst. 
Niemand behandelt alle gleich. Wo wir wieder bei Vorurteilen wären, die uns lenken. Auch begeht eine Handvoll etwas, sind es bei vielen gleich "alle".

 Graeculus antwortete darauf am 17.05.24 um 16:04:
Das ist das staatlich gesetzte Recht (plus Vorurteile der Gesellschaft), das einem zeitlichen Wandel unterliegt und selbstverständlich stark beeinflußt wird von den Klassen, die das Recht setzen. Soweit einverstanden.

Darüber hinaus anerkennst Du nichts? D.h. es gibt nichts, worauf Antigone sich berufen kann, wenn sie ihren Bruder bestattet, nichts, worauf Juden sich berufen können, wenn ein Ghetto einen Aufstand macht?
Dann wird meines Erachtens das Recht eine Sache der Willkür der herrschenden Klasse.

Auf die Idee universeller Menschenrechte sind Rousseau und Kant aber nicht als Agenten einer bestimmten Klasse, sondern durch eine vernünftige Überlegung gekommen: Welchem Recht kann jeder Beteiligte einer Gesellschaft freiwillig zustimmen? Ein System, in dem du nur das tun darfst, was du jedem anderen gleichermaßen zugestehen kannst. Also: Freiheit, eingeschränkt durch Gleichheit.

Interessant finde ich auch das Gedankenexperiment von John Rawls mit dem "Schleier des Nichtwissens": Denke dir eine Gesellschaftsordnung und ein Rechtssytem aus, von dem du nicht weißt, welche Stellung du selbst darin einnehmen wirst. Dabei wird ein gerechtes System herauskommen, denn du wirst keine Frauen diskriminieren (weil du nicht weißt, ob du selbst als eine Frau darin leben wirst), keine Homosexuellen (weil du nicht weißt ...), keine Farbigen (weil ...) und keine Armen (weil ...).

Das ist eine Variante von Rousseau und Kant, denn auch bei denen darf deine persönliche Situation, dürfen deine speziellen Interessen keine Rolle für das Rechtssystem als ganzes spielen.

 Teichhüpfer (17.05.24, 15:54)
Ein Mann mit Deutschen Pass, das ist Schnee von gestern. Ein Deutscher kann sich genau so einen Pass aus Spanien machen lassen.

 Teichhüpfer schrieb daraufhin am 17.05.24 um 16:32:
Das stimmt an sich noch nicht. Nach dem Europagesetzt, muss da ein Tatbestand sein, ansonsten nix mit Kriminell.

 Augustus (17.05.24, 16:07)
Erste Situation kann man leicht anhand des Warenbestandes überprüfen. Fehlt im Warenbestand eine Dose, dann ist sie sehr wahrscheinlich geklaut. Insbesondere, wenn der junge Mann keine Rechnung besitzt, würde er die Anklage verlieren. 

In der Realität stimmt der Warenbestand im System mit den Waren im Regal nicht überein, sodass man das Argument mit dem Warenbestand dann gegen den junge Mann nicht verwenden kann. Dann zählt ausschließlich die Rechnung. Kann er keinen Nachweis erbringen, gewinnt der Detektiv.
Zu den Punkten; 

- dann lässt ihn der Detektiv laufen, da der Wert der Dose gering ist und er seiner Kollegin nicht schaden wird. 

- auf Grund des geringen Werts der Dose ist es wahrscheinlich, dass der Detektiv den jungen Mann laufen lässt, insbesondere wenn der Detektiv selbst Migrationshintergründen hat. 

- die Täuschung liegt darin, dass man einem gut gekleideten jungen Mann glaubt, dass er die Wahrheit sagt, weil die Bekleidung suggeriert, er hat es nicht nötig zu klauen, vorallem nicht Dinge von wenig wert. Der Widerspruch in der Wahrnehmung erzeugt ein unschlüssiges Bild, weshalb auch hier der junge Mann davon kommt. 

- ein Dorf, wo jeder jeden kennt, hält in der Regel zusammen. Der Wert der Dose ist - wie schon festgestellt - unbedeutend; daraus abgeleitet ist es auch für den Detektiven unbedeutend, ob es ein Diebstahl war. Auch hier entgeht der junge Mann dem Vorwurf eines Diebstahls. 

Zweiter Fall; 

- es ist sehr unwahrscheinlich, dass diese Situation einen Diebstahl auslöst, weil in der Regel hier eine weitere Person (das garderobemädchden/junge) involviert ist, die den falschen Mantel der falschen Person überreicht. 

Sollte es aber kein garderobenoersonal geben, so kann der besoffenen Person geglaubt werden, insbesondere dann, wenn die Person ihren tatsächlich mitgeführten Mangel abholt. Hatte es aber keinen dabei, so ist es offensischtlich Diebstahl. 

Eine KI würde sehr wohl alle möglichen Wahrschenlichkeiten berechnen (den sozialen Kontext aber völlig ausschließen) und anhand der Höhe der Wahrscheinlichkeit eines Diebstahls, wäre das Ergebnis versuchter Diebstahl oder eben nicht.

 Mondscheinsonate äußerte darauf am 17.05.24 um 20:29:
Danke für die Auseinandersetzung mit den Beispielen. In Wien gab es einmal einen, der ging mit Armani Anzug in verschiedene Banken, nahm Kredite auf, sagte immer, dass er seine Gehaltszettel vergessen hätte. Von fünf Banken gaben ihm drei die Kredite. Das war ein Unterstandsloser, den ein Reporter einkleidete. Eine Versuchsperson. So viel zu "Kleider machen Leute".
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