Mit Bertl in Kolkata

Anekdote zum Thema Allzu Menschliches

von  KonstantinF.

 

Das Projekt mit den indischen Subunternehmern zog sich jetzt schon ins dritte Jahr, und der Termindruck war allmählich immens. Vollmundige Versprechen seitens der Inder wurden nicht immer eingehalten, die Ausreden immer märchenhafter. Alle paar Monate reiste Mr. Batu, der Projektleiter aus Kolkata, zu Besprechungen nach Deutschland. Er liebte das Land und vor allem deutschen Fußball, und so hatten wir von Anfang an ein gutes Verhältnis zueinander und ein gemeinsames Gesprächsthema.

Unser Auftraggeber, eine große Versicherung, verstärkte noch einmal den Druck, was wiederum unseren Projektleiter dazu bewog, den Indern ein bisschen mehr auf die Finger zu klopfen, natürlich so diplomatisch wie möglich: Er schickte mich und meinen sehr erfahrenen Kollegen Bertl für zehn Tage nach Kolkata. Wir hatten den Verdacht, dass er diese Reise auch als eine Art Belohnung für die vielen stressigen Monate mit unzähligen Überstunden betrachtete. Ich hatte nichts dagegen. Privat wäre ich nie nach Indien gereist.

Ein Upgrade in die Business Class ließ den langen Flug trotz erheblicher Verspätung bequem und schnell vergehen. Es war kurz vor Mitternacht Ortszeit, als wir endlich in Kolkata landeten. Mr. Batu und sein Chauffeur, der uns auch in den folgenden Tagen vom Hotel ins Büro und zurück fahren würde, begrüßten uns höflich und freundlich. Natürlich kamen wir nicht umhin, an der Hotelbar noch einen Begrüßungstrunk zu nehmen - vielleicht waren es auch zwei, drei – um dann so gegen halb drei endlich ins Bett zu fallen.

Wie verabredet, stand ich morgens nach einem ausgiebigen Frühstück gegen neun in der Hotelhalle bereit, Batus Chauffeur hielt sich auch schon diskret im Hintergrund. Nur von Bertl gab es keine Spur. Dass er nicht zum Frühstück erschienen war, hatte mich noch nicht beunruhigt, aber jetzt machte ich mir allmählich Sorgen. Allerdings hatte ich in der Turbulenz des vergangenen Abends nicht nach seiner Zimmernummer gefragt. Sein Handy war ausgestellt, wahrscheinlich hatte er es nach dem Flug gar nicht mehr aktiviert. Deshalb bat ich den jungen Rezeptionisten, in Bertls Zimmer anzurufen.

Der junge Mann ließ es lange klingeln, dann zuckte er mit den Schultern und bedeutete mir, dass niemand abhob. Vielleicht war Bertl ja noch unter der Dusche. Ich bat, es nach ein paar Minuten noch einmal zu versuchen. Wieder ohne Erfolg.

Dann ging alles sehr schnell. Ein weiterer kurzer Anruf des Rezeptionisten, und ich sah zwei uniformierte Security-Mitarbeiter im Aufzug verschwinden. Mir wurde mulmig. War der gestrige Tag für Bertl, der etliche Jahre älter war als ich und kurz vor der Rente stand, zu viel gewesen?

Nach etwa zehn Minuten kehrten die beiden Sicherheitsleute breit grinsend zurück. „He overslept“, informierte mich der eine kurz und bündig. Und die ganze Geschichte erfuhr ich anschließend auf der Autofahrt ins Büro, nachdem Bertl – offensichtlich nach einer Blitzdusche und mit noch feuchten Haaren – ins Foyer geeilt kam.

Ich wusste zwar von Bertl Schwerhörigkeit, hatte aber nicht das Ausmaß dieser Behinderung bedacht. Auf dem einen Ohr war er fast taub, und wenn er auf dem „guten“ Ohr lag, erklärte er mir, konnte es schon vorkommen, dass er sowohl den Wecker als auch das Telefon und das laute Klopfen an der Tür überhörte. Er hatte nach dem langen gestrigen Tag und der halben Nacht mit einigen Kaltgetränken tief und fest geschlafen und war erst aufgewacht, als ihn jemand schüttelte und ihn fragte: „Are you okay?“. Die Uniformierten, die wohl mehrmals an die Tür geklopft, diese dann mit dem Generalschlüssel geöffnet hatten und nun direkt neben seinem Bett standen, hatten bei ihm einen wahren Schock ausgelöst. Und wie peinlich war ihm diese Verspätung gleich am ersten Morgen!

Als wir im Büro ankamen, das sich als weit vorsintflutlicher erwies, als wir aus den Geschäftsunterlagen hatten erahnen können, empfing uns ein wie stets freundlicher, bis über beide Ohren grinsender Mr. Batu. Der Chauffeur hatte ihn sicher schon telefonisch über die Gründe der Verspätung informiert. Batu ließ sich nichts anmerken. Bertl bekam sogar noch ein kleines Frühstück offeriert, serviert von einem der vielen dienstbaren Geister, die uns von morgens bis abends mit Tee, Erfrischungsgetränken und kleinen Mahlzeiten verwöhnten.

Wie Bertl es in den nächsten Tagen schaffte, jeden Morgen pünktlich zu sein, weiß ich nicht mehr. Aber es gab keine weiteren besonderen Vorkommnisse. Einige kleine Ausflüge, darunter eine Bootsfahrt auf dem Ganges, machten diese Reise aber zu einem unvergesslichen Erlebnis. Und letztlich gelang es uns auch, das Projekt ein wenig voranzutreiben. Drei Monate später war Mr. Batu wieder zu Besuch in Deutschland und wir konnten den erfolgreichen Abschluss des Projektes feiern.



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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (17.05.24, 11:33)
Mir persönlich inhaltlich etwas zu betulich-anekdotenhaft, aber insgesamt handwerklich gut gemacht.

 KonstantinF. meinte dazu am 17.05.24 um 15:22:
Danke für Deine Einschätzung, Dieter! ;)

Gruß vom Konstantin
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