Am Ostermontag letztes Jahr legte der Zeck seine Hände um meinen Hals und drückte zu. Ich war gerade von einem Morgenspaziergang mit dem Köter zurück in die Wohnung gekommen. Der Zeck saß am Küchentisch, den Rücken zum Buckel gewölbt, die Ellbogen auf der Tischplatte, die Handflächen aneinandergepresst, als betete er. Durch die Oberlichte hinter ihm fiel ein milchig grauer Lichtstrahl, in dem sich Staubflocken auf- und ab bewegten. Der Zeck sah mich an. Er regte sich nicht, der Köter regte sich nicht, ich regte mich nicht. Nur die Staubflocken tanzen, dachte ich. Was für eine blöde, beschönigende Metapher, dachte ich. Tanzen. Tanzen. Ich muss es durch einen anderen Ausdruck ersetzen, dachte ich. Aber mir fiel keiner ein. Ich konnte überhaupt nicht denken. Tanzen. Tanzen schob sich vor alle anderen Wörter. Tanzen. Tanzen wiederholte sich in immer kürzeren Abständen. Mit jeder Wiederholung knallte das T härter und das Z schnalzte verächtlicher. Tanzen hämmerte auf mich ein.
Der Zeck seufzte. „Es ist zwecklos“, sagte er. „Du wirst es nicht schaffen“, sagte er. Der Zeck rührte sich immer noch nicht. Er sprach in seine Hände hinein. Seine Hände waren klein und kräftig wie der ganze Zeck klein und kräftig war. Und schwer. „Bei Fuß“, zischte der Zeck und der Köter fuhr mit einem Satz unter den Küchentisch. „Siehst du?“, sagte der Zeck.
Der Zeck und sein Köter waren etwa seit zwei Jahren in der Wohnung. Seit meinem vorletzten Geburtstag. Ich weiß nicht, wer sie hereingelassen hatte. Wie hingezaubert waren sie im Flur gestanden. Stocksteif und stinkend, schwer wie Statuen. Und geblieben. Seitdem kommentierte der Zeck jeden Schritt, jeden Handgriff, den ich machte, jedes Wort, jedes Geräusch, das ich von mir gab. Seitdem gab der Zeck die Befehle. „Du brauchst mich“, hatte er gesagt, „du kommst alleine nicht zurecht“. Anfangs gab ich mir alle Mühe, die Befehle genauso auszuführen, wie der Zeck es mir anbefohlen hatte. Doch jedes Mal unterlief mir mindestens ein Fehler. Ich hörte nicht richtig zu. Ich erinnerte mich falsch. Ich handelte vorschnell. Ich zögerte zu lange. Je mehr ich mich anstrengte desto schwerer fiel es mir einen klaren Gedanken zu fassen, überhaupt zu denken. Ich wurde immer langsamer und entscheidungsschwächer. Ich leerte mich. Mit jedem Tag wusste ich weniger über mich selbst. Über die Welt. Einzig die Gegenwart des Zecks war mir noch bewusst.
Am Ostermontag letztes Jahr war ich bereits ganz verstummt und zu kaum mehr in der Lage als der Verrichtung einfacher mechanischer Aufgaben. Essen. Toilettengänge. Zähneputzen. Den Köter ausführen. Ich würde den Beweis nicht erbringen können. „Siehst du?“, wiederholte der Zeck. Ich starrte weiter auf die Staubflocken die um seinen runden, spärlich behaarten Schädel herum – tanzten. Tanzen schoss es in meinem Kopf. „Du verhöhnst mich“, sagte der Zeck. „Du machst mich fertig“, sagte der Zeck. „Und sagst nicht mal danke“, sagte der Zeck. „Hältst dich noch für das Opfer“, sagte der Zeck. Der Köter knurrte leise. „Antworte!“, sagte der Zeck. „Sag danke!“, sagte der Zeck. „Danke, dass ich dich aushalte“, sagte der Zeck. „Danke, dass ich dir deine Fehler zeige“, sagte der Zeck. Tanzen. Tanzen, sagte ich.
Der Zeck sprang auf. Der Stuhl fiel um. Der Köter winselte. Ich rührte mich nicht. Der Zeck stand vor mir. Ich stand in seinem Geruch. Der Zeck legte seine kleinen, kräftigen Hände um meinen Hals und drückte zu. Der milchig graue Lichtstrahl blieb allein zurück.
Als ich erwachte, war der Lichtstrahl verschwunden. Der Zeck saß am Küchentisch, den Rücken zum Buckel gewölbt, die Ellbogen auf der Tischplatte, die Handflächen aneinandergepresst, als betete er. Zu seinen Füßen schlief der Köter.
Schlafwandeln. Schlafwandeln, dachte ich, stand auf, und ging aus der Wohnung. Hinein in die Dunkelheit.