Friedrich Hölderlin:

Der Tod des Empedokles

Eine Rezension von  Bergmann
veröffentlicht am 15.01.11

Er selbst zu sein, das ist
Das Leben, und wir andern sind der Traum davon.

sagt Panthea, die Tochter des Archon Kritias. Sie erkennt die Menschwerdung, die sich in dem Philosophen Empedokles vollzieht, den sich das Volk als Herrscher wünscht; er will eine souveräne Persönlichkeit werden und grenzt sich so von den Mitmenschen ab, die sich ihres Lebens noch unbewusst sind. Panthea zweifelt grundsätzlich an der Selbsterkenntnisfähigkeit:

O ewiges Geheimnis! Was wir sind
Und suchen, können wir nicht finden; was
Wir finden, sind wir nicht.

In der vierten Szene folgt eine andere Sicht von außen auf Empedokles, dessen Schüler Pausanias sagt:

Liegt nicht vor Dir der Menschen Schicksal offen?
Und kennst Du nicht die Kräfte der Natur,
Daß Du vertraulich, wie kein Sterblicher,
Sie, wie Du willst, in stiller Herrschaft lenkst?

Pausanias sieht in seinem Lehrer den verständigen Herrscher, der die unbewussten Untertanen zu ihrem Glück führt. Aber Empedokles, die Natur anrufend, antwortet:

Verachtet hab’ ich Dich, und mich allein
Zum Herrn gesetzt, ein übermütiger
Barbar! ...
Die Götter waren
Mir dienstbar nun geworden. Ich allein
War Gott und sprach’s im frechen Stolz heraus.
O glaub’ es mir, ich wäre lieber nicht
Geboren.

Empedokles lehnt die Rolle des aufgeklärten Monarchen ab. Sein Anspruch heißt, das Volk muss sich selbst regieren, jeder Einzelne muss göttliche Autonomie erlangen. Empedokles will mit seinen Mitmenschen als Gott unter Göttern leben. Er erkennt, dass die meisten Menschen ihr Leben weder selbst bestimmen wollen noch können und verflucht seine eigene Existenz, in der er so einsam ist wie später Hyperion, der Eremit in Griechenland. Empedokles gelingt im Unterschied zu Hyperion noch nicht die Annahme der göttlichen Einsamkeit; er verschiebt sein Leben auf das erkenntnisvollere Leben künftiger Menschen, die in einem revolutionären Akt eine Gesellschaft gleicher Götter herstellen. Er nimmt also seine Geburt zurück, indem er sich in den Schlund des Ätna wirft. Das ist so schrecklich ambivalent: Kneift Empedokles vor dem Leben oder opfert er sich mutig für eine Idee, die noch nicht reif genug ist, um gelebt zu werden, um die Entwicklung dahin zu beschleunigen?

In der fünften Szene wird deutlich, wie wichtig er als Kritiker der Kirche ist. Zum Priester Hermokrates sagt er:

Hinweg! Ich kann vor mir den Mann nicht sehn,
Der Heiliges wie ein Gewerbe treibt,
Dein Angesicht ist falsch und kalt und tot,
Wie Deine Götter sind.

Und dann wieder die Resignation:

Gönnet mir’s,
Den Pfad, worauf ich wandle, still zu gehen,
Den heil’gen, stillen Todespfad hinfort.

Jetzt greift Hermokrates scharf an, er spürt die Schwäche des Empedokles:

Der Sinn ist ihm verfinstert,
Weil er zum Gott sich selbst vor Euch gemacht. ...
Er hat’s vollbracht! Verruchter, wähntest Du,
Sie müßten’s nachfrohlocken, da Du jüngst
Vor ihnen einen Gott Dich selbst genannt?

Hölderlin zitiert hier das Christuswort am Kreuz: Es ist vollbracht! Und das anwesende Volk der Agrigentiner ruft ‚Barrabas’:

Nun ist es klar! Er muß gerichtet werden.

Kritias, ganz Politiker, ergänzt:

Ich hab’ es Euch gesagt; ich traute nie dem Träumer.

Er verschreit Empedokles Gesellschaftsideal als eine nicht realisierbare Utopie. Hermokrates verstößt Empedokles mit den Worten:

Du hast mit uns
Nichts mehr gemein. Ein Fremdling bist Du worden,
Und unerkannt bei allen Lebenden.

Diese Worte sind aus der Sicht des Ausgestoßenen Wahrheit geworden.

In der sechsten Szene allein mit Pausanias rechtfertigt Empedokles seinen Entschluss, sich in den Krater des Ätna zu stürzen, mit der Natur und dem allbewegenden Geist eins zu werden. Dem Schüler gelingt es nicht, den Lehrer davon abzuhalten. Empedokles will nicht „zum Rasenden“ werden in der politischen Auseinandersetzung mit den Agrigentinern, er will nicht wahnsinnig werden am Leben.

Überraschend kommt es im Zweiten Akt zur Wende. Das Volk hat sich besänftigt und ruft Empedokles zurück, der sich schon zum Ätna begeben hat, es will ihn als Führer (fünfte Szene). Doch der bleibt bei seinem Entschluss und lehnt ab:

Vergebens ists. Wir gehen verschiedne Wege.
Stirb Du gemeinen Tod, wie sichs gebührt,
Am seeelenlosen Knechtsgefühl!

entgegnet er Hermokrates. Leben wie ein Knecht ist schon tot sein. Ein Abgeordneter der Agrigentiner bittet noch einmal:

Wir wären götterfrei mit ihm geworden! ...
Sei unser wieder! ...
Du solltest König sein. ...
Ich grüße Dich zuerst und alle wollen’s.

Empedokles lehnt ab:

Dies ist die Zeit der Könige nicht mehr. ...
Hegt Im Neste denn die Jungen immerdar
Der Adler? Für die Blinden sorgt er wohl,
Und unter seinen Flügeln schlummern süß
Die Ungefiederten Ihr dämmernd Leben.
Doch haben sie das Sonnenlicht erblickt,
Und sind die Schwingen ihnen reif geworden,
So wirft er aus der Wiege sie, damit
Sie eignen Flug beginnen. Schämet Euch,
Daß Ihr noch einen König wollt! Ihr seid
Zu alt! Zu Eurer Väter Zeiten wär’s
Ein anderes gewesen. Euch ist nicht
Zu helfen, wenn Ihr selber Euch nicht helft.

Hier finden auch Hölderlins Zeitgenossen ihre Herrschaftsverhältnisse gespiegelt.

Die Rechtfertigung seines Todes gelingt Empedokles nicht so recht überzeugend. Er tritt als letzter, aufgeklärter Monarch ab:

Menschen ist die große Lust
Gegeben, daß sie selber sich verjüngen.
Und aus dem reinigenden Tode, den
Sie selber sich zur rechten Zeit gewählt,
Erstehn die Völker,
Wie aus dem Styx Achill, unüberwindlich!

Sie sollen die alten Gesetze vergessen, die alten Götter auch, und auf Natur und Vernunft setzen. Empedokles will nicht die Sisyphos-Arbeit als Aufklärer und Vorbereiter einer gewaltlosen Revolution leisten, er kann nicht leben in einer Welt, die für ihn nicht lebbar ist. Er glaubt,

... wie die Sterne, geht
Das Leben im Vollendungsgange weiter.

Er will aber jetzt lieber zerbrechen, um nicht als Herrscher missbraucht zu werden:

Es offenbart die göttliche Natur
Sich göttlich oft durch Menschen.
Doch hat der Sterbliche, dem sie das Herz
Mit ihrer Wonne füllte, sie verkündet,
O laßt sie dann zerbrechen das Gefäß,
Damit es nicht zu anderem Brauche diene!
...
Denn heilig ist mein Ende!

Ist Ehre nur im Tod?

fragt Pausanias in der sechsten Szene.

... soll ich Knechten gleich
Den Tag der Unehr’ überleben?

antwortet Empedokles und allein (siebte Szene) findet er Worte für seine Apotheose:

Und jetzt erst bin ich! - -
... Am Tod entzündet mir
Das Leben sich zuletzt.

Hier greift Hölderlin das Motiv des Opfertodes wieder auf. In der letzten Szene runden die Worte Pantheas, die zu Beginn des Stücks indirekt an der Idee der Selbstfindung und Selbstbestimmung des Menschen zweifelte, den Gedanken-Prozess im Gespräch mit Delia ab.

Nicht in der Blüt’ und Purpurtraub’
Ist heilige Kraft allein. Es nährt
Das Leben vom Leide sich, Schwester!
Und trinkt, wie mein Held, doch auch
Am Todeskelche sich glücklich!

Sie greift das Motiv des Kelchs auf, den Sokrates und Christus tranken, und sieht im Tod des Empedokles Sinn, wenn sie zuletzt sagt:

So mußt es geschehen.
So will es der Geist
Und die reifende Zeit.
Denn einmal bedurften
Wir Blinden des Wunders!

Gott stirbt, damit der Mensch frei werde. Hölderlins Drama zeigt den Prozess der Mündigwerdung. Der Mensch selbst ist göttlich. Er soll es erkennen und sich aus der politischen Knechtschaft befreien.

Das ist dem Ideen-Drama Schillers nah, aber der historische Kern wird noch radikaler reduziert: Der mythische Stoff genügt Hölderlin, er sucht den allgemeingültigen Kern: Er schreibt ein säkularisiertes Trauerspiel in der Nachfolge des Bürgerlichen Trauerspiels, das den aristokratischen Geist der antiken Tragödie zu überwinden sucht. Aber das scheitert an dem Verhalten der Masse, die nicht mündig werden will. Hölderlin führt nur unzureichend die gesellschaftlichen Bedingungen auf, unter denen die Idee des Empedokles scheitert: Die politische Elite und die Kirche manipulieren das Volk: Der opportunistische Archon von Agrigent, Kritias, und Hermokrates, der Priester der „Vaterlandsgötter“, der dreist den Spieß umdreht und Empedokles den Verführer des Volks nennt, der er selbst ist. Immerhin wird deutlich: Allein durch Bewusstseinsänderung, Vorbilder und Anleitung zur Selbsterziehung eines neuen Menschengeschlechts ist die bestehende Gesellschaftsordnung nicht zu überwinden – Hölderlin meint die zu seiner Zeit in Deutschland immer noch bestehende Herrschaft des Adels und die Macht der dem Staat dienenden Kirche. So steht am Ende der gegenüber Lessing und Schiller neue Gedanke, auf den der Tod des Empedokles anspielt: Er stürzt sich in den Krater des Ätna, der zur Metapher der Revolution wird.

Das Stück ist ein Gedankendrama, es zeigt den Prozess der Bewusstwerdung an Empedokles, aber auch sein politisches Scheitern, seine Resignation und Verzweiflung, die er durch den Freitod zum Fanal für den revolutionären Aufbruch umzubiegen versucht.

Hölderlins Dramenfragment ist ein Gedicht. In der dritten Fassung, die den Titel „Empedokles am Ätna“ trägt, steht Empedokles am Kraterrand des Ätna. Jetzt rückt die historische und gesellschaftliche Realität noch weiter weg – das Stück wandelt sich zur Tragödie des Menschen, der im Angesicht des Todes nach dem Sinn seines Lebens sucht und ihn im Tod findet. Die Aspekte der Resignation und Verzweiflung werden geringer, da der Tod selbst bestimmt wird und noch deutlicher als in der ersten Fassung als Opfer für die Freiheit der anderen gesehen werden kann. Einige Textstellen, in denen der Opfer-Gedanke zum Ausdruck kommt, assoziieren Christus-Bilder. Hier kehrt der Gott gewordene Mensch jedoch nicht zu Gottvater zurück, sondern er geht ganz in die Natur ein. Sie erscheint Empedokles als das höchste Sein, die absolute Vernunft.
Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.


Zurück zur Liste der  Rezensionen von Bergmann , zur Autorenseite von  Bergmann, zur Liste aller  Buchbesprechungen
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram