Aufgespießt

Unverschämtheiten aus Politik, Promiszene und Alltag


Die Kolumne des Teams " Aufgespießt"

Montag, 09. November 2009, 11:25
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Meine Quelle (ein Nachruf)

von  AlmaMarieSchneider


Heute möchte ich nicht über Managementversagen oder über Gustav Schickedanz und wie er zu seinem Vermögen kam schreiben, sondern darüber was „die Quelle“ für die Menschen in meiner Kinderzeit auf dem Lande bedeutete.
Das Jahr 1952 und noch Jahre danach, waren für viele Menschen mit Hunger, Entbehrung, Obdachlosigkeit und Krankheit verbunden. Überall waren Flüchtlinge einquartiert, dünne Frauen mit vielen hungrigen Kindern, knochigen alten Leuten und keine Männer.
Kleidung wurde selbst genäht. Jeder hatte Hasen und in die nächste Stadt kam man mit der Bahn. In der Regel eine Tagesreise und zu teuer. Doch ein Bote aus einer fernen Glitzerwelt erreichte auch das weit entlegenste Bauernhaus.
Regelmäßig stellte der Briefträger zweimal im Jahr einen dicken Katalog zu und wir Kinder blätterten mit großen Augen darin. Vor allem die Puppen, Malbücher und Aufzieh-Spielzeuge hatten es uns angetan. Einmal im Jahr, im November, durften wir uns ein kleines Weihnachtsgeschenk aussuchen, das dann auf unseren Wunschzettel stand, der zwischen ein Doppelfenster gelegt wurde. Das einzige übrigens, das nicht von Eisblumen verziert war. Unsere Wünsche waren stets bescheiden. Ein Malbuch mit eingezeichneten Figuren zum ausmalen oder Zeichenblock und neue Buntstifte. Meine Schwester wünschte sich schon zum wiederholten Male die kleine Negerpuppe, bekam aber stattdessen einen von der Oma gestrickten Bären mit Knöpfen von Opas alter Joppe als Augen und weicher Füllung aus Daunen, die unsere Gänse beisteuerten. Der Bär war rot und blau geringelt und sie getraute sich kaum damit auf die Straße. Der hübsche braune Teddy mit den großen Augen aus dem Quelle-Katalog traf da schon eher ihren Geschmack. So nahm den Geringelten schließlich die kleinste unserer Schwestern. Waren alle Wünsche aufgelistet, füllte Mutti einen Bestellschein aus, Vati strich davon wieder die Hälfte durch und wir brachten den Brief zur Post.
Nun lauerten wir fast täglich auf den Briefträger und nicht nur wir. Irgendwie schien er plötzlich das Interesse des ganzen Dorfes zu genießen. Quelle-Pakete wurden erwartet und natürlich wollte man auch noch wissen, wer sich so eines überhaupt leisten konnte und wie groß sie waren.
In einer Zeit, in der wir Kinder in Kriegsruinen spielten, eine warme Stube, Kunsthonig und eine Suppe schon an Luxus grenzten, getragene Kleider und Schuhe getragen und wieder weiter gegeben wurden, war das Quelle-Paket so etwas wie ein Staussymbol. Ein goldener Stern, der in eine harte Selbstversorger-Welt fiel.
Doch irgendwie verschwand dieses Paket auf geheimnisvolle Weise und auch wenn wir nach der Schule stundenlang neugierig das Haus durchstöberten. Es blieb verschwunden.
Erst am heiligen Abend tauchten unsere auf dem Wunschzettel aufgeschriebenen Geschenke wieder auf. Für uns war es immer der schönste Tag im Jahr. Auch der braune Teddy lag eines Tages unter dem Christbaum. Viele Jahre später spielten unsere Kinder mit einem braunem Fellball im Hof meiner Eltern Fußball. Es war der Körper des alten Quelle-Teddys, wohl der einzige Ball der beim kicken brummte.

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Kommentare zu diesem Teamkolumnenbeitrag


 Dieter_Rotmund (10.11.09)
Ich möchte ebenfalls nicht über Gustav Schickedanz schreiben, sondern was "die Quelle" in meiner Jugendzeit in der Stadt bedeutete.
Das Jahr 1990 und noch Jahre danach, waren für viele Menschen mit Zonen-Gabis, Trabi-Hondos, Wartburg-Andrés, kurz: dem Einfall der Ostgoten verbunden, außerdem mit Birnes Wiederwahl. Überall waren Flüchtlinge einquartiert, dünne Frauen mit dicken Kindern und viele Vokuhila-Männer. Kleidung gab es bei Karstadt. Jeder hatte Hasen in der Tiefkühltruhe und in die nächste Stadt kam man mit der Bahn. In der Regel eine Tagesreise und zu teuer.
Ich war Assistent in einem "Studio" für Modefotografie. Einer unserer Kunden war das Quelle-Versandhaus. Dieser Kunde schickte immer ein oder zwei Angestellte mit, wenn wir seine "Kollektion" fotografierten. Ich habe in dieser Zeit viele Kunden kennengelernt: Wortkarge und Anspruchsvolle, Abwesende und Begeisterte. In Erinnerung sind mir die Damen von "der Quelle" geblieben, weil ich niemals davor und niemals später derart tumbe und doofe Schnepfen gekannt habe, die so gar nichts zum Vorwärtskommen der Produktion beitrugen. Sie waren einfach überflüssig und mußten abgelenkt werden, was gottseidank ihrer Einfältigkeit nicht allzu schwer war.
wortverdreher (36)
(10.11.09)
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 AlmaMarieSchneider (13.11.09)
Würden Assistenten besser mit Kunden (die ja das Geld bringen) umgehen können, wären sie Chefs und nicht Assistenten.

 Dieter_Rotmund (13.11.09)
Wenn ich so zurückdenke, waren praktisch alle Kunden angenehmer&intelligenter als die Quelle-Schnepfen.

Aus meiner jüngeren beruflichen Erfahrung weiß ich eher zu berichten, dass viele Chef frei von Einfühlungsvermögen sind und die Assistenten netter und manchmal auch kompetenter.

Loben wollte ich den Kolumnentext noch, hatte ich das letzte Mal vergessen!

 Bergmann (01.12.09)
Schön, dass du deine Erinnerungen notiertest!
Traurig. Es ist nicht so sehr ein natürlicher Wandel der Zeiten, sondern in diesem Fall zeigt sich immer deutlicher das hässliche Gesicht des Kaptitalismus.
Das Schlimmste: Die Wählen wählen genau die, die sie auffressen. Und die Nichtwähler, die Resignierten, verstärken das sogar noch.
Wir leben in einer beachtlichen Krise der Demokratie und des gesellschaftlichen Wandels.
LG, Uli
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