Lilly

Erzählung

von  Unbegabt

Du fluchst viel in letzter Zeit, es macht mir Angst. Du spuckst aus und schlägst mit der Faust auf den Tisch. „Familie!“  Doch es hört sich nicht richtig an. 'Familie' sollte man sanft aussprechen, vertrauensvoll, doch du spuckst mir das Wort vor die Füße, als wäre es Dreck in deinem Mund. Ich betrachte deine Spucke, sie sieht gar nicht dreckig aus. Deine sonst so großen und tiefen Augen haben sich verändert, sie sind klein und flach geworden. Früher konnte man ganz genau sehen, was du denkst, du warst ein offenes Buch mit bunten Seiten und so vielen Bildern wie ich es noch nirgendwo anders entdeckt habe. Jetzt bist du grau und die Seiten leer. Hart packst du mich an den Schultern. „Verpiss dich!“ brüllst du. So hast du noch nie mit mir geredet. Ich versuche zu verstehen, was mit dir passiert ist. Hast du Schmerzen? Grob schiebst du mich zur Tür hinaus. Früher konnten wir immer reden, wir haben im Garten gesessen und durch Grashalme gepfiffen und uns Wolkenbilder angeschaut.
Ich höre dich nachts oft weinen, aber ich traue mich nicht mehr zu dir ins Bett. Du würdest mich fortstoßen. Auch dein Weinen hat sich verändert, es ist zornig geworden. Deine Tränen scheinen scharf zu sein, ich sehe die vielen Schnitte auf deinen Armen. Ich gehe jetzt oft alleine in den Garten, versuche durch Grashalme zu pfeifen und Gestalten in den Wolken zu entdecken.
Es will mir nicht mehr gelingen. Das Gras verdorrt unter meinem Körper und der Himmel ist grau. Manchmal regnet es auch, es ist als ob der Himmel trauern würde.
Um dich.
Um das Kind in dir.
Ich weiß jetzt, dass es gestorben ist. Du bist erwachsen, deswegen können wir auch keine Freunde mehr sein. Ich bin jetzt nur noch deine kleine Schwester.
Du hast selten Besuch, aber wenn, dann machst du dich wichtig, befiehlst mir in meinem Zimmer zu bleiben und mit den Puppen zu spielen, die ich schon jahrelang nicht mehr angerührt habe. Ihr bleibt selten im Haus, meistens geht ihr ins Kino oder in die Stadt. Du sprichst ganz komisch und lachst viel zu laut, wenn du Mama sagst wann du wieder kommst. Mama macht sich auch Sorgen um dich. Ich erzähle ihr nichts von den Schnitten auf deinen Armen, sie soll nicht wissen, dass du fast jede Nacht weinst.
Du bist nicht Schuld an Papas Tod, du saßt doch nur mit ihm im Auto. Er hätte sich nicht zu dir umdrehen sollen. Ich bin so sauer auf ihn, wegen ihm ist etwas in dir gestorben und wegen ihm ist er selbst auch tot.
Heute Nacht kommst du erst spät wieder, du bist betrunken. Ich fürchte um die Wände in unserem Flur, denn du taumelst bei jedem Schritt gegen sie. Ich habe nie daran geglaubt, dass dir wirklich etwas passieren könnte. Du warst doch gerade erwachsen geworden.
Am nächsten Morgen höre ich Mama schreien. Du lagst in deinem Bett die Augen geschlossen, aber du hast nicht so ausgesehen als würdest du schlafen.
Du hattest zu viel geweint, deine Bettwäsche war nicht länger weiß.

Die Tapete auf dem Flur hat Flecken von dir. Ich sehe sie oft an, lege meine Hand in deinen Abdruck, es stört mich nicht, dass er rot ist. Ich sehe den Abstand kleiner werden, auch das Blut verblasst mit den Jahren. Ich will den Flur nicht neu streichen lassen. In deinem Zimmer bin ich seit dem einen Morgen nicht mehr gewesen. Die Farbe blättert spröde von der Tür. Mama hofft, dass du eines Tages zurück kommst. Ich muss mich um sie kümmern, ich glaube sie wird verrückt. Ich werde in dein Zimmer gehen. Es wird nach abgestandener Luft riechen und Staub wird auf allen Oberflächen liegen. Aber sonst wird es so aussehen, als ob du nur kurz weg wärst.
Vielleicht kommst du ja wirklich wieder, Lilly.

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Kommentare zu diesem Text

neinneigung (33)
(23.09.08)
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 Unbegabt meinte dazu am 23.09.08:
genauso soll es sein.

danke

 AZU20 (23.09.08)
Was für ein trauriger Text! Gut geschrieben. LG
mmazzurro (56)
(23.09.08)
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chichi† (80)
(23.09.08)
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 Secretgardener (23.09.08)
Die kleinen Verbesserungsvorschläge kennst Du ja.
Am meisten gefällt mir das mit der Familie, wie Du zeigt, daß sie zuhause weint, das woanders aber versteckt, und besonders das mit dem Flur. Wie Du Deine Hand in die Abdrücke legst, das konnte ich mitspüren.
Schön tief und intensiv geschrieben, gefällt mir.
Liebe Grüße, a..

 mondenkind (24.09.08)
sehr beruehrend geschrieben. ein guter text, in all seiner traurigkeit. lg, nici
Fabiwesen (18)
(25.09.08)
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 RainerMScholz (27.04.10)
Sehr differenziert. Nachdenkenswert und schön.
Grüße,
R.

 SunnySchwanbeck (27.06.11)
da ist so viel vertrautes drin dass ich schlucken muss.
ichliebedichso. und noch ein bisschen mehr weil du sowas schreiben kannst und ich es verstehe und weinen muss.
Katja (39)
(11.05.12)
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