19. Weihnachtsmarktwahrsagerei [19]

Schundroman zum Thema Zukunft

von  DIE7

Madame Edna war die meiste Zeit des Jahres eine ehrbare Jesterfielder Bürgerin. Ihr bürgerlicher Name war Marie Banzhaf und ihr bürgerlicher Beruf war Suppenküchenköchin. Einmal im Jahr jedoch, wenn der Jesterfielder Weihnachtsmarkt stattfand und sie ihren gesamten Jahresurlaub nahm, wurde die vierundsechzigjährige zu Madame Edna, der Wahrsagerin.
Dann fuhr sie ihren alten Wohnwagen zwischen zwei Glühweinstände, verhängte die Wände mit bunten Tüchern und packte ihre Glaskugel auf den Campingtisch, legte die Tarotkarten daneben und klebte an die offene Wohnwagentür ein handgemaltes Schild, auf dem „Madame Edna legt ihnen die Karten, schaut für sie in die Kristallkugel, oder liest ihnen aus der Hand“ stand. Sie behängte Hals und Arme mit Ketten, Reifen und Ringen, trug Röcke mit eingenähten Münzen, die bei jeder Bewegung klimperten, rauchte vorm Wagen Excaliburs und trank Glühwein, während sie auf Kundschaft wartete. Es war kein Job für sie, es war eine Berufung.

Sie sah Lasche von weitem. Er trug eine abenteuerliche Mischung aus schwarzen und pinkfarbenen Kleidungsstücken, hohe Stiefel, bauchfrei, ein kurzes Lederimitatjäckchen mit Pelzbesatz am Kragen. Sie schüttelte verständnislos den Kopf, als ihr Blick auf den pinkfarbenen Haarreif fiel. Lasche war ein guter Junge, das hatte Madame Edna schon immer gesagt (und Marie Banzhaf auch), aber er war ein wenig… seltsam.
Lasche sah sie, hielt inne, winkte ihr zu und hüpfte los. Madame Edna lächelte. Er freute sich immer so nett, dieser Lasche.

„Lasche, mein Lieber“, lächelte sie, als Lasche vor ihr stand. „Dich hab ich dieses Jahr bisher auf dem Weihnachtsmarkt ja noch gar nicht gesehen. Warst du krank?“
„Ich hatte Urlaub“, erwiderte Lasche „Und wurde zurückkommandiert. Du kannst dir sicher denken, warum.“
„Du meinst diese furchtbaren Morde, nicht?“, sagte sie düster. „Lass uns reingehen, Junge. Ich hole uns nur kurz noch etwas Heißes zu trinken. Glühwein oder Kinderpunsch?“
„Glühwein“, sagte Lasche und dann verschluckte ihn der Wohnwagen.

Es klimperte, als Madame Edna eine Tasse voller heißem Glühwein vor Lasche abstellte. Sie setzte sich ihm gegenüber und musterte ihn.
„Ist dir nicht kalt in diesen Kleidern?“, fragte sie schließlich.
„Ich mache mir warme Gedanken“, grinste der Pathologe.
„Und sonst geht’s dir gut, ja?“ Ihr fiel auf, dass die Kristallkugel an einigen Stellen beschlagen war. Sie zog sie zu sich heran und begann, sie mit ihrem linken Ärmel zu polieren.
„Eigentlich ist alles in Ordnung“, fing Lasche an. „Fufu hat dieses Jahr weniger an Winterspeck zugelegt als letztes, Berta ist noch ganz, und ...“
„Berta?“, unterbrach ihn die Wahrsagerin.
„Oh, du kennst Berta noch nicht? Dr. Skuletta war der Meinung, ich müsse ein bisschen mehr Achtsamkeit und Verantwortung lernen und schenkte mir Berta. Ich habe sie immer bei mir, außer wenn ich am Abend ausgehe. Dann brauche ich keine Achtsamkeit und auch keine Verantwortung, finde ich. Jedenfalls – Berta kommt mit auf die Arbeit, sie liegt dann in ihrem Körbchen herum und schaut mir beim Sezieren zu. Einmal hab ich sie vergessen, und wenn Bob sie mir nicht gebracht hätte, hätte ich Skuletta gegenüber zugeben müssen, dass ich nicht achtsam und verantwortungsvoll genug bin. Aber am 22ten ist die Berta-Frist herum. Dann hab ich drei Monate auf sie aufgepasst. Vermutlich behalte ich sie aber noch länger, irgendwie hab ich mich an den kleinen Racker gewöhnt“, plauderte Lasche fröhlich.
„Äh“, machte Madame Edna und sah irritiert von der Glaskugel auf, „Was genau IST Berta?“
„Oh“, kicherte Lasche, „Entschuldige. Berta ist ein Ei.“
„Ah“, machte Madame Edna. Und: „Soso.“
Sie hatte von derartigen Praktiken zur Schulung der Verantwortung gehört. Allerdings nicht in Lasches Altersklasse.
Lasche nippte glücklich an seinem Glühwein und hing seinen Gedanken nach. Wenn er sich außerhalb seiner Wohnung, seines Ferienhauses, des Gesprächszimmers seines Therapeuten oder seines Büros irgendwo wohl fühlte, dann hier, in Madame Ednas Wohnwagen auf dem Weihnachtsmarkt. Es roch nach Zimt und Spekulatius, nach Glühwein und Tannennadeln. Das Innere des Wohnwagens war bunt geschmückt, hier und da hingen selber gebastelte Strohsterne, Tannengirlanden und darum gewickelte Lichterketten verstärkten den mystisch-okkulten Effekt der strategisch günstig verteilten Teelichter und Stumpenkerzen.
Madame Edna war ebenfalls in sich versunken, sie polierte immer noch an der Glaskugel herum und starrte unzentriert darauf.

Dann änderte sich etwas im Wagen. Die entspannte Vertrautheit der beiden wich von einem Moment auf den anderen einer nervösen Gereiztheit, die man fast schneiden konnte.
Madame Edna starrte mit aufgerissenen Augen in die Kugel in ihren Händen, stellte sie hastig, aber behutsam zurück auf den Tisch und griff nach dem Stapel Tarotkarten, der bisher neben ihrer Tasse mit Glühwein gelegen hatte. Lasche richtete kerzengerade sich auf und beobachtete sie aufmerksam. Etwas war im Gange. Ednas Finger mischten die Karten so schnell, dass sie kaum zu sehen waren, die Karten flogen wie von selbst auf den Tisch.
„Oha!“, machte Madame Edna.
„Was?“, brach es aus Lasche heraus. Er war in vielen Dingen nicht besonders gut, das Deuten von düsteren Ausrufen gehörte ebenso wenig zu seiner Spezialität wie das stumme Aushalten von Spannung.
„Ich sehe Unheil“, orakelte Edna.
Lasche schnippte ihr vor die Augen.
„Ich bin’s, Lasche. Ich brauch keine Show!“, nörgelte er ungeduldig.
„Oh, ja, richtig, entschuldige. Dumme Angewohnheit.
Das sieht nicht gut aus, Junge. Da kommt eine Menge Arbeit auf dich zu. Unangenehme Arbeit. Viele Tote. Viel Arbeit.“
Lasche stöhnte. Zu Weihnachten waren die Leute immer so labil, dachte er. Das falsche Geschenk für die Freundin, und schon flippte sie aus und rammte einem die Nagelfeile ins Auge. Oder Familienstreitigkeiten. So was hatte er vermehrt immer zu Weihnachten. Dann fiel ihm sein Urlaub ein.
Wenn viel Arbeit auf mich zukommt, dann bedeutet das, ich kann meinen Urlaub vergessen, überlegte er. Seine Laune erreichte einen noch tieferen Punkt als zuvor. Er verdrehte die Augen und sah zu Madame Edna. Sie starrte immer noch auf die Karten.
„Mein Junge, ich mal den Teufel ja nur ungern an die Wand“, sagte sie leise, „aber da kommt was auf dich zu. Rote Mützen spielen eine Rolle. Und es werden Leute an Schlangengift sterben.“
„Schlangengift?“, fragte Lasche erstaunt, während draußen auf dem Weihnachtsmarkt lautes Geschrei anhob.

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Kommentare zu diesem Text

LudwigJanssen (54)
(10.12.08)
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Lebenslust (63)
(10.12.08)
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KeinB (29) meinte dazu am 11.12.08:
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