26. Touristenpech - Das Taipanmassaker[26]

Schundroman zum Thema Weihnachten

von  DIE7

Der Jesterfielder Weihnachtsmarkt war weit über die Grenzen von Jesterfield hinaus bekannt und wurde ständig hoch frequentiert von Besuchern aus einem Umkreis von 100 Kilometern. Jeden Tag kamen unzählige Reisebusse am Bahnhof an, voll gestopft mit Frauen, Männern, Senioren, Kindern, Japanern oder Skandinaviern. In Gruppen pilgerten sie über den Rathausplatz und durch den Stadtpark bis kurz vor das Hafengebiet, wo sie kehrt machten, und wieder zurück zum Bahnhof wieselten. Zwischendurch blieben sie stehen, um Glühwein zu trinken, Zuckerwatte zu kaufen oder um auf die Kinder zu warten, die im Gedränge einen der Weihnachtsmänner erspäht hatten und sich um ihn scharten. Sie bestaunten die Vorführungen der Glasbläser, lobten das exotische Ambiente der Bars und musterten mit aufgesetzten Kennermienen die Ausstellungsstücke der Kunsthandwerker. Sie rochen Zimt und Lebkuchen, Tannennadeln und Schnee, Bratwürste und heiße Maronen.
Sie kamen vom frühen Nachmittag bis in den späten Abend, die neuen Öffnungszeiten hatten sich wie ein Lauffeuer verbreitet und waren begeistert angenommen worden.

Derzeit stand eine dieser Gruppen dicht gedrängt um ihren Reiseleiter herum, der regungslos auf dem Boden lag.
„Mensch, Hannes, jetzt tu doch was!“, nörgelte ein älteres Mitglied der Gruppe und stieß ihrem Nachbar unsanft den spitzen Ellenbogen in die Seite.
„Was soll ich schon tun, Gerda?“, brummte Hannes. „Sieht tot aus, der Gute.“ Er stieß das Bein des Mannes mit seiner Schuhspitze an.
Die anderen Gruppenmitglieder standen peinlich berührt daneben.
„Jetzt lossns halt den armn Mann in Ruh!“, keifte eine dürre Weißhaarige mit Hakennase, die rechts von Gerda stand. „ Duns lieber wos!“
„Genau, Hannes, jetzt tu doch was!“, forderte Gerda energisch.
Hannes blickte in die Runde. Um ihn herum standen Senioren, die ihre besten Jahre schon weit hinter sich hatten. Eine Frau putzte sich gelangweilt die Brille, eine andere erklärte einer dritten lautstark, was passiert war. Niemand erwiderte seinen Blick, niemand rührte sich.
Hannes seufzte und beugte sich über den Mann.
Ein heißer Schmerz fuhr ihm durch den Rachen, er richtete sich abrupt wieder auf und griff sich an den Hals.
„Hannes?“, fragte Gerda alarmiert. Die umstehenden Touristen warfen sich gegenseitig besorgte Blicke zu.
Hannes röchelte. Er ging wieder in die Knie, fiel ungelenk auf die Seite und krümmte sich.
„Hannes!“, schrie Gerda, dann, leicht hysterisch: „Hilfe! Sanitäter!“
Neben ihr kippte die Hakennase um und fiel hart auf den Asphalt. Starre, gen Himmel gerichtete Augen zeugten vom kürzlichen, unerwarteten Ableben der Besitzerin.
Gerda kreischte.
Vom anderen Ende des Rathausplatzes wehten Schreie herüber, unverständlich, bis auf ein Wort: „Mord!“
Wie auf Kommando stoben die Touristen auseinander.

Lasche hatte ein Problem.
Eigentlich wollte er herausfinden, was passiert war. Eigentlich wollte er auch in die Richtung laufen, aus der die Menschen schreiend gerannt kamen, sich gegenseitig aus dem Weg schubsend, Kinder hinter sich herziehend, kreischend die Frauen mit zerlaufenem Make-Up und mit panisch-entsetzen Gesichtern die Männer. Da diese Leute aus der Richtung des Rathauses strömten, ja nahezu fluteten und wogten, musste er in eben diese Richtung. Nur strömten, bzw. fluteten und wogten so viele Leute aus dieser Richtung, dass es ihm unmöglich war, gegen den Strom anzukommen. Panik stand in ihren Gesichtern und selbst, wenn Lasche 2 Meter 10 gemessen und 150 Kilogramm gewogen hätte, er hätte den Kürzeren gezogen. Panik verleiht Flügel. In einem günstigen Augenblick sprang er aus dem Menschenfluss hinaus zur Seite und kletterte mühsam auf einen der Parkbäume, auf einmal störten ihn der Minirock und die Stöckelschuhe.
Die breite Gasse zwischen den Weihnachtsbuden war zum Bersten angefüllt mit flüchtenden Menschen, die sich mittlerweile auch zwischen den Buden durchschoben und über die Rasenflächen des Parks weiter rannten. Wohin schien egal, Hauptsache weg. Das Geschrei wurde immer lauter, doch so sehr sich Hirnstrøm auch bemühte, außer ‚Hilfe’ und ‚Mord’ konnte er nichts verstehen. Er musste unwillkürlich an Madame Edna denken.
„Schlangengift“, flüsterte er.

Direkt vor der Glühweinbude neben Lasches Baum ging ein Mann zu Boden. Die Menge stob auseinander, man drückte, schubste, rempelte und stürmte weiter in Richtung Hafen. Um den Gefallenen blieb Raum. Es war, als hätte jemand eine unsichtbare, kreisrunde Glaswand aufgestellt, wie auf ein geheimes Zeichen hin drückten die Nachhetzenden links vorbei. Lasche rutschte vorsichtig von seinem Baum herunter und näherte sich dem Mann ohne Probleme mit dem Gegenverkehr zu bekommen.
Hirnstrøm kniete sich neben den Mann und prüfte seine Vitalfunktionen. Der Mann war tot, da biss die Maus keinen Faden ab. Die Ursache war auf den ersten Blick nicht zu erkennen, grobe äußerliche Einwirkungen konnte Lasche ausschließen, weil er den Mann Sekunden zuvor noch laufen hatte sehen.
„Oh Mann, ich hasse dieses Wochenende!“ Lasche zückte sein Handy und suchte im Adressbuch nach Lusas Eintrag.



Der Weihnachtsmarkt war wie leergefegt, die Touristen waren nach Hause geschickt, worden, die Buden geschlossen, und überall wimmelte es vor Polizisten, die sich die Zeit damit vertrieben, die wenigen Schaulustigen von den Weihnachtsmarktständen fernzuhalten. Der Bürgermeister hatte einem wie aus dem Nichts erschienenen Fernsehteam eine hollywoodwürdige Erklärung mit anschließendem grimmigen Blick und einem „Wir kriegen dich, Bürschchen!“ gegeben und war dann pfeifend zurück zu seiner Dinnerparty gestapft.
Man hatte dreizehn Tote gefunden, einer davon war offensichtlich im Gedränge unglücklich gestürzt, die anderen zwölf wiesen keinerlei Gewalteinwirkungen auf. Neun waren auf dem Rathausplatz gefunden worden, laut Augenzeugen waren sie kurz nacheinander umgekippt, die Umherstehenden waren panisch davongelaufen und hatten bald eine Massenpanik ausgelöst, deren zwei Ströme zum Hafen und zum Bahnhof hin drängten. Zwei weitere Tote fand man im Park und einen auf halber Strecke zwischen Rathaus und Bahnhof.

Hirnstrøm war von seinem Glühweinstandmann weitergewandert zum Rathausplatz, hatte auf Lusa gewartet und zeitgleich die anderen drei Verblichenen inspiziert. Das Schlangengift ging ihm nicht aus dem Kopf, er zermarterte sich das Hirn, wie Ednas Orakelei und die Toten in eine Rechnung passen konnten.
„Genaueres wird man wohl nur nach einer Obduktion sagen können, nicht wahr, mein lieber Fjord?“, sagte Lusa, als er ihr von Madame Ednas Kartenlegerei erzählte.
„Und was das bedeutet, weißt du ja“, ließ Lusa den immer noch grübelnden Lasche stehen.
„Scheiße“, sagte er, als sie außer Hörweite war. Er wusste, was das bedeutete. Überstunden. Überstunden, Überstunden und noch mehr Überstunden. Seinen Urlaub konnte er sich wohl vollends abschminken.

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Kommentare zu diesem Text

kontext (32)
(17.12.08)
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