96 Oktan

Erzählung zum Thema Suche

von  Mutter

Ich steige aus dem Zug und drücke mich enger in meine Jacke. Der Wind zieht durch die Bahnhofshalle und spüre das Fieber hinter glasigen Augen an meine Schläfen pocht. Hätte nicht fahren, mich nicht ausgerechnet jetzt auf den Weg nach Hamburg machen sollen.
Ich bin ein ungeduldiger Typ.
Welsh hatte den Tipp für mich. Meinte, ein Kerl dort oben an der Alster wisse etwas. Könne mir mehr sagen über das Goth-Girl und die beiden toten Kurden, die ich in ihrer Badewanne zurückgelassen hatte. Welsh ist eine Ratte – kennt sich aus im Dreck. In der Kanalisation. Findet Dinge im Schlamm, in der Gülle, die andere übersehen. Deswegen habe ich mich in den Zug gesetzt und bin hergekommen. Selbst in meinem Zustand.
Ich würde gerne behaupten, dass es mir um sie geht. Darum, ihren Tod zu rächen ihn für sie aufklären zu wollen. Das spielt auch eine Rolle – aber eigentlich geht es um meinen beschissenen Stolz. Jemand hatte meine Arme und Beine wie bei einer Marionette bewegt und ich hatte mit diesen Gliedmaßen Knochen geknackt.
Und ich mochte es nicht, mich benutzt zu fühlen. Bin keine kleine Straßenhure, die für einen Zwanziger den Arsch hinhält.

‚Suchst du ein neues Zuhause, großer Mann?’ fragt mich eine jugendliche Stimme und ich drehe mich um.
Hinter mir stehen zwei Jungs, beide vermutlich noch keine Achtzehn. Der eine, blond und mit einem offenen Lächeln, hat mich angesprochen. Sein Kumpel, der einen halben Schritt zurück steht und gezwungen lächelt, sieht aus als hat er Angst. Vielleicht ist er noch neu im Geschäft.
Ich schüttele den Kopf und will an den Strichern vorbei gehen, aber der Blonde hebt die Hand. Fasst mich nicht an, dafür ist er zu vorsichtig. Seine Geste lässt mich innehalten, zögern.
‚Du bist nicht von hier, oder? Wir zeigen dir Hamburg. Alles, was du sehen willst.’
Und eine Menge Dinge, die ich sicher niemals sehen will, füge ich in Gedanken hinzu, entgegne allerdings nichts.
Der Schweiß steht mir auf der Stirn. Ich versuche, mich in der großen Halle zu orientieren, zu erkennen, in welcher Richtung mein Ausgang liegt. Hoffnungslos – der Hamburger Haupt-Bahnhof lässt sich so leicht nicht von mir dechiffrieren, nicht in meinem angeschlagenen Zustand. Mit dem Ärmel wische ich mir den Schweiß vom Gesicht und drehe mich wieder zu den Strichern um.
‚Hör zu, ich bin mir sicher, bei jeder anderen Gelegenheit wäre es mir eine Ehre, dich über den Badewannenrand zu legen und für ein Paar Grüne mehrere Stunden durchzuvögeln – aber jetzt gerade passt es schlecht. Okay?’ Das letzte Wort spreche ich schärfer aus als beabsichtigt. Meine Geduld ist am Ende. Ich will endlich weg aus dem Bahnhof und in meine Pension.
Die Schärfe scheint ihn nicht zu beeindrucken. Immer noch lächelnd macht er einen Schritt zurück und meint: ‚Wenn du es dir anders überlegst – komm einfach wieder. Wir sind gute Gesellschaft.’
Müde nicke ich und gehe an den beiden vorbei. Das sind sicher nicht die letzten beiden Stricher, die mir hier oben begegnen werden.

Die Wände der Pension, die mich den Flur hinab zu meinem Zimmer begleiten, sind von braunem Schlier verdreckt. Der in Falten liegende Teppich ist kaum in einem besseren Zustand.
Immerhin bereitet mich der Flur so auf den Anblick meines Zimmers vor. Die Vorhänge sind zugezogen, wahrscheinlich um das Elend unter einem Schleier der Düsternis zu verbergen.
Es gelingt nicht ganz. Büschelweise fehlen dem beigen Teppich die Haare, und der Rest ist von Flecken unterschiedlicher Größe und Herkunft bedeckt. Die Bettwäsche ist zerrissen, aber annähernd sauber. Nachdem ich die Matratze darunter kontrolliert habe, gehe ich mir aus dem Wäscheschrank auf dem Gang weitere Bezüge holen. Mit denen reduziere ich das gesundheitliche Risiko der komplett ranzigen Matratze auf ein Minimum.
Ich schätze, die meisten Besucher, die in der Pension absteigen, verbringen die Nacht ohnehin nicht hier, sondern in Kneipen oder Puffs. Oder sie sind dermaßen besoffen, da stört sie das nicht.

Mit einem Ruck öffne ich die Vorhänge und starre auf die trüben Straßen Hamburgs. Frage mich erneut, was ich hier mache. Was ich mir von dem Trip erhoffe.
‚Import-Export’, hatte Welsh gesagt. Ein Typ, der früher seine Kohle als Inkasso-Mann verdient hatte, auf dem Kiez und in Ostberlin. Der wüsste was über Goth-Girl, die Kurden und vor allem über Mister Dougherty. Ich bin hier, um ihn näher über Drecksack Dougherty zu befragen.
Erschöpft nehme ich mir ein verschmutztes Glas, lasse Wasser aus dem Hahn laufen, bis keine braune Brühe mehr kommt und schlucke noch eine Handvoll Tabletten. Seit ein paar Tagen nehme ich Paracetamol wie Smarties, eine Handvoll alle paar Stunden. Die halten das Fieber unten und machen die Schmerzen einigermaßen erträglich. Durchsie kann ich mich der Illusion hingeben, ich hätte ‚erhöhte Temperatur’. Und kein verficktes Fieber - jenseits der Zweiundvierzig.
Kurz lehne ich mich gegen die verrottete Tapete, bilde mir ein, die Scheiß-Tabletten täten schon ihre Wirkung und mache mich dann auf den Weg. Import-Export – ich muss runter zum Hafen.

Ich ignoriere den einsetzenden Nieselregen, drücke mich dichter in einen Hauseingang. Schiebe mir ein weiteres Bonbon in den Mund, um die Halsschmerzen erträglicher zu machen. Gegenüber steigt meine Zielperson gerade in einen schwarzen Mercedes. Fährt selbst, hat den Gorilla auf dem Beifahrersitz. Das nötigt mir Respekt ab. Ich hasse Kerle, die sich hinten im Fond ihrer Wagen durch die Gegend kutschieren lassen. Ein Kerl, der freiwillig nicht selber fährt, der hat was nicht verstanden. Vor allem, wenn er sich die geilen Karren, die er fährt, selber aussuchen kann.
Der fette Schlitten rollt vom Hof des Container-Lagers und ich bleibe noch einen Moment da. Ich weiß ja, wo die Klebe hin will - Walther Klebhardt hat sein Büro in der City.
Hinter dem Lager liegen nur die Docks und das faule Wasser der Elbe. Sicher nicht ganz unpraktisch, so ein Gewässer hinterm Haus, wenn man genügend Dreck am Stecken hat. Ich streiche mir durch die feuchten Haare und verdrücke mich.

Der Portier unten lässt mich am Aufzug warten, nachdem er kurz telefoniert hat. Wenig später taucht, zusammen mit dem Pling des Aufzugs, ein großer Kerl im teuren Anzug auf, gebaut wie ein Bodybuilder. Winkt mich in die viel zu eng wirkende Kabine.
Ich stehe vorne, fühle ihn hinter mir großräumig atmen. Als würde er bei jedem ‚Ein’ den Fahrstuhl komplett füllen, mich zu zerquetschen drohen, und nur bei jedem ‚Aus’ mir wieder etwas Platz gönnen.
Überlege, wann ich die letzten Paracetamol genommen habe. Atme gleichmäßig, um den aufkommenden Schwindel zu unterdrücken.
Oben angekommen, trete ich aus dem Aufzug und lasse den Berg im Anzug vorbei. Er geht den Flur hinunter, die Arme rhythmisch schwingend, als sei er eine kleine mechanische Figur. Wahrscheinlich, weil die inzwischen zu kurz für seine Masse sind.
Hab für extreme Pumper nie etwas übrig gehabt. Muskeln und Kraft sind gut, aber diese Fleischberge auf Armen, Beinen und der Brust machen dich langsam, schwerfällig. Gegen so einen gepumpten Hengst habe ich auf der Straße noch nie verloren. Float like a butterfly.

Endlich kommen wir an einer Bürotür an. Der Kerl klopft, wartet die Antwort aber nicht ab, bevor er öffnet. Bittet mich herein. Ich quetsche mich an ihm vorbei in das großzügig bemessene Büro. Drinnen sitzt an einem massiven Schreibtisch aus Edelholz die Klebe, während links und rechts zwei weitere Kerle in teuren Anzügen stehen. Ich fühle mich nicht nur krank, sondern auch schwer underdressed.
Der eine von den beiden raucht und grinst mich dabei frech an, während der andere einen Halbliter-Pappbecher Kaffee in der Hand hält. Beiden sieht man die Straße, die Härte an. Sie sind aber weitaus sinnvoller proportioniert als der Bär hinter mir, der gerade leise die Bürotür schließt.
Die Klebe mustert mich mit zusammen gezogenen Augenbrauen. Mit einem Augenzwinkern hämmere ich den rechten Ellenbogen direkt in die Fresse vom Pumper.
Muss nicht mal nach hinten sehen, kann am Gefühl und am dumpfen Rumms merken, dass ich ihn satt seitlich am Gesicht getroffen habe.
Sofort werfe ich mich nach vorne auf den Raucher. Im selben Moment registriere ich eine winzige Anomalie, aber mein Hirn kann nicht so schnell denken wie ich mich bewege.
Der Bechermann macht einen Schritt nach vorne, schleudert mir sein Gefäß entgegen. Ich will dem Schwall entgehen, mich aus dem Weg drehen, bin aber nicht schnell genug.
Mich trifft der halbe Liter. Ich rolle lande auf dem Boden, rolle mich ab, komme wieder auf die Füße. Und warte auf den Schmerz. Auf kreischendes Protestieren meiner Nerven-Enden, die sich empören über achtzig Grad heißen Kaffee auf meiner Haut.
Aber das tun sie nicht. Ich halte inne, verwirrt, und dringe nicht weiter auf den Mann rechts vom Tisch ein.
Da war kaltes Zeug in dem Becher, kein Kaffee. Statt Koffein steigt mir der beißende Geruch von 96 Oktan in die Nase. Die Penner haben mich mit Benzin überschüttet.
Der mit der Zigarette grinst noch breiter, macht vorsichtshalber einen Schritt zurück.
Jetzt endlich holt mein Gehirn auf und brüllt mir die Warnung zu: Die Kerle waren kein bisschen überrascht, als ich den Pumper ausgeknocked habe. Hat die nicht ein Stück gekratzt.
Die Klebe beobachtet mich immer noch aufmerksam mit seinen ausgefuchsten kleinen Schweinsaugen. Der will wissen, wie ich jetzt reagiere.


Anmerkung von Mutter:

Teil I von VI

*edit: Auch hier gilt unser Dank wieder dem unermüdlichen Einsatz unserer Helferin AK ... :)

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Kommentare zu diesem Text

Kitten (36)
(10.02.09)
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 Mutter meinte dazu am 10.02.09:
Mmmmh, mmmh, ich sehe, was Du meinst ...
Da fehlt wohl eine einigermaßen geschickte Überleitung ... :D

*indenbaumarktgehundüberleitungsuchengeh*

Danke ... :)
Kitten (36) antwortete darauf am 10.02.09:
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kontext (32)
(10.02.09)
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 Mutter schrieb daraufhin am 11.02.09:
Wie, südlich? Hab' ich was verpasst? :)

Sach' ma', diss mit den Bildern machste doch jetzt mit Absicht, oder? Iss Dir langweilig? :D
kontext (32) äußerte darauf am 12.02.09:
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 Mutter ergänzte dazu am 12.02.09:
Kommste von da ganz oben wech, von da wo mit die Beugelbuddel?

Fischkopp?

:D
Steinwolke (65)
(18.02.09)
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 Mutter meinte dazu am 20.02.09:
Bei der habe ich ein paar Mal Sachen verwerfen müssen, weil's irgendwie alles nicht passte.

Vielen Dank ... :)
Leyla (29)
(16.04.09)
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 Mutter meinte dazu am 17.04.09:
*zerknirschtguck*

Yip-yip, das 'e' hat sich vom Acker gemacht. Hab's wieder eingefangen. :)

Ich schau mal, ob ich was für die Paracetamol finde ...
Leyla (29) meinte dazu am 17.04.09:
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 Mutter meinte dazu am 17.04.09:
'Faustan' O.o
Das muss der Corker alleine schon wegen des Namens nehmen ...

Keine Zäpfchen, hoffe ich? :D
Leyla (29) meinte dazu am 17.04.09:
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 Mutter meinte dazu am 17.04.09:
Ach, das Beschaffen kriegt so eine Schatten-Existenz wohl hin ... :)

Dann nehme ich eine Industrie-Packung Vicodin ... :D
Ibuprofen iss mir noch eingefallen, aber das Zeuch iss ein echter Hammer. Und keine Ahnung, ob man das bei so'ner Krankheit nehmen würde ...

Danke für die Recherche. :)
Leyla (29) meinte dazu am 17.04.09:
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 Mutter meinte dazu am 17.04.09:
House?

Dr. House?

Hab' ich noch nie gesehen, die Serie. Dürfen Kerle die überhaupt sehen? :D
Leyla (29) meinte dazu am 17.04.09:
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AnnaKarenina (31)
(01.06.09)
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 Mutter meinte dazu am 01.06.09:
Nö, leider keine Geschmacksfrage - Du hast Recht. Das gehört sich nicht. :/
Kommt raus.

Das mit dem Pappbecher raffe ich aber, fürchte ich, nicht ganz. Liegt's an der Stellung? Kaffee-Pappe ... mmmh ... *grübel*
Komm, hilf mir auf die Sprünge ... :)

Zu den Medikamenten - och , Ihr macht mich fertig. Okay, dann muss ich wohl noch mal weitersuchen, ob's denn nun Vicodin, Ibuprofen (was ich immer für meinen Rücken bekommen habe - für reine Schmerzen iss das Zeug schon ein ziemlicher Hammer) oder doch wie ursprünglich Paracetamol sein soll ... :/

Danke schön (kling' schon wie eine gesprungene Schallplatte) ... :)
AnnaKarenina (31) meinte dazu am 01.06.09:
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 Mutter meinte dazu am 02.06.09:
Passt schon ... :)

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