Wetterspitze

Erzählung zum Thema Krankheit/ Heilung

von  Mutter

Ganz langsam verengt sich der Strudel. Im Auge des Orkans öffne ich die Lider. Alles ist still, alles außerhalb meines Kopfes. Drinnen herrscht statisches Rauschen, das ich nach einem Moment der Konzentration wegblenden kann. Als hätte man den Fernseher endlich richtig eingestellt.
Ich liege in einem Bett. Bettlaken und Bezug sind dermaßen frisch, dass sie fast wehtun auf meiner nackten Haut.
Es ist nicht lange her, da habe ich in genau so einem Bett gelegen. Hatte keine Ahnung, wie ich dort hingekommen bin und kurz darauf waren drei Menschen tot.
Puls beschleunigt elegant von Null auf hundert in 3,9 Sekunden, nimmt die Kurve auf der Ideallinie. Schweiß bricht aus. Der Raum, der eben noch so unglaublich still, wie in Bernstein eingeschlossen schien, dreht sich plötzlich mit voller Wucht. Wie ein Kettenkarussell auf Crack.
Goth-Girl.
Sie hatte mich auf der Straße gefunden und zu sich nach Hause gebracht. Wer hatte mich jetzt zusammen gekehrt? Auf dieser Bettdecke sind keine Hello-Kitty-Figuren – ich bin nicht bei ihr.
Mein Kopf ist bandagiert, das kaputte Auge mit einem Wattebausch geschlossen. Um meinen Oberkörper und die linke Schulter fasst mich ein enges Korsett aus Bandagen und Tape. Ich hebe langsam die Decke, betrachte die schneeweißen Verbände. Wer auch immer das war kennt sich mit damit aus.
Das Zimmer ist in einer merkwürdigen Mischung aus Indie-Schick und Kitsch eingerichtet. An der Wand neben dem Fenster, das in einen Hinterhof starrt, findet sich ein holzgeschnitzter Jesus ohne Arme. Auf einem kleinen Regal daneben schmachtet ihn sehnsüchtig seine Mutter an. Die Madonna besteht aus pinkem Plastik, und erst mit einem zweiten Blick erkenne ich, dass es sich um einen Dildo handelt.
Daneben hängt ein großes Plakat von einem old-school Monstertruck.
Die Tür ist dunkelgrün gestrichen, mit matrix-ähnlichen Zahlenkolonnen drauf gemalt, die ganze Scheiß-Tür runter. In hellgrüner Lackfarbe. Da hatte jemand echte Langeweile.
Ansonsten kann ich nicht einordnen, wessen Schlafzimmer das ist – ein morscher Korbsessel mit einem Haufen unordentlicher Klamotten, ein Schreibtisch mit einem alten Rechner und ein in rotem Lack gestrichener Metall-Spind lassen keine weiteren Schlüsse zu. Eine Studentenbude?

Erst als die Tür aufgeht und das grinsende Gesicht des blonden Strichers erscheint, raffe ich, wo ich bin. Ein weiterer Flashback droht, mich zu überwältigen. Der Schwindel ist wieder da. Auch woanders habe ich mich schon mal so in die Bettdecke gekrallt.
Benommen lasse ich mich wieder in das Kissen sinken, starre den Jungen mit weit aufgerissenen Augen an. Tachometer schlägt zitternd aus, streichelt sanft den roten Bereich. Spielt mit ihm.
Er scheint meine Panik nicht zu bemerken. Vielleicht hält er sie auch für gewöhnliche Homophobie. Der Stricher lächelt weiterhin und zieht die weißen luftigen Vorhänge sorgfältig zu.
Mein emotionaler Overdrive nimmt den Gang raus, lässt den Puls langsam ausrollen. Ich höre den Herzschlag langsamer werden, wie das Nachtickern eines erhitzten Motors.
‚Wie geht’s dir?’ will er wissen, als Schattenzeichnung vorm Fenster.
Anstatt zu antworten verziehe ich nur das Gesicht. Immerhin bin ich wieder einigermaßen beieinander. Er muss mich in der Stadt gefunden haben. ‚Wie bin ich hergekommen?’
‚Du bist gelaufen’, stellt er schlicht fest. ‚Wir haben dich ein wenig … sagen wir: gesteuert. Das war alles.’
‚Warum?’
Zum ersten Mal entlässt er das Grinsen aus seinem Gesicht, sieht mich an. Ganz ernst. ‚Weil du im Arsch warst. Du wärst da draußen krepiert, nehme ich an.’
Nachdenklich lasse ich meinen Blick sinken. Nicke.
Er hat Recht. Die Arschlöcher haben nur wenig von mir übrig gelassen, mich fast geschafft. Den Rest hätte die Nacht da draußen erledigt.
Ich mache eine behutsame Kopfbewegung in Richtung meiner bandagierten Brust und will wissen: ‚Wo hast du so was gelernt?’ Quasi als Dank füge ich hinzu: ‚Sieht professionell aus’.
Das Grinsen ist wieder da. ‚Sieht nicht nur so aus, das ist auch professionell.’ Dann, nach einer kleine Pause: ‚Ich habe meinen Zivi als Rettungs-Sanitäter gemacht. Da lernt man so was.’
‚Als Sani? Scheiße, Respekt.’ Das meine ich so wie ich es sage.
Vorsichtig versuche ich mich im Bett etwas aufzurichten, mich nicht völlig als Patient zu fühlen. Dann sitze ich auf der Bettkante und betrachte ihn genauer. Bin ihm dankbar, dass er nicht versucht hat, mir aufzuhelfen. Fühle mich ohnehin schon Opfer genug.
Hätte nie gedacht, dass der seinen Zivi bereits hinter sich hat. Als Türsteher würde ich mir von ihm den Ausweis zeigen lassen – niemals sieht der wie Anfang Zwanzig aus. Hat sich offenbar gut gehalten, in seinem Business. Ist kein bisschen verbraucht.

Offenbar ahnt er, was ich denke, lächelt und sagt: ‚Du solltest dich wieder hinlegen. Du hast eine schwere Gehirnerschütterung, und dein Fieber ist noch nicht runter.’
Ich nicke, fühle mich absolut beschissen. Er geht zur Tür.
‚Hey Stricher - wie lange war ich weg?’ will ich wissen.
‚Zweieinhalb Tage. Zwischendurch biste immer kurz mal aufgetaucht, aber klar warste dabei nicht.’
Wieder ein Nicken, schwächer diesmal, vor Erschöpfung. Der Scheiß-Schüttelfrost will mich zurück unter die Decke zwingen. Ich kämpfe dagegen, wehre mich mit letzter Kraft. Aber da ist die blonde Schwester wieder zur Stelle und drückt mich sanft zurück auf das Bett. Deckt mich zu, grinst mich an.
Ich will noch was Cleveres sagen, aber es ist bereits zu spät. Die Schwärze holt mich wieder ein, macht es dunkel. Ich gehe erneut den Gang runter.

Jedes Mal, wenn ich aufwache, sitzt der Stricher auf einem Stuhl am Fenster, beobachtet mich. Will wissen, wie es mir geht. Na wie schon  -  Scheiße. Wir unterhalten uns kurz, keine Ahnung worüber. Mich haut’s nach zwei Sätzen eh wieder weg. Hat er mir was gegeben? Morphin? Hat bestimmt keine Schwierigkeiten, da ranzukommen.

Endlich, nach ein paar Tagen, bin ich soweit, dass ich mich wackelig wieder auf die Beine stellen kann. Er ist raus, lässt mich allein. Vertraut darauf, dass ich nicht sofort zusammenklappe. Mit zusammen gebissenen Zähnen schaffe ich es in die Klamotten, die er mir hingelegt hat. Wanke in die Küche.
Auf dem Fensterbrett über dem gedeckten Tisch brennt eine Kerze. Sieht heimelig aus, die kleine Küche. Sogar eine Tischdecke, dezent gestreift, hat er. Immer, oder nur für mich?
Er ist gerade dabei, Tee aufzusetzen. Lächelt mich an, klar.
‚Setz dich’, sagt er, und ich nicke nur.
Schiebe mich langsam zum Tisch, mühevoll - das eine Knie kann ich noch nicht beugen. Ich nehme an, so werde ich mich in dreißig, vierzig Jahren wieder fühlen. Nur, dann geht das nie wieder weg.
‚Wie idyllisch’, quetsche ich raus und lasse mich vorsichtig auf den Stuhl runter. Er geht nicht darauf ein, schluckt den Haken nicht. Wirft mir nur ein weiteres Grinsen rüber, während er sich zu mir setzt.
Er reicht mir die Schüssel mit frischen Croissants rüber und ich schaffe es, den Arm zu heben ohne die Zähne vor Schmerzen zusammen zu beißen zu müssen. Wenn ich mich ganz langsam bewege.
‚Wieso hast du nicht einen Krankenwagen geholt, Stricher? Wieso hierher? Ich wäre auch woanders nicht krepiert. Du hättest mich nicht mitnehmen müssen. Hn?’
Eine leichte Röte huscht über sein Gesicht. Nimmt sich die Marmelade, um sie fingerdick auf das Croissant zu schmieren.
Er muss mir nicht antworten. Wir wissen beide, dass die Frage rein rhetorischer Natur gewesen ist.
Sieht wieder hoch, hat sich wieder gefangen. ‚Musst du mich Stricher nennen? Willst du nicht wissen, wie ich wirklich heiße?’
Fleht fast.
Ich schnaube und schiebe mir das halbe Croissant in den Mund. Der Kiefer tut zwar noch weh, aber ich ignoriere seinen Protest. Muss er alleine mit klarkommen, der Kiefer.
Dann schüttele ich den Kopf und antworte um den vollen Mund herum: ‚Nein, will ich nicht. Mir ist scheißegal, wie dich deine Mitschüler oder deine Eltern genannt haben - ob Schmidt oder Michael oder Arschgeige. Das spielt keine Rolle, verstehst du? Namen haben nur eine Bedeutung zwischen den Leuten, die sie benutzen. Namen haben keine Vergangenheit.’
Er versteht mich nicht, sieht mich immer noch bittend an. Ich bilde mir ein, gleich weint er.
‚Aber du hast Recht. Ich sollte dich nicht so nennen’, lenke ich dann ein.
Ich buttere mir die andere Hälfte. ‚Wie wär’s mit Streuner?’
Er verzieht das Gesicht. ‚Streuner? Das ist ja wohl kaum besser als Stricher.’
‚Aragorn. Aragorn war Streuner. Hier, Mortensen - Viggo?’
Das zieht – sein Gesicht hellt sich auf. Keine Ahnung ob ich ins Schwarze getroffen habe oder er nur einsteigt, am Klischee mitbaut. Hauptsache Aragorn kommt an.
‚Mit dem würdest du doch auch eine Nacht auf der Wetterspitze verbringen, oder?’ frage ich mit einem halben Grinsen.
Seine Augen leuchten und er nickt. ‚Streuner ist gut.’


Anmerkung von Mutter:

Teil III von VI

*edit: Danke Dir ... :)
Iss noch mal viel passiert. Gutes.

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Kommentare zu diesem Text

Kitten (36)
(12.02.09)
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 Mutter meinte dazu am 12.02.09:
:D
Steinwolke (65) antwortete darauf am 18.02.09:
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 Mutter schrieb daraufhin am 20.02.09:
Vielleicht ist das der Grund, warum die Mädels in der Schule immer mit den Arschlöchern losgezogen sind? Weil es immer die Hoffnung gab, dass der Typ am Ende doch ganz anders ist? ;)
sonnengrau (26)
(23.02.09)
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 Mutter äußerte darauf am 24.02.09:
Danke ... :)

Jede Wette, der Corker findet 'undankbar' sei ein Kompliment ...
Leyla (29)
(17.04.09)
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Elvarryn (36) ergänzte dazu am 17.04.09:
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Kitten (36) meinte dazu am 17.04.09:
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 Mutter meinte dazu am 17.04.09:
Sehe ich auch so - zumal sich das Gespräch der beiden ja EXPLIZIT auf den Film und die geile Schnitte Viggo Mortensen bezieht ... :D

Wahrscheinlich tendiert man als Leser dazu, zu vergessen, dass manche Menschen die Story nur als Zuschauer kennen - am Besten von RTL. *g*
Leyla (29) meinte dazu am 17.04.09:
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