Scherenschnitt

Erzählung zum Thema Schuld

von  Mutter

Ich sitze in dem unbequemen IKEA-Sessel im Wohnzimmer und puste gedankenverloren auf den Tee, den mir Julia gemacht hat. Sie steht in der Küche, vor dem Fenster, und macht irgendwas mit der Pfeffermühle. Repariert sie vielleicht? Neulich ging sie nicht mehr, und mein Vorschlag war, sie wegzuwerfen. Scheißteil hat immer schon so dicke Brocken Pfefferkorn in die Salatsoße gespuckt.
Ich betrachte sie und ihre Silhouette. Sie steht so vor dem hellen Fenster, dass ich kaum mehr als ihren Umriss sehe. Wie bei einem Scherenschnitt. Als Kind habe ich Scherenschnitte geliebt, und ich müsste sogar irgendwo noch einen haben, den ich in der vierten Klasse gemacht habe. Keine Ahnung, wo.
Sie hat die Haare hochgesteckt, so dass man ihren Nacken sehen kann. Eigentlich mag es ich es lieber, wenn sie die Haare geflochten trägt, oder gleich ganz offen, aber der Vorteil an der Hochsteck-Frisur ist, dass man ihren wunderschönen Hals und die feinen Härchen besser sieht. Und besser dort hinein beißen, sich besser dort mit der Nase dran reiben kann.

Irgendwann mal, kurz nachdem wir zusammen gekommen waren, hatte ich Julia als Tarnkappen-Bomber bezeichnet. Wahrscheinlich in einem Gespräch mit Mick oder Juri. Juri wäre besser – der konnte wenigstens nichts ausplaudern. Dem erzählte man in aller Ruhe Dinge über die eigene Freundin, ohne Angst, dafür jemals zur Verantwortung gezogen zu werden.
Jedenfalls habe ich sie auf einer Party von Hendrik kennen gelernt, einem alten Freund von Gabi und mir. Es war ein Essen, mit zehn oder zwölf Leuten, und wir saßen an so ’nem runden Tisch. Meine gesamte Aufmerksamkeit war auf Betty gerichtet – die wunderbare, strahlende Betty.
Betty war nun wirklich nicht meine Liga – absolut nicht. Aber das stört uns Männer ja nicht. Frauen hinterher zu träumen, die weit jenseits unserer Möglichkeiten liegen, ist ja quasi unsere Berufung. In Bettys Liga spielte wohl eher der große Michi, der zu der Zeit gerade für den Iron Man auf Hawaii trainierte. Am Schlachtensee trainierte. Oder vielleicht Jaques, das Poetenkind. Der Kerl war ein echter Idiot – der benutzte bestimmt ein Portrait von Bukowski als Wichsvorlage.
All das hinderte mich aber nicht daran, geistig auf der Jagd zu sein, Betty zu begutachten, zu begaffen. Betty ist groß, richtig groß, schlank und hat unglaublich riesige Brüste. Die hatten heute Abend wohl Ausgang, dort unter ihrer dünnen weißen Bluse, und sie benutzte ihr lautes Lachen besonders oft, um ihre starken Zähne zu zeigen. Beim Lachen öffnete sie auf eine Art den Mund, dass mir sofort ein halbes Dutzend Sexphantasien dazu durch das Hirn schossen. Musste ich höllisch aufpassen, nicht blöd zu glotzen.
Aber zwischendurch, da fiel mir dieses Mädchen auf, dass mich immer wieder von quer über den Tisch ansah, mir immer aufmerksam zuzuhören schien, wenn ich was erzählte, und still lächelte bei jeder Anekdote. Wenn ich aufsah, um mit hungrigem Blick erst Betty und dann ihre Brüste zu suchen, dann waren ihre dunklen Augen schon da, fingen mich oft genug ein und hielten mich kurz fest. Julias Blick hatte auch so etwas Traktorstrahl-haftes.
Sie irritierte mich etwas, weil ich nicht verstand, was sie mir sagen wollte. Ich hatte kein Interesse an ihr – mich reizte deutlich schillerndere Beute.

Irgendwann später trafen wir am Buffet aufeinander – erst Betty und ich, und dann Julia und ich.
Ich war gerade dabei, mir etwas Mozzarella –Salat auf den Teller zu löffeln, als ich Betty auf der anderen Seite des Tisches auftauchen sah. Natürlich musste sie sich vorbeugen, um an irgendwelche Paninis zu kommen, und ich konnte einfach nicht anders als auf diese perfekten Brüste starren. Sind die Teil des Buffets, wollte ich fragen.
Nach einer Weile ging Betty wieder, vermutlich ohne zu wissen, was sie angerichtet hatte, und ich hörte ein leises Lachen.
Julia hatte ihren Abgang beobachtet. ‚Es ist schwer, da nicht hinzuschauen, oder?’ fragte sie lächelnd, und machte eine Kopfbewegung nach hinten.
Auch ohne Spiegel wusste ich, dass ich gerade knallrot wurde. Konnte ja jetzt schlecht sagen, ich hatte mir nur die Oliven angesehen, und zwar nur die schwarzen, weil die grünen, die mag ich nicht. Und deswegen so verhungert ausgesehen hatte.
Julia lachte hell auf. ‚Entschuldigung, aber du sahst gerade so bemitleidenswert aus.’
Ich nickte, und langsam verließ die Röte mein Gesicht wieder.

Ich sehe zu, wie Julia neuen Tee aufgießt, für sich und für mich, wenn meiner endlich alle ist. Ich nippe von dem Kaltgetränk.
Immer wieder kreisen meine Gedanken um diesen Moment im Kellereingang, um das, was gerade eben war. Um Nanni, und um Julia. Wie soll ich Julia erklären, was dort passiert ist, in der Schlesischen? Will ich das überhaupt?
Wer sagt denn, dass man Seitensprünge immer beichten muss?
Julia sagt das. Natürlich. Machen wahrscheinlich alle Frauen.
Bei einem dieser theoretischen Gespräche, die alle Paare immer irgendwann führen, hat sie mal beiläufig erwähnt, dass sie vielleicht einem Freund (also irgendeinem, anwesende Personen nicht ausgeschlossen) möglicherweise einen Seitensprung verzeihen könnte, so ganz eventuell, wenn alles andere stimmt, aber Unwahrheiten und Lügen – das könne sie nicht verzeihen.
Und ich sitze jetzt hier, und denke darüber nach, ob ich ihr davon erzählen muss. Und wenn ich es muss, muss ich es dann, weil ich das will? Weil ich es mir von der Seele reden will, oder weil ich es ihr schuldig bin?
Der Tee schmeckt Scheiße, so komplett kalt. Ich könnte in die Küche gehen, und mir neuen holen. Von Julia.

Dann denke ich darüber nach, wer eigentlich Schuld ist an dem ganzen Schlamassel. Schätze, eine Teilschuld muss ich mir wohl einräumen. Hätte den Schwanz ja in der Hose lassen können. Hätte einfach ein wenig mit Nanni rumknutschen können, ihr dann sagen: ‚Sorry, Honey, so läuft das nicht!’ und mit schmerzender Lende nach Hause gehen können, um mir gepflegt einen runter zu holen. Habe ich aber nicht. Musste sie ja vögeln, da im Hauseingang.
Aber ich erinnere mich noch so gut daran, wie willenlos, wie ferngesteuert ich mir vorgekommen war, da konnte ich nicht als einziger dran Schuld sein.

Nanni natürlich. Die hat mich ja gezielt abgeschossen. Könnte man schon so eine Art Vorsatz unterstellen. Aber sie hat’s als Job gemacht. Für sie war das alles nur ein Spiel. Oder Business, ist ja auch egal. Aber Gabi hat sie losgeschickt. Gabi alles in die Schuhe zu schieben wäre das Einfachste. Würde Julia natürlich sofort glauben, kann ihn ja eh nicht leiden. Würde nur alle Vorurteile, die sie schon hat, bestätigen.
Aber ich sähe deswegen nicht besser aus. Ich müsste die ganze beschissene Fight-Club-Geschichte beichten, und dass ich mich wieder von Gabi hatte einwickeln lassen, und insgesamt würde jedes Betonen von Gabis Rolle nur meine eigene Passivität, meine Opferrolle verstärken. Da hatte ich keinen Bock drauf. Wie gerne würde ich Gabi jetzt die Fresse polieren – aber als Sündenbock für diese ganze Sache taugte er nicht.
Blieb noch Julia. Ich wälzte das Problem im Kopf hin und her, wie es schon Milliarden Männer vor mir getan hatten. Es wäre so einfach, wenn ich Julia eine Teilschuld nachweisen könnte. Wenn ihre Art, mich zu lieben, oder nicht zu lieben, oder vielleicht Gefühlskälte, oder ihre frigide Art, mich zu dem getrieben hätten, was ich getan habe. Dann könnte das Gespräch so anders ablaufen. Ich würde ihr Nanni beichten, sie würde ärgerlich werden, und ich würde sie sanft auf Wasauchimmer hinweisen, und ihre Augen würden weit werden, und sie würde verstehen. Ich nähme sie gönnerhaft in den Arm, und würde ihr versprechen, dass das alles nicht so schlimm sei. Das sie sich keine Sorgen machen müsse.

Ich seufze. So einfach ist das nicht – nichts von alledem kann ich Julia nachweisen, noch nicht einmal unterstellen. Sie liebt mich aufrichtig, ist gut zu mir, wo ich sie vernachlässige, geduldig und verständnisvoll. Und der Sex mit ihr der Hammer. Vielleicht nicht von der Hure zur Madonna, aber dicht genug dran.
Es tut mir weh, sie dort als Scherenschnitt zu sehen, so unwirklich. Mir wird bewusst, dass ich mal wieder Angst habe. Sie zu verlieren. Dass, wenn ich nicht wirklich vorsichtig und clever bin, ich vielleicht bald nicht mehr in dieser Wohnung sitzen und ihren Tee trinken werde. Julia könnte das als Anlass nehmen, endgültig aus meinem Leben zu verschwinden.
Wie ich diese Scheiß-Angst hasse. Es kotzt mich so an, dieses klamme Gefühl im Magen, dieser heiße Atem im Nacken. Ich will das nicht mehr. Ich will wieder frei sein, so wie früher. Will wieder durchatmen können. Es wäre schön, wieder so zu sein, wie ich war, bevor die ganze Kacke passiert ist. Bevor ich Julia kennen gelernt habe.

Als Julia sich dort mit mir am Buffettisch unterhielt, tauchte sie das erste Mal leicht flackernd auf meinem Radar auf. Deswegen ‚Tarnkappen-Bomber’. Sie war die ganze Zeit da gewesen, aber so unscheinbar, dass ich sie nicht wahrgenommen hatte. Aber als sie sich irgendwann richtig enttarnte, auf unserem ersten Date, da hat sie mich voll erwischt. Julia ist so eine, die ist witzig, ohne auf den ersten Blick witzig zu sein. So ein tiefgründiger Humor, den ich oft erst gar nicht gerafft habe. Die war einfach zu clever für mich. Und schön, schön ist sie auch erst auf den zweiten Blick. Würde kaum jemandem auffallen, so auf der Straße, und wird auch im Club kaum angebaggert, aber wenn man sich mal einen Moment Zeit nimmt, dann erkennt man das Licht in ihr. Dann ist sie wunderschön.
So wie jetzt, da in der Küche.

Nicht jeder hat das Zeug zum Tarnkappen-Bomber. Ich tauche auf niemandes’ Radar überraschend auf. Höchstens als Vogel, oder als atmosphärische Störung. Und so Menschen wie Betty, die könnten sich gar nicht anschleichen, selbst wenn alle anderen blind und taub wären.
Wie gesagt, ich hoffte, ich hatte diese Geschichte jemandem wie Juri erzählt, der schweigen konnte wie ein Grab. Frauen haben meist wenig Verständnis dafür, wenn sie mit aufregenden Dingen wie militärischen Langstrecken-Bombern verglichen werden.

Ich stelle fest, ich werde das so nicht lösen können. Ich habe nicht den Mumm, mit Julia über die Sache zu reden. Und ich halte es nicht mehr aus, sie anzusehen. Tut mir zu weh. Macht mir zu viel Angst.
Also gehe ich.
Verabschiede mich kurz von mir, speise sie mit irgendeiner dünnen Geschichte ab und gehe - nachdem ich die Tasse mit kaltem Tee auf ihrem Küchentisch abgestellt habe.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text

Elvarryn (36)
(27.02.09)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Mutter meinte dazu am 27.02.09:
:D

Danke schön ...
Angelika Dirksen (62)
(27.02.09)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Mutter antwortete darauf am 27.02.09:
Oh krass, was für ein Hammer-Kompliment. :)

Na gut, erst habe ich geschluckt - wie, 'männliches Pendant zur modernen Frauenliteratur'? :D
Aber dann iss schon angekommen, was Du mir sagst, und ich freue mich.
Danke schön ...

Aber psssst: Nich der Männergewerkschaft sagen, die haben sich mit solchen Sachen immer, aber sowas von ...

M.
Steinwolke (65)
(01.03.09)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Mutter schrieb daraufhin am 02.03.09:
Plätteisen, ja? :D
Ich schau mal ...
Kitten (36)
(02.03.09)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Mutter äußerte darauf am 02.03.09:
Und das liegt nicht vielleicht daran, dass er so ganz egoistischen Gedanken nachhängt? Ihm geht es ja nur bedingt um sie, sondern primär um sich ...
Nein?
Kitten (36) ergänzte dazu am 02.03.09:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Mutter meinte dazu am 02.03.09:
Ja, das ist aber nicht fair ...
Du mochtest Jakob noch nie wirklich. ;)

Er würde dazu sagen: Früher war ich anders. *schmoll*
Samhain (23)
(19.02.10)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Mutter meinte dazu am 19.02.10:
Danke schön ...

Das gefällt mir, dass Dir das gefällt. :)
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram