Hydromorphon

Erzählung zum Thema Schmerz

von  Mutter

Der dunkle Raum hört langsam auf, sich um mich zu drehen. Stoppt, wird wieder schneller. Oben an der Decke sitzen mitten in der Dunkelheit boshaft zwei gedimmte Lichter. In wessen Keller bin ich?
Am Rand meines Gesichtsfeldes zerfranst die Darstellung, wackelt. Alles schwimmt.
Ich drehe den Kopf – die weiß glühende Eisenstange, die vorher zwischen meinen Rippen steckte, schiebt sich brutal durch mein Hirn.
‚Einen Moment, bitte’, höre ich eine weibliche Stimme. Weich und dunkel.
Scharfer Schmerz durchsticht meine Haut am Arm.
Einen kurzen Augenblick später breitet sich das Wabern aus, meine Augen füllen sich mit Gallert, bis nur ein winziger Bereich in der Mitte meiner Wahrnehmung klar bleibt. Ich lasse den Blick wandern. Leuchtspuren schmieren sich durch den Raum, Kreisel und Spiralen.
Der Schmerz zieht sich aus meinem Kopf zurück. Gibt auf, die Schlacht ist geschlagen.
Wer hat gewonnen?
‚Gleich geht es Ihnen besser’, sagt die Stimme. Von der ich möchte, dass sie nie wieder aufhört zu reden.
Ich lächele. Beobachte die zuckenden Spuren, die ich dort an der Decke mit meinem Blick erzeuge. Gucke böse und drohe den Lichtern. Grinse erneut.
Eine kühle Hand berührt mich an der Stirn, streichelt mich. Zieht mir die Augenlider auf. Ich versuche mich zu wehren, will den Kopf frei bewegen. Wo sind meine schimmernden Bilder? Eine zweite Hand hilft der ersten, hält mich fest.
Heißes Licht erfüllt mein Sein. Ich versuche, die Augen zu schließen, aber die fremden Finger halten unerbittlich dagegen. Ich verliere meinen ersten offiziellen Wettkampf im Liderschließen.
Absolute Erschöpfung flutet mich, droht, mich wegzutragen. Wohin? Aus diesem Keller?
Bin ich in einem Keller? Weiße Kacheln, Stahl, lauernde Dunkelheit.
Das Licht verschwindet, die Hände ebenfalls. Meine Lider zucken, ich kneife die Augen zusammen. Drehe den Kopf und versuche, etwas zu erkennen.
Mein rechter Arm liegt eng an meinem Körper, der linke liegt in einer Schlinge auf meiner Brust. Die rechte Hand spürt weiches Kunstleder. Eine Bahre, medizinische Liege?
‚Wie geht’s Ihnen?’ will die weiche Stimme wissen.
‚Wo bin ich?’, krächze ich zurück. Eigentlich sollte ich nach ihrer Telefonnummer fragen, denke daran zu spät - meine Stimme steigt aus. Erinnert mich an meine Pubertät.
‚Mein Name ist Dorian. Ich arbeite für Metriç. Sie sind Mister Corker, richtig?’
Ich versuche zu nicken, verliere mich in den Lichterschleiern. Sie holt mich zurück. ‚Sie haben ein starkes Schmerzmittel von mir bekommen. Deswegen scheint gerade alles etwas verwirrend.’
Doc Dorian. Willst du mich heiraten, denke ich. Kann es nicht sagen. Willst du den Rest deines Lebens mit mir verbringen, und mir mit deiner Hand die Stirn kühlen? Und zu  mir sprechen? Hör nie wieder auf zu reden, denke ich als letztes, bevor jemand schlagartig alle Lichter löscht. Ich falle.
Wo ist Molly?
In wirren Träumen wälze ich mich mit Anne auf dreckigen Laken, versuche, zwischen ihre Schenkel zu kommen. Sie lacht. Zeigt mir perlweiße Zähne, verspottet mich, leckt mir sanft über schweißfilmglitzernde Haut. Lässt mich nicht, kämpft. Sie ist stärker.
Immer wieder beißt sie mich, hart, dass Blut kommt. Dreht sich geschickt weg, fängt mich mit ihren endlos langen Beinen, klammert. Ich fühle mich hilflos.
Endlich küsst sie mich auf den Mund, brutal und gierig, und auf einmal sehe ich eine Rasierklinge zwischen ihren Zähnen. Zucke zurück, will entkommen, aber sie lässt mich nicht. Hält mich gefangen, lacht gequetscht, während sie mich mit Lippen und Klinge liebkost. Mir Haut und Fleisch in Fetzen aus dem Gesicht schneidet, bis ich mit blutiger Grimasse unfreiwillig wie Batmans Joker grinse. ‚Have you ever danced with the devil in the pale moonlight?‘

Nach Luft schnappend wache ich auf, schieße nach oben. Starre die bösartigen Deckenlichter an, die mich in meiner Hilflosigkeit beobachtet haben. Bevor ich erneut von Panik geflutet werde, berührt erneute Linderung meine Stirn. Die weiche Handfläche, kühl und sanft. Der Rest meines Lebens beginnt.
Doc Dorian.
‚Wie fühlen Sie sich, Mister Corker?’
Danke, gut, Misses Corker. Beschissen.
Meine trockene Kehle drückt eine Antwort heraus, von der ich annehme, dass weder sie noch ich sie verstehen können. Scheint uns beiden nichts auszumachen.
‚Was ist passiert?’ frage ich und drehe den Kopf vorsichtig in ihre Richtung.
Frau Doktor ist Ende Dreißig, trägt die vollen Locken kurz geschnitten und besitzt ein ernstes, schönes Gesicht. Mit einem Lächeln greift sie zur Seite und hebt eine silberne Nierenschüssel hoch. Metallisch kann ich die Kugeln dort drinnen hören, bevor ich sie sehe.
Verformt und blutverklebt liegen sie dort, unscheinbar. Zwei Stück.
‚Die eine habe ich aus Ihrer Seite entfernt, die andere hat fast komplett die Schulter durchschlagen. Sie sollten sich wieder hinlegen.’ Nach einem Moment, als ich nicht reagiere, fügt sie hinzu: ‚Oder sich aufsetzen. Aufstützen sollten Sie sich noch nicht – selbst wenn Sie den Schmerz im Moment nicht spüren.’
Sie lächelt mir zu, während ich die Beine von der Bahre schiebe und mich auf den Rand setze. Mein Oberkörper ist nackt, die Hose hat Frau Doktor angelassen. Mit konzentriert zusammen gezogenen Brauen betrachte ich die Schüssel, nehme sie ihr ab. Lasse das Metall darin vorsichtig hin und her rollen, wie ein faszinierendes Spielzeug. Lausche dem Klang. Alaska – Klondike – Goldwäsche.
Meine Hand wandert an meine Seite, befühlt den festen Verband, der sich um meinen gesamten Oberkörper schlingt. Die Finger suchen sich ihren Weg hoch zur Schulter, ohne dass ich hinsehe. Als könnte ich erschrecken, bei dem was ich finde. Auch dort sitzt nur ein strenger Verband, über den ich nachdenklich mit den Fingerkuppen streiche.
‚Wo bin ich?’
‚Nähe Belmont Park.’
Die andere Seite der Stadt – drüben im Osten, in der Nähe des Hafens.
‚Wer hat mich hier her gebracht?’ will ich wissen. Sehe sie direkt an, betrachte ihre Augen, die schwarz im diffusen Licht schimmern. Während sie mich versorgt hat, war der Raum vermutlich in harsches Neonlicht getaucht. Jetzt, um mich nicht zu verschrecken, mich nicht von der Wasserstelle zu verjagen wie scheues Wild, hat sie es gedimmt.
‚Soweit ich weiß, hat Mister Bardha einen Anruf bekommen. Und einen Wagen zu Ihnen geschickt.’ Sie nimmt mir die Schüssel ab und geht, um sie auf einen Tisch zu stellen. Zu den anderen chirurgischen Instrumenten, mit denen sie an mir herumgeschnitten hat.
‚Was für ein Anruf?’ frage ich wie in Trance. Wer hat den Graubart angerufen?
Statt einer Antwort bekomme ich ein weiteres mildes Lächeln, als sie mir kurz den Kopf zudreht. Widmet sich erneut ihren Messern und Klingen und fährt fort: ‚Das  weiß ich nicht. Ich bin nicht mal sicher, ob Mister Bardha das sagen könnte. Schätze, es handelte sich um einen anonymer Anruf.’
In meinem Kopf entsteht ein Bild, gestochen scharf gegen die verschwommene Realität um mich herum. Anne, die mit zwei Wummen über mir steht, die Beine links und rechts von meinem bewusstlosen Körper. Molly, die zu ihr tritt, aus dem Off, die Warfare noch in der Hand. Die wissen will, ob Anne mich kalt gemacht hat. Die Kleine schüttelt den Kopf, Molly nickt. Nimmt ihr Handy heraus, ruft den Graubart an.
Scheiße, nein. Ich schüttele sanft den Kopf, warte auf den Schmerz. Der bleibt aus – weggeblockt vom Scheiß, den mir Doc Dorian reingeknallt hat. Geiles Zeug.
Das ergibt alles keinen Sinn. Molly soll mich umlegen. Warum würde sie mich am Leben lassen? Warum den Graubart informieren, damit sie mich holen?
Fick die Ziege! Ich versteh’s nicht. Raffe die Zusammenhänge nicht. Das Ganze riecht nach Set-Up. Irgendwer wollte, dass ich mit den Bentos Urlaub mache. Dass die beiden zusammen mit den Metriç-Brüdern dort oben umgelegt werden. Um wen geht es: Die Bentos? Barber und Tim? Um Corker?
Doc Dorian betrachtet mich in meiner hilflosen Verzweiflung. Kann nicht mal meinen Körper benutzen, um die Wut abzureagieren.
‚Alles in Ordnung?’
Fuck, nein. Mir geht’s dreckig, mein Körper fühlt sich an wie ein Lagersilo für kolumbianische Drogenbarone und ich kämpfe mit Mühe darum, Gedanken denken zu dürfen. In meinem eigenen, mit Pharmaka zugehämmerten Kopf.
Fühle mich wie ein dork, weil ich die beschissenen Schnüre nicht sehen kann, an denen jemand zieht. Das kann kein Zufall sein, dass jemand zwei Brüder ausknipsen will, und ich zufällig im Zimmer bin. Und überlebe.
Molly und Anne machen bei dem ganzen Szenario noch viel weniger Sinn. Was wollen die beiden in dem Film?
Die Tür zu der kleinen Kammer öffnet sich und der Graubart tritt mit dem zweiten Agent Smith herein.
Für einen Augenblick betrachtet er mich, wie ich dort sitze, die Beine in der Luft hängen lasse. Doc Dorian würdigt er keines Blickes.
Langsam sagt er: ‚Sie haben Scheiße gebaut, Corker. Das Ding voll gegen die Wand gefahren.’
Ich nicke. Keine Neuigkeit für mich.


Anmerkung von Mutter:

So, Kinners, das Ferienlager iss vorbei.
Weizenmeer, Sonnenbrand und gelutschte Himbeerdrops sind nur noch entfernte Erinnerungen.

Jetzt geht's mit der knallharten Realität weiter ...

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Kommentare zu diesem Text

kontext (32)
(17.09.09)
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 Mutter meinte dazu am 17.09.09:
Schön ... :)
Danke schön.

Erwähnte ich, dass ich den Herbst mag? ;)
Ich glaube ...
Kitten (36)
(17.09.09)
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 Mutter antwortete darauf am 17.09.09:
Ja, ich weiß ...

Das plöde Sommerloch hat mich auch volle Lotte erwischt.
:-/

Nu' aber ... :)
Corker rocks on!
Alegra (41)
(16.11.09)
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 Mutter schrieb daraufhin am 17.11.09:
Stimmt, habe die beiden beiden gefunden. :)
Und eins platt gemacht.

RAAAAGH!

Danke. :D
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