Scrapheap

Erzählung zum Thema Annäherung

von  Mutter

Kurz darauf erscheint Jill tatsächlich in der Tür des Containers. Ich bin nicht sicher, was ich erwartet habe – eine dicke Alte mit zerschlissenem Blümchenkleid oder eine vollbusige, burschikose Schwester mit kariertem Hemd und zwei Zöpfen?
Jill ist eine Transe. Großgewachsen stimmt, für eine Frau, schlanke Hüften hat sie ebenfalls. Keine Möpse. Das zusammengeknotete T-Shirt zeigt einen schicken Sixpack und die hautenge Hose überlässt kein Detail von Jills männlichem Geschlechtsteil meiner Fantasie.
Ich schaue zu Molly rüber, will wissen, ob sie weiß, in was für ein surreales Kasperletheater sie mich geführt hat. Sie sieht demonstrativ weg. Eine stille Ermahnung: Corker, bau keinen Scheiß. Fällt mir schwer.
‚Oh wie schön, Gäste!‘, freut sich Jill und kommt auf uns zu. Nicht in Pumps, sondern in ausgelatschten Chucks. ‚Wie unerwartet.‘
Sie lächelt uns süßlich an. Er lächelt süßlich? Ach, keine Ahnung – ich entscheide mich, ihr offensichtliches Genital zu ignorieren und geistig aus Jill eine Maus zu machen.
‚Was können wir für euch tun, Kinder?‘, will sie wissen, nachdem sie Molly kurz umarmt hat und mir eine lasche Hand hinhält. Ich entscheide mich gegen den Handkuss und für einen Händedruck. Jill lächelt mich kokett an.
‚Rathlin Island‘, nennt Molly das Stichwort.
Jill nickt ernst. ‚Wollen wir nicht reingehen? Hier draußen ist es so … ungemütlich!‘
Molly und ich folgen ihr, die beiden Rednecks bilden den Schluss. Diese Jungs hier sind Lichtjahre von den straff geführten Gruppen entfernt, die ich aus meinen alten Tagen gewohnt bin. Das hier sind keine loyalistischen Paramiltärs der UVF, der UFF oder UDF – ein Haufen Spinner! Kopfschüttelnd trete ich hinter den beiden Ladies durch die Tür.

Das Innere des Containers ist nicht wie ein Büro eingerichtet – eher wie die Bibliothek in einem uralten Kinderfilm. Die gesamte Rückwand wird durch Regale, gefüllt mit Büchern in Leder- oder Lederimitat eingeschlagen, eingenommen. Davor stehen um einen kleinen runden Tisch zwei Sessel, deren Stoff an den Lehnen und im Kopfbereich völlig abgewetzt ist. Ein Bär, der gerade sein Winterfell abschmeißt, liegt direkt davor und sieht uns zornig aus seinen Glasaugen an. An der linken Wand steht ein altes Kanapee, dessen gestreifter Stoff aussieht, als käme er direkt aus den fünfziger Jahren.
Ein paar weitere niedrige Regal und ein Schrank, in den oben eine Uhr eingearbeitet ist, runden das Ensemble ab.
‚Setzt euch‘, zwitschert Jill und lässt sich in den rechten der beiden Sessel fallen, den Arm einladend auf den zweiten ausgesteckt. Zielstrebig geht Molly darauf zu und setzt sich, die Beine übereinander geschlagen.
Bleibt mir die Couch – ich setze mich eng an die Lehne, der ältere Bushwhacker nimmt die andere Seite. Gott sei Dank nimmt sein jüngerer Sidekick mit der Wand vorlieb und bleibt stehen – wäre ansonsten gemütlich für uns drei geworden.
‚Meine Süßen!‘ Jill sieht vor allem mich bei ihren Worten an. ‚Mäuschen Molly hier sagt mir, es geht um die Insel.‘
Ich nicke. ‚Sie meinte, ihr könntet was darüber wissen.‘
Die Transe lächelt süßlich. ‚Sicher. Population nicht einmal 100 Einwohner, berühmt vor allem für seine Papageientaucher. Naturschutzgebiet.‘
Missmutig verziehe ich das Gesicht. Geh mir nicht unnötig auf die Eier, Hasi! ‚Ich habe vor ein paar Jahren mit ein paar Jungs auf der Insel gearbeitet.‘
‚Gun-Runner für die Fenians?‘, spuckt der junge Bushwhacker verächtlich aus.
‚Hey,  ich hatte keine Ahnung, was die Jungs mit den Knarren wollten. Ratten in Belfast jagen, nehme ich an – pest control!‘
Bei meiner Beleidigung stößt er sich von der Wand ab.
Jills Arm zuckt hoch, stoppt ihn. ‚Sssshhh, Ruhe, Kinder. Das gehört alles der Vergangenheit an. Nicht streiten.‘
‚Es tut mir leid‘, sage ich. ‚Ich hatte damals sporadisch mit ihnen zu tun. Mein Kumpel Money war tiefer in ihre Deals verstrickt, ich bin bloß ein halbes Dutzend Mal auf der Insel gewesen.‘
Ich rede weiter, obwohl ich Jills Reaktion bei der Erwähnung von Daves Spitznamen bemerke – ihre Augen weiten sich kurz, sie sieht unter Puder und Schminke bleicher aus als vorher. Mein Pokerface lässt sich nichts anmerken.
‚Ich dachte, ihr wüsstet vielleicht, wer heutzutage von der Insel aus operiert‘, fahre ich fort.
Jill nickt, schluckt trocken. Hat Schwierigkeiten, sich zu sammeln. Was hat sie mit Money zu tun?
‚Alles in Ordnung?‘, fragt der Ältere besorgt, den ich im Stillen Daddy taufe. Daddy, Jill und Junior geben eine entzückende Familie ab – denen man in den Appalachen nicht ohne Schrotflinte begegnen wollen würde.
‚Vielleicht sollte ich …‘, fängt sie an, fährt sich mit den Fingern durchs Haar und steht abrupt auf. ‚Können wir kurz unter vier Augen sprechen?‘, fragt sie mich und sieht mich fast bittend an. Ich nicke.
‚Was ist?‘, will Junior wissen, in einer Mischung aus Besorgnis und Verärgerung. Hat wahrscheinlich Angst, ich will mit seiner aufregenden Mami über alle Berge. Keine Sorge, Kleiner.
‚Gebt uns ein paar Minuten, in Ordnung?‘, sagt sie und geht an uns vorbei auf die Tür zu. Öffnet sie und sieht mich auffordernd an. Ich folge ihr.
Draußen führt sie mich auf einen schmalen Eingang zwischen zwei Altmetall-Bergen zu. Ich unterdrücke den Wunsch, mich besorgt umzusehen. Habe keine Ahnung, was das werden soll, aber ich kann mir vorstellen, wie die Hillbillies am Container stehen und uns nachsehen. Kautabak ausspucken.
‚Was soll das?‘, herrsche ich sie an, als sie nach ein paar Metern keine Anzeichen macht, inne zu halten.
Sie dreht sich kurz um, legt den Finger auf den Mund und bedeutet mir, zu folgen.
Schlüpft in einen schulterbreiten Spalt und verschwindet im Schatten dahinter. Zögernd komme ich näher, stecke den Kopf hinein.
‚Na los‘, zischt sie mich an.
Drinnen ist ein fünf bis sechs Quadratmeter großer Hohlraum zwischen Stalagmiten aus alten Autos entstanden. Die Öffnung dieses automobilen Canyons wird durch eine große Wellblechplatte abgedeckt und taucht ihn ins Dunkle.
‚Das ist abgefucked‘, stoße ich hervor, will mich abwenden.
‚Bitte nicht! Ganz kurz? Das hier ist wichtig‘, beschwört sie mich.
‚Drauf geschissen‘, schiebe ich zwischen zusammen gebissenen Zähnen hervor und trete ein.
‚Danke!‘ Sie sieht mich erleichtert an.
‚Wo sind wir hier?‘
‚Das haben die Jungs für mich gebaut. Hier können wir nicht abgehört werden.‘
Ich ziehe die Augenbrauen nach oben. Soll ich mir als nächstes einen Hut aus Alufolie aufsetzen? Halte meine Klappe, lass sie reden.
‚Dave Money Monaghan?‘, fragt sie unvermittelt.
Ich nicke. Hatte ein paar Jahre lang mit Dave zusammen gearbeitet, wir waren Kumpels. Dann sind ein paar Dinge schief gegangen, unsere Wege hatten sich getrennt. Ich habe ihn nie wieder gesehen.
‚Dave ist zurück‘, haucht Jill und sieht mich mit großen Augen an.
‚War er weg?‘, will ich gelangweilt wissen.
Sie nickt, als sei dies eine großartige Offenbarung. ‚Er hat die letzten Jahre aus Boston heraus operiert. Seit dem Sommer ist er hier.‘
‚Hast du ihn gesehen?‘
Sie schüttelt traurig den Kopf, sieht erst auf die Autowracks, dann zu Boden. Zieht die Nase kraus. ‚Nein, er hat sich nicht gemeldet. Habe bloß von ihm gehört.‘
Plötzlich fällt mir was auf. Ich strecke den Arm aus, berühre sie am Kinn. Drehe ihren Kopf sanft zu mir rüber, ins wenige Licht, dass durch den Spalt nach drinnen fällt.
‚Das mir das nicht früher aufgefallen ist – ihr seht euch ähnlich. Dave ist dein Bruder, oder?‘
Sie lächelt kokett. ‚Wenn Dave mein Bruder ist, sind wir so etwas wie Luke Skywalker und Princess Leia.‘
Wird sofort wieder ernst und schüttelt den Kopf. ‚Nein, keine Geschwister. Wir haben uns geliebt.‘
Ich schnaube abfällig. ‚Hör mal, Prinzessin, ich kenne Dave. Und der steht nicht auf …‘
‚Was?‘ Faucht sie, sieht mich an. Ich kann ihren unterschwelligen Zorn spüren - sie erinnert mich dabei an Molly.
‚Hör zu, es tut mir leid – Dave hat zu unserer Zeit genug Schnecken vernascht, um als halber Franzose durchzugehen, wenn du verstehst, was ich meine. Pussy.‘ Echte Pussy denke ich nur, sage es nicht.
‚Du raffst es nicht, Corker, oder? Wir waren ein Liebespaar. Unglücklich, aber so sehr füreinander bestimmt wie Han Solo und Leia!‘
‚Oh, bitte! Wenn ich gewusst hätte, dass die Prinzessin ein Dickgirl ist, hätte ich damals im Kino keinen Halbsteifen bekommen.‘
Angewidert verzieht sie bei meinem Spott das Gesicht. ‚Du bist ein Schwein. Ein chauvinistisches Arschloch.‘
Ich nicke. ‚Es tut mir leid.‘ Tatsächlich meine ich es. Seufze. ‚Was hat eure tragische Liebesgeschichte mit mir zu tun?‘
Für den Moment scheint sie bereit, ihren Zorn auf mich beiseite zu packen. Nickt. ‚Ich will einen Deal mit dir machen.‘
‚Schieß los!‘

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