Godspeed

Erzählung zum Thema Abschied

von  Mutter

Nach ein paar Minuten bin ich sicher, dass ich in der Höhle keine Gegner mehr finden werde. Ich stehe vor der Leiche des Vogelmannes: Vier Einschüsse zieren seinen Körper – in Brust und Schulter, ein großer Teil des Halses fehlt. Ich kann nicht erkennen, welcher davon tödlich war. Spielt keine Rolle.
Sein Blut hat sich in einen flachen Pool aus Seewasser gesammelt und ich kann kleine silbrige Silhouetten darin sehen.
Atmen Fische Blut?
Mit grimmiger Befriedigung beeile ich mich, zurück zu Molly zu kommen. Hebe sie aus der Spalte, in der sie regungslos liegt, trage sie nach hinten. Zu den beiden Schmugglern.
Ihre Atmung kommt zerfranst, mühevoll. Nachdem ich sie sanft abgelegt habe, schiebe ich ihre Jacke zur Seite. Betrachte das feucht-schwarze Loch in ihrer Seite, mitten im Rippenbogen. Ich reiße mich los, zwinge mich, sie alleine zu lassen, um nach den anderen beiden zu sehen.
Timmons ist bewusstlos, rührt sich nicht mal, als ich ihm mit dem Stiefel in die Seite trete. Park hat die Augen auf. Ich lasse mich neben ihm nieder, ein Knie in einer Pfütze.
‚Corker‘, röchelt er mit einem Lächeln. Auf seinen Lippen bilden sich kleine Blasen in Rot.
‚Hey Charly, alles im Lack?‘
Sein Lächeln wird zu einer schmerzhaften Grimasse, er blubbert.
‚Wo habe ich dich erwischt?‘, will ich wissen.
‚Im Magen …‘ Ein Husten. ‚Die Lunge? Keine Ahnung.‘
Wir warten darauf, dass der nächste Anfall nachlässt.
‚Es tut mir leid, Charly.‘
Er nickt matt, zeigt mir blutige Zähne. ‚Ich hätte dich umlegen sollen, als du meine Schwester gevögelt hast. Hätte dich …‘ Pfeifen, Röcheln. ‚Hätte dich am Scheunentor kreuzigen sollen, wie mein Dad es wollte.‘
Ich nicke. ‚ Dabei war sie längst nicht so gut wie deine Mutter.‘
Sein Versuch zu lachen geht in einen Spasmus über. Als er wieder ruhiger atmet, sehen wir uns an.
‚Corker, du bist am Arsch.‘
Ich warte ab, unterbreche ihn nicht.
‚Weißt du, wer das war? Wen sie auf dich angesetzt haben?‘
Äußerlich warte ich geduldig, dass er zwischen Aussetzern weiter spricht, innerlich rast mein Puls. Er redet von Mister X. Kann ihn nicht drängen – immerhin opfert er mir die letzten Momente seines Lebens.
‚Sie haben The Machine auf dich angesetzt, Corker. Irgendwer zahlt verdammt viel Kohle, um dich am Sack zu kriegen …‘
Blut wird zu Eiswasser. The Machine. Der Schwarze Mann aller bezahlten Killer, ein Name, mit dem Assassinen-Mütter ihre widerspenstigen Sprösslinge ins Bett schicken. Der Mann war bereits Legende, als ich noch in Irland gearbeitet habe.
Charlys feuchtes Lachen reißt mich aus meinen Überlegungen. ‚Du bist ein Fuchs, Corker. Immer gewesen. Aber du weißt, wie die Jagd endet. Du bist die Trophäe.‘
Der Gedanke scheint ihm Auftrieb zu geben – seine Augen glitzern mich an. ‚Hey Mann - wir sehen uns drüben.‘
Ohne zu antworten, sehe ich ihm weiter in die Augen.
Nach einem weiteren Anfall fährt er fort: ‚Ich geh schon mal vor.‘
Ich nicke und halte ihm die Faust hin. Mühsam hebt er seinen rechten Arm, unsere Knöchel berühren sich sanft. Die Anstrengung zwingt ihn, die Augen zu schließen.
‚Godspeed, Charly Park‘, sage ich heiser und stehe auf. ‚Halt die Ohren steif.‘
Ich wende mich ab und mache ein paar schnelle Schritte zu Molly hinüber. Es schmerzt mich, sie solange da liegen lassen zu müssen, aber ich schätze, das war ich Charly schuldig. Männer-Macho-Bullshit.
Mit einem Grunzen hebe ich Molly zurück in meine Arme. Trage sie vorsichtig, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, Richtung Meer. Dahin, wo Timmons‘ Schlauchboot liegt.
Fünf Minuten später habe ich sie im Boot verstaut, so komfortabel, wie das in dem pissigen Gummiboot möglich ist, und nehme Kurs auf den Atlantik.
Während ich stur nach vorne sehe, steuere, liegt Molly regungslos in meinem Blickfeld. Sprühregen oder Tränen verschleiern meinen Blick, während ich mein Handy aus der Tasche angele. Mein Daumen hinterlässt schmierige Spuren auf den Tasten, während ich Annes Nummer wähle. Blut. Ihr Blut.
‚Was gibt es?‘ Sie klingt hellwach, hat wahrscheinlich die ganze Nacht kein Auge zugetan. Ich habe ihre Molly kaputtgemacht.
‚Ich bin’s.‘ Schlucke trocken. ‚Anne, Molly hat’s erwischt.‘
Ich weiß genau, was gerade mit ihr passiert. Alle Luftlöcher eines Transatlantik-Fluges treffen sie auf einmal, ziehen ihren Magen gnadenlos nach unten.
‚Was ist passiert?‘
‚Setz dich in den Wagen und komm nach Ballycastle. Wir treffen uns am Nordstrand.‘
Sie unterdrückt das Bedürfnis, mir weitere Fragen zu stellen. ‚In Ordnung.‘
‚Bring trockene Klamotten und Decken mit.‘

Der einzelne Motor ist altersschwach, das rote Boot lange nicht so schnell wie das Zodiac von Digger. Wie eine Ewigkeit kommt es mir vor, bis sich der Strand von Ballycastle aus dem Dunst schält, eine weitere, bis sich der Boden des Bootes auf den feinen Sand schubbert. 
Ich springe ins Wasser und ziehe unser Gefährt ein paar Schritt aus dem Wasser.
Nachdem ich kontrolliert habe, dass sie noch atmet, hebe ich Molly heraus und trage sie den Strand hoch auf den Parkplatz zu. Wie ein Bräutigam die Braut auf dem Weg zur ersten Nacht.
Für einen Augenblick überlege ich, ob ich sie auf den Autositz setze, entscheide mich dagegen. Hocke mich auf eine niedrige Mauer, die den Parkplatz begrenzt, mit ihr im Arm. Wie man ein kleines Kind, das mitten in der Nacht hochgeschreckt ist, halten und beruhigen würde.
‚Hey‘, sagt sie irgendwann schwach. Ihre Lippen zucken, deuten ein Lächeln an.
‚Hey Puppe – bist du bei mir?‘
Ich erahne ein Nicken.
‚Gut. Das musst du auch. Wachbeiben - hierbleiben. Anne ist auf dem Weg.‘
Erneut die feine Bewegung der Lippen.
‚Es tut mir leid, Molly. Ich habe Scheiße gebaut …‘
Diesmal will sie den Kopf schütteln, mich unterbrechen. ‚Corker …‘
In mir verkrampft sich alles, als mir auffällt, wie sehr ihre Stimme der von Charly ähnelt – bei seinen letzten Worten. Nicht Molly. Bitte nicht!
Ich streichele ihr über den Kopf, über die Haare, die nicht mehr seidig und glatt sind. Halte sie fest, als könnte ich sie damit bei mir behalten, am Leben erhalten. Mein Gesicht ist feucht.

Ich verliere jedes Zeitgefühl. Halte Molly geborgen, bis knirschend Autoreifen über Sand und Asphalt rollen. Türklappen, hastige Schritte.
Sehe auf, in Annes Gesicht. Ihre Augen sind rot gerändert, ihr Teint bleich.
Sie kniet sich neben uns, streicht Molly mit der Hand über die Stirn.
Ich bringe sie zu dem zweiten Auto, bette sie auf den Fahrersitz. Anne will sie zudecken, ich schüttele den Kopf. Gemeinsam ziehen wir ihr die nassen Sachen aus, reiben sie trocken. Frische Klamotten an, danach in die Decken rein.
Jetzt stehen wir uns gegenüber, sehen uns an. Keiner von uns beiden sagt ein Wort. Bin ich froh drüber, betrachte stumm die Tränen in ihren Augen.
Mit einem Nicken verabschiedet sich Anne, sieht auf die Autoschlüssel in ihrer Hand und geht um den Wagen rum.
Ich sehe zu, wie sie erst energisch zurücksetzt, dann Gas gibt und mit kurz durchdrehenden Reifen vom Parkplatz schleudert. Ich sehe den beiden nach, bis die Rücklichter um eine Kurve Richtung Ballycastle verschwinden. Zu meinen Füssen liegen Mollys nasse Klamotten. Ich bücke mich und nehme den Wagenschlüssel aus ihrer Hosentasche.
Mit einem Blipblip macht mir die Zentralverriegelung auf.  Entscheide mich dagegen, einzusteigen – ziehe mich stattdessen aus.
Nackt und wund stehe ich auf dem Parkplatz, die Kälte des Windes bemerke ich kaum. Wie in Trance gehe ich zurück zum Strand, auf das Wasser zu. Neugierig spielt der Atlantik um meine Füße, erfasst meine Beine, Hüfte. Ich lasse mich nach vorne fallen, eiskalt schlägt es über meinem Kopf zusammen. Als hätte mir jemand einen Hieb verpasst.
Ich bleibe unter Wasser, öffne die Augen. Das Salz beißt mich, tut mir weh. Wie ein nie versiegender Strom Tränen.
Mit einem Prusten komme ich hoch, gehe zurück an Land. Triefend und nackt wie Aquaman laufe ich den Strand hoch. Hole  meine Tasche, die hinten im Kofferraum steht, und ziehe mich trocken an. Sitze wenig später im Auto.
Wund und roh fühle ich mich immer noch, wie nach einer Kasteiung. Aber nicht mehr träge und benommen.
Entschlossen steuere ich den Wagen durch Ballycastle, nehme Kurs auf Belfast.
Time to kick some ass - serious ass.

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Kommentare zu diesem Text

Kitten (36)
(05.11.09)
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