Leprechaun

Erzählung zum Thema Traum/ Träume

von  Mutter

Ich suche mir eine schäbige Absteige, werfe mich mit Klamotten auf das Bett und hole den fehlenden Schlaf der vergangenen Nacht nach. Dauert nur Bruchteile von Sekunden und ich stürze wie besinnungslos ins Dunkle.

Pralle hart auf – Klippen, Küste, über mir höre ich Möwen spotten. Verwirrt stehe ich auf, klopfe mir die Klamotten ab. Bemerke, dass neben mir jemand steht. Molly.
Sie starrt raus auf Meer, der Wind durchwühlt ihre Haare.
‚Es ist alles so weit weg‘, flüstert sie. ‚So endlos weit.‘ Eine einzelne Träne rollt ihr Gesicht hinunter.
Ich betrachte ihr Profil, sauge ihr Bild in mich auf. „Labe mich an ihr“, würde jemand, der lyrischer ist als ich, sagen. Eine tiefe Wehmut erfasst mich, Schmerz beginnt, mich auszufüllen. Zuerst fühlt es sich an, als würde mir etwas in der Brust stechen – fühlt sich so ein Herzanfall an? Infarkt? Die Farbe des Schmerzes wechselt, wird dunkler, intensiver. Als würde es mich auseinanderreißen. Nichts zurücklassen außer einer frierenden Seele dort an der Küste.
Sie wendet mir den Kopf zu, ihre Augen schimmern feucht. ‚Oh, Corker‘, formen ihre Lippen, die Worte gegen den Wind fast nicht zu verstehen.
Wie ferngesteuert hebe ich den Arm, berühre sie an der Schulter, als würde ich sie streicheln wollen. Stattdessen stoße ich sie mit Schwung in den Abgrund.
Mit einem gellenden Schrei verschwindet Molly aus meinem Blickfeld.

Schnitt.

Ich liege mit dem Gesicht nach unten im Gras, kann mich nicht rühren. Als ich mich umdrehen will, hindert mich ein schweres Gewicht auf meinem unteren Rücken. Keckerndes Lachen ertönt.
‚Komm schon, streng dich an‘, verhöhnt mich jemand, der auf mir sitzt.
Mit verzerrtem Gesicht schaffe ich es, erst die Schultern und dann den Rest meines Körpers zu drehen. Auf mir sitzt der dämliche Kobold, der Leprechaun.
Mein Kopf zuckt zur Seite, zur Klippe, über die Molly verschwunden ist. Dort steht Anne, starrt vorne übergebeugt nach unten.
‚Anne!‘
Ohne sich umzudrehen, richtet sie sich auf, wie eine mechanische Puppe. Dreht sich dann langsam um, ohne den Hals zu bewegen. Ihre riesigen, dunklen Augen starren durch mich durch.
‚Anne‘, flüstere ich verzweifelt erneut. ‚Hilf mir! Hilf Molly!‘
Sie macht einen Schritt auf mich zu, ihr Gesicht inzwischen nicht mehr voller Wut. Ich lese nur noch Trauer und Furcht. Hilflosigkeit. Stumm schüttelt sie den Kopf, auch ihr wehen die Haare um den Kopf. Mit einem Ruck dreht sie sich um, sieht kurz nach unten und springt.
‚ANNE!‘, brülle ich.
Der Leprechaun lacht. ‚Du hast einen beachtlichen Verschleiß an Frauen, Corker. Jedenfalls für jemanden, der derart unfähig ist zu lieben.‘
Wutentbrannt wende ich mich meinem Peiniger zu. ‚Fick dich, du Zwerg! Was weißt du schon?‘
Erneut versuche ich, mich zu befreien. Grabe meine Fäuste in die Erde, winde meinen Körper. Zwecklos – die kleine Sau ist zu schwer. Als wiege er mehrere Tonnen.
‚Lass mich …‘, quetsche ich zwischen den Zähnen hervor.
Er kichert, beugt sich zu mir vor. ‚Ist dir kalt?‘
Sofort spüre ich, wie Grabeskälte unter mir aus dem Boden in meine Knochen kriecht. ‚Ja‘, klappere ich mit den Zähnen.
Er grinst mir frech ins Gesicht. ‚Du weißt ja, warum.‘
Mit verzweifelter Anstrengung drehe ich mich auf den Bauch, ziehe mich Handbreit für Handbreit auf die Klippen zu, ihn weiter auf mir drauf.
‚Willst du dich hinterher stürzen? Keine schlechte Idee.‘ Sein Mund nähert sich meinem Ohr, so dass ich seine geflüsterten Worte mehr spüre als höre: ‚Glaubst du, dich würde jemand vermissen, Corker? Eine einzige Seele auf dieser Welt?‘
Meine Wut und Verzweiflung bricht sich mit einem Schrei Bahn – frustriert schlage ich die Finger in die Grassode, ziehe mich weiter vorwärts.
Ich schieße nach vorne, als das Gewicht schlagartig verschwindet. Werfe einen Blick nach hinten, aber der Kobold ist verschwunden. Panisch krabbele ich weiter, auf den Rand zu. Meine Hände greifen den Fels, ziehen mich mit aller Macht vorwärts.
Ein Gefühl von Übelkeit steigt in mir auf, während ich hinunterblicke. Will nicht sehen, was ich sehen werde.
Meine geweiteten Augen starren auf Molly und Anne. Die beiden stehen auf einem Sims kaum zehn Meter unter mir, halten sich in den Armen. Tanzen? Beide nackt.
Anne bemerkt mich, zeigt mit einem Lachen nach oben. Molly sieht ebenfalls hoch. Winkt.
Die beiden küssen sich, ohne mich aus den Augen zu lassen. Ich kann das Glitzern in Mollys Augen erkennen. Die Küsse reichen ihnen nicht mehr – sie fangen an, sich gegenseitig zu streicheln, sich über die nackte, glatte Haut zu fahren. Sehen mich zwischendurch weiter spöttisch an.
In meiner Kehle formt sich ein stummer Schrei, findet keinen Ausweg. Droht, mir den Hals zu zerfetzen.
Neben mir höre ich eine leise Stimme: ‚Eine einzige Seele, Corker? Eine einzige nur, und du gewinnst.‘
Ein ersticktes Wimmern steigt in mir auf, schluchzend drehe ich mich auf den Rücken. Weinkrämpfe erfassen meinen Körper, schütteln ihn durch. Mein Kopf hängt über die Klippe nach unten. Ich presse die Lider zusammen, um den Schmerz zu bekämpfen, um zu verhindern, dass ich in tausend Teile zerspringe.
Das helle Lachen des Leprechauns und der beiden Mädchen begleitet mich, dringt mir in die Knochen, in jede Faser meines Körpers. Die Möwen stimmen darin ein.
Mit einem Würgen schrecke ich auf dem Bett hoch.

Im Zimmer dämmert es bereits. Ich laufe ins Bad, als Übelkeit in mir aufsteigt. Nachhall des Traumes, oder echt, kann ich nicht sagen. Hänge mich über die Kloschüssel, würge mehrmals trocken. Es kommt nichts.
Angeschlagen gehe ich zum Waschbecken, spüle mir den Mund, wasche Hände und Gesicht. Trinke frisches Wasser, um den üblen Nachgeschmack loszuwerden. Es gelingt mir nicht.
Als ich zurück ins Zimmer trete, erwarte ich halb, den Zwerg dort auf dem Bett sitzen zu sehen. Es schüttelt mich. Komme mir vor wie in einem schlechten Horrorfilm.
Auf dem Bett liegt nur mein Handy. Ich nehme es hoch, rufe den Nummernspeicher auf, suche ihre Nummer. Rufe an.
Nach dem dritten Klingeln nimmt sie ab. ‚Hallo?‘
‚Hey Anne. Ich bin’s.‘
‚Corker.‘
Ich will die Worte nicht sagen, die Antwort nicht hören, zwinge mich. ‚Wie geht es ihr?‘
Anne zögert einen Moment, bevor sie antwortet. ‚Sie schläft. Der Doc sagt, sie kommt durch. Lungensteckschuss, der andere ging in die Bauchhöhle.‘
Ich verziehe das Gesicht – beides sind beschissen schmerzhafte Verletzungen. Aber was hatte ich erwartet? Streifschüsse? ‚Sie kommt durch?‘
‚Sieht so aus‘, erwidert sie trocken. Fügt nach einem Moment mit weicher Stimme hinzu: ‚Danke, Corker.‘
Scheiße, wofür? Dass ich Molly mit auf die Insel genommen hatte? Dass ich sie in den Kugelhagel gestoßen hatte? Ich wünschte, Anne hätte das nicht gesagt. Meine Selbstbeherrschung beginnt, sich in Wohlgefallen aufzulösen. Gleich heule ich los wie ein Schulmädchen.
Mit belegter Stimme beginne ich: ‚Anne, ich …‘
‚Ssssshhhhh. Hör auf! Das würde Molly nicht hören wollen. Und ich auch nicht.‘
Als Antwort schweige ich, kaue auf meiner Lippe.
‚Wenn du willst, kannst du sie in ein paar Tagen besuchen. Ich bin sicher, sie freut sich.‘
Ich verabschiede mich mit einer unverbindlichen Zusage, klappe das Handy zu.
Bilder von Molly in weißen Laken und weißen Verbänden schieben sich in meinen Kopf. Vermischen sich mit dem toten Gesicht des kleinen Goth-Girls.
War es das, was der Scheiß-Kobold wollte? Bist du jetzt zufrieden, du kleine Pissnelke?
Das leere Zimmer, in mildes Dämmerlicht getaucht, antwortet mir nicht.

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Kommentare zu diesem Text

Kitten (36)
(13.11.09)
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 Mutter meinte dazu am 13.11.09:
Wahrscheinlich würde er sich stattdessen lieber mit einem halben Dutzend Russen in Duisburg prügeln - der olle Feigling.

*augenroll*

:D

 Mutter antwortete darauf am 13.11.09:
Ich habe übrigens nach Deiner Bemerkung in der Mitte einen ganzen Absatz rausgeschmissen. Viel kürzer kriege ich es aber glaube ich nicht, ohne 'Filet' zu verlieren. :-/
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