Lomographie

Erzählung zum Thema Unruhe

von  Mutter

Zwei Tage später gehe ich über den dunklen Hinterhof, nur spärlich erleuchtet durch eine brizzelnde Neonröhre, die über dem Eingang zum Seitentrakt hängt. An einer verbleibenden Schraube hängt, bereits auf dem Weg nach unten. Ich schiebe mich durch den Türeingang, steige die schmale Holztreppe nach oben. Der Übergang zum Boden oben ist durch einen schwarzen Vorhang abgehängt, so dass die Stiege in tiefes Dunkel getaucht ist.
Macht mir nichts – seit drei Jahren gehe ich fast jeden Donnerstag diese Stufen nach oben, auf dem Weg zur Gesellschaft der Lomographiker.
Angefangen hatte das Ganze als Treffen von Foto-Enthusiasten, die sich gegenseitig ihre Fotos auf einem alten Diaprojektor gezeigt hatten. Vier, fünf Leute – Mick hatte mich mal mitgenommen.
Irgendwann hatte jemand vom Flohmarkt in Treptow eine 8-Millimeter-Maschine angeschleppt, und die meisten von uns hatten begonnen, in Super-Acht zu drehen. Und dann donnerstags unsere eigene Wochenschau kreiert. Im Laufe der Zeit hatten sich die Inhalte verändert. Was anfangs noch kulturell anspruchsvoll und oft politisch motiviert war, wandelte sich zu dadaistischem Nonsens und endete in den vergangenen Monaten bei echten Filmen. Kurzfilmen, mit Handlung und dem Anspruch der Unterhaltung.

Letztes Jahr hatte sich Gabi eingeklinkt. Der wusste von der Gesellschaft, hatte sich oft genug darüber lustig gemacht - uns die ‚Dead Lomos Society‘ genannt. Das Projekt hatte ihn allerdings nicht losgelassen, hatte mich immer wieder darauf angesprochen. War an einem Donnerstag im Sommer einfach mitgekommen – ich hatte es nicht geschafft, mich zu wehren. Obwohl ich wusste, dass es Mick nicht gefallen würde. Der war damals wichtiger Motor bei der Gesellschaft. Nach dem ersten Mal kam Gabi noch öfter, brachte sich sogar selbst mit Filmen ein und stieg im Herbst mit in das Planungskommitee ein. Zu der Zeit umfasste die Gesellschaft fast zwanzig aktive Mitglieder und zu den Abenden auf dem Trockenboden donnerstags kamen manchmal sogar noch mehr. Mick stieg zwei Wochen später aus und ist seitdem kein einziges Mal mehr bei den Lomographikern gewesen.

Ich stoße den schweren Vorhang zur Seite und schiebe mich daran vorbei auf den Trockenboden. Der weiße Strahl des Projektors durchsticht bereits die trägen grauen Schwaden, die sich auf dem Weg nach oben befinden. Durch die niedrige Decke reichen ein, zwei Raucher aus, um einen Effekt ähnlich einer Special-FX-Rauchmaschine zu entwickeln. Hinter der provisorischen Bar sind die einzigen anderen Lichter des Raumes, der dadurch in eine schummrige Knutschatmosphäre getaucht wird. Versuche mich zu orientieren. Ole, der gerade Saft in hohe Gläser eingießt, hebt die Hand, ohne noch einmal aufzusehen. Gabi kommt mit einem Arm voller Bierflaschen hinter der Theke hoch, grinst mich an. Ich nicke abwesend zurück, mein Blick gleitet rüber zu den Sofas.
Der gesamte Trockenboden ist mit alten Möbeln vom Sperrmüll vollgestellt – Zweisitzer, Dreisitzer und einzelne, fette Sessel. Alles Unikate, nicht ein Stück gleicht dem anderen. Und eine Stauballergie darf auch keins von unseren Mitgliedern haben. Aber manche von ihnen sind unglaublich bequem, und ich bin froh, dass ihnen hier auf dem Boden die Chance auf ein Gnadenbrot gegeben wird.
Die meisten von uns haben Lieblingsplätze – Möbel, deren Sitzflächen sich schon den Konturen unserer Ärsche angepasst haben. Für mich gab es zwei davon – ein pompöser Ohrensessel außen links, in den ich mich fläze, wenn ich alleine hier bin. Und ein kleines Sofa, dessen Farbe ursprünglich mal ein dunkles Rot gewesen sein mochte, in den ich mich mit Julia kuschele, wenn wir zusammen da sind. Eben erhebt sich eine Silhouette aus unserem Sofa und eine Sekunde später streifen Julias Lippen sanft meine in einer unsicheren Begrüßung. Wir hatten nachmittags telefoniert – sie wollte wissen, ob wir uns heute Abend sehen. Mick hatte weder sie noch ich erwähnt, und trotzdem spüre ich, wie der Kerl praktisch zwischen uns steht. Dafür sorgt, dass nur ein Hauch ihrer Lippen bei mir ankommt.
‚Alles okay?‘, will sie wissen. Und weiß, dass nichts in Ordnung ist.
Ich nicke.
Ihre Hand greift im Dunklen nach meiner, zieht mich sanft mit sich. Zum Sofa. Für einen Moment will ich mich wehren, mich lieber in den Ohrensessel setzen – heute Abend alleine hier sein.
Das verkneife ich mir. So weit ist die Schräglage nicht – dass sie einen echten Streit rechtfertigen würde. Stattdessen werden wir die stumme Atmosphäre, den dunklen Raum und unsere Aufmerksamkeit, die stur nach vorne gefesselt werden wird, dazu nutzen, einen Abend zusammen zu verbringen. Ohne emotionale Berührungspunkte – wie praktisch.
Ihre Finger streicheln meinen Handrücken, wandern auf mein Bein. Liegt dort warm und weich, würde mir ein angenehmes und ruhiges Gefühl vermitteln. Wenn meine innere Unruhe nicht so groß wäre, dass ich diese regungslose Hand dort kaum ertrage.

Unsere Beziehung besteht darin, dass sie den Ruhepol, das Auge des Orkans darstellt. Ich weiß, dass ich bei ihr Frieden finden, zur Ruhe kommen könnte. Wenn ich könnte.
Stattdessen bin ich mit Weglaufen beschäftigt. Leider bin ich total Scheiße darin, und so treibt es mich aus den Ausläufern meines emotionalen Orkans immer wieder zurück in ihre Oase der Ruhe. Schaffe es doch nie, dort zu bleiben. Bewege mich von ihr fort, zentimeterweise, bis mich die Fliehkraft erfasst und wegreißt.
Ich zwinge mich, meine Hand auf ihre zu legen, sie zu berühren. Dankbar pressen ihre Finger meine, die sich zwischen sie schieben. Ich wünschte, Julia wäre schwach genug, mich einfach davon taumeln zu lassen. Ole hinter der Bar dimmt die Lampen ab, jetzt gibt es nur noch das faserige Lichtschwert des Projektors, das über unseren Köpfen schwebt.
Aus dem Augenwinkel nehme ich wahr, dass sie zu mir herübersieht, ein heller Fleck in der Dunkelheit. In meiner Dunkelheit.

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (26.01.10)
"verbkneife"?

Ansonsten: Nicht schlecht. Mal keine DirtyHarrys und keine FemmeFatals. Nur am Anfang hast Du mit den ganzen Lomo- und Filmprojekten neugierig gemacht, dann aber ganz im Beziehungsbahnhof eingefahren...

 Mutter meinte dazu am 26.01.10:
Danke für das 'b' ... :)

Naja, der Textteil dient vor allem zur weiteren Charakterisierung der Protagonisten. Muss ich mal schauen, ob ich die Verknüpfungen noch anders weben kann.
Vielleicht darf ich am Anfang auch nicht so neugierig machen ... ;)
(Antwort korrigiert am 26.01.2010)
Georg (54)
(26.01.10)
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 Mutter antwortete darauf am 26.01.10:
Das ist ein schöner Kommentar, danke.
Und ja, was Du beschreibst ist die Richtung, die es bekommen soll.
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