Normal Null

Erzählung zum Thema Lüge(n)

von  Mutter

Ich vermische den Salat in der Schüssel, greife zu dem Schälchen, in dem ich die Soße gemacht habe. Von hinten tritt Julia an mich heran, schlingt mir die Arme um die Hüfte. Ihr Kopf lehnt an meinem Oberarm, wir schwanken. Mit einem Lachen mache ich mich los, bevor wir beide fallen, drehe mich zu ihr um, um sie sanft auf die Lippen zu küssen.
‚Danke‘, sagt sie zart, als ich mich wieder löse.
‚Schon gut.‘ In einer Viertelstunde kommen Olli und Kristina. Julia hatte vorgeschlagen, sich mal wieder mit den beiden zu treffen. Vermutlich mit einer lahmen Ausrede von mir gerechnet. Ich hatte sie überrascht – vorgeschlagen, die beiden zum Essen einzuladen. Ursprünglich war meine Idee gewesen, das Essen bei mir zu machen – als quasi Komplett-Angebot, aber Julia hatte die beiden zu sich bestellt.
Mir auch recht – spare ich ein paar Stunden Zeit, aufzuräumen.
‚Hast du den Ofen im Auge?‘, will sie wissen. Ich bestätige – im Adlerauge. Trotzdem reißt sie nervös die Tür des Herds auf, sieht nach den blassen Blätterteigtaschen.
Wenig später sitzen wir zu viert am gedeckten Tisch, Julia verteilt Rotwein in die Gläser von sich und den anderen beiden. Ich halte mich an meiner Flasche Bier fest.
Die zwei hatten mich überschwänglich an der Tür begrüßt – so, als hätten sie mich seit Monaten nicht mehr gesehen.
‚Wo hast du gesteckt?‘, will Olli wissen. Schiebt sich eine Gabel voll Teigtasche in den Mund. Ich zucke mit den Schultern, lächel. Kommt es nur mir gequält vor?
‚Ich war jedenfalls nicht weg‘, ist meine Antwort. Innerlich verteile ich großzügig Backpfeifen an mich selbst. Es war meine Idee, sage ich mir selbst. In meinem Kopf klinge ich wie meine Mutter. Vielleicht würde ich es schaffen, diesen Abend durchzustehen, ohne den asozialen Affen herauszukehren. Ein einziges Mal! Ich muss lachen, während ich die innere Standpauke auf die Spitze treibe.
Die anderen sehen mich verwundert an. Kristina hat gerade etwas über ihren Vermieter erzählt. Glaube ich.
‚Tschuldigung‘, murmel ich, trinke. Mein offensichtlicher Aussetzer wird ignoriert, Kristina nimmt die Erzählung wieder auf.
In den nächsten paar Stunden reiße ich mich tatsächlich zusammen. Nachdem ich auf dem Klo eine Dosis Perazin geschluckt habe.
Ich höre zu, nicke immer wieder, aufmunternd, verständnisvoll oder bejahend, je nachdem. Lache an den richtigen Stellen, frage, wenn mir etwas unklar ist. Erzähle die eine oder andere Anekdote von Mick oder Juri. Gabi lasse ich da raus – obwohl er den meisten Stoff für Abendunterhaltung bietet, will ich keinen Konflikt heraufbeschwören. Alles, was ich erzähle, kennt Julia bereits. Ich habe nichts Neues zu berichten. Von dem ich will, dass sie es erfährt. Aber sie freut sich augenscheinlich über meine Bemühungen. Lächelt mich an, streichelt manchmal unter dem Tisch mein Bein. Legt ihre Hand auf ihre, das ist mein Zeichen, sie anzusehen, zu lächeln. Weil wir uns lieben.

Irgendwann ist der Abend zu Ende, die Teller leer, die Bäuche voll. Julia und ich verabschieden unsere Gäste angetrunken an der Haustür mit viel zu langen Umarmungen. Als die Tür ins Schloss fällt, wendet sich Julia mir zu. Ich weiß, dass meine Pflicht noch nicht getan ist. Ich noch nicht genug Normalität vorgespielt habe. Dazu müssen wir erst noch zusammen ins Bett gehen. Für einen panischen Moment frage ich mich, ob das Perazin noch wirkt. Der Flur dreht sich um uns beide, sie ist fest in meine Arme eingeschlossen. Ihre Lippen auf meinen. Aber es ist bloß der Alkohol, der mich schwindelig fährt. Meine Blase drückt.
Sie geht auf Abstand, sieht mich an. ‚Ich liebe dich, Jakob.‘
Ich liebe dich auch, Julia. So sehr, dass an mir zieht, mich fast zerreißt. Wie gerne würde ich für dich alles tun, was du dir von mir wünschst. Ich würde mit dir in die Bretagne ziehen, dir ein halbes Dutzend Kinder machen und ein liebevoller Ehemann und Vater sein. Das würde ich wirklich wollen.
Wenn ich könnte. Wenn ich die Luft im Basislager atmen könnte, wenn Normal Null mich nicht umbringen würde.
Mit einem schiefen Lächeln reiße ich mich zusammen, küsse sie statt einer Antwort auf die Lippen. Ihre Zunge streichelt meine, dringt sanft in meinen Mund ein. Wird fordernder.
Ich freue mich darauf, mit ihr ins Bett zu gehen, mein Puls beschleunigt sich. Und trotzdem werde ich mich morgen früh unglaublich frei fühlen, wenn ich ihre Wohnung wieder verlasse. Warum ist das so?
Ineinander verkeilt wanken wir in Richtung Schlafzimmer, stoßen uns immer wieder mit der einen oder anderen Hand an den Wänden ab, um einen Crash zu verhindern. Ich versinke in ihrem Duft. Für den Moment schüttel ich meine Ängste ab, werde ich. Bin der Jakob für sie, den sie sucht.

Am nächsten Morgen findet sie mich bereits wach am Tisch sitzend vor. Ich kritzel mit eiliger Schrift etwas auf einen Zettel. Sie kommt, um mich zu küssen. Wir schmecken beide noch nach letzter Nacht, nicht nach frischer Minze. Widerstrebend und mit einem Seufzer löst sie sich von mir, wuschelt mir durch die Haare und geht, um Wasser aufzusetzen.
‚Was schreibst du?‘, will sie mit dem Rücken zu mir wissen.
‚Nur ein paar Sachen, die mir gestern eingefallen sind. Die Rother will, dass ich mir so Dinge aufschreibe – meint, die könnten wichtig sein.‘
Meine Gewissenhaftigkeit beeindruckt sie. Sie findet gut, wenn ich mir Mühe gebe. Auf dem Weg, die Kaffeefilter zu holen, küsst sie mir auf den Kopf. Mit einem Anfall von schlechtem Gewissen falte ich den Zettel, stecke ihn weg.
In meiner nächsten Sitzung mit Frau Doktor wird er vorher mein Spickzettel sein. Er wird dafür sorgen, dass ich den Termin so problemlos hinter mich bringe wie ein Achtzehnjähriger das Abi, obwohl er die gesamte Sekundarstufe verschlafen hat. Auf diesem Zettel steht alles, was gestern Thema war. Lustiges, Trauriges, Erfundenes – die geballte Ladung. Und er ist so wichtig für mich, weil er zwischen zwei Terminen bei Frau Doktor möglicherweise die einzige Dosis Normalität darstellt, die ich ihr gegenüber vorweisen kann. Die geballte Ladung eines Abends, die ich überzeugend auf einen Zeitraum von zwei Wochen strecken muss.

Nach einem ausgiebigen Frühstück diskutieren wir kurz darüber, ob wir gemeinsam auf den Flohmarkt gehen sollen. Ich spiele meine Rolle gut. Führe an, dass die Markthallen in Treptow auch nicht mehr das sind, was sie mal waren. Und dass ich Mick schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen habe. Mir Sorgen machen würde. Julia würde gerne noch Zeit mit mir verbringen, hat ihrer Mutter allerdings versprochen, einen Artikel für sie Korrektur zu lesen. Ich ermutige sie, ihrer Verpflichtung nachzukommen. Verzichte dazu sogar auf meine Julia. Nach zehn Minuten Diskussion und mehreren mittleren Kussorgien im kleinen Zimmer, dem Flur und dem Hausflur gehe ich die Treppe hinunter. Hebe die Hand ein letztes Mal zum Abschied, bevor sie die Tür schließt.
Ein unendliches Gewicht fällt von mir ab. Weil ich endlich anfangen kann so zu tun, als sei ich kein unendliches Arschloch. Kaputt und ein Trümmerhaufen, an dem die Suchhunde längst kein Interesse mehr haben. In dem es keine Hoffnung mehr auf Leben geht.
Ich kann wieder so tun, als sei die dünne Luft der Fünftausender, die ich zum Atmen brauche, eigentlich auf Höhe des Meeresspiegels. 
Normal Null.
Mir ist speiübel und ich ignoriere die sonnendurchfluteten Bäume entlang des Kreuzberger Kopfsteinpflasters, als ich nach Hause gehe.

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