Schwindel

Erzählung zum Thema Verlorenheit

von  Mutter

Als ich die Wohnungstür hinter mir zuziehe, ist mir klar, dass ich in nächster Zeit kaum hierher zurückkommen werde.
Ich habe Julia belogen. Weil ich nicht vorhabe, irgendetwas hinter mir zu lassen, nicht vorhabe, einfach wegzugehen. Ich will es beenden. Will erhobenen Hauptes aus der Sache herauskommen – statt mit eingezogenem Schwanz davon zu laufen.
Auf dem Weg zu meinem Rad lockere ich die Schultern, als müsste ich mich warmmachen. Wie ein Boxer auf dem Weg zum Ring. Voller Vorfreude erfasst mich ein Gefühl fiebriger Erwartung. Es ist der alte Kitzel, der von mir Besitz ergreift. Der mir Angst machen sollte – weil ich weiß, wie gefährlich er ist. Alle Furcht fällt von mir ab.
Ich hänge mich an Gabi. Begleite ihn morgens früh nach dem Aufstehen zu einem der Büros. Warte, bis er es verlässt. Durchsuche die Büroräume. Dringe in seine Wohnung ein, manchmal mehrmals am Tag. Durchwühle seine Post, seinen Müll, seine Wäsche.
Beobachte ihn, wie er sich mit Corben und Blocher trifft. Mit Stecher und Benz. Wie er die Agentur leitet, wie er abends mit einem der Mädchen von Pussy Deluxe  ausgeht. Verfolge die beiden zu seiner Wohnung, und als oben die Schummer-Beleuchtung angeht, schlüpfe ich durch seine Haustür.
Das Herz schlägt mir mittig im Hals, ich traue mich nicht, zu schlucken, aus Angst, ich könnte mich verraten. Höre die beiden im Zimmer nebenan – sie stöhnt, er grunzt. Ich werfe einen Blick um die Ecke, sehe ihre Schattengestalten an die Wand geworfen. Sie sitzt auf seinem Schoß.
Ich gehe in die Küche, öffne den Kühlschrank. Trinke von einer Flasche Cola, gönne mir noch mal grinsend den Anblick der beiden, verlasse die Wohnung.
Die ersten paar Tage schenke ich meinem Handy kaum Beachtung. Verschiedene Anrufe in Abwesenheit. Dann lasse ich es bei einem meiner seltenen Besuche in der Wohnung zurück. Nicht erreichbar.
Ich besuche Mick. Aber ich betrete das Krankenhaus dabei nicht. Stehe unten am Ufer, werfe einen Blick zum Urban hoch, das monströs in den dämmrigen Himmel ragt. Ahne, wo sich ungefähr sein Zimmer befinden muss. Halte stumme Zwiesprache.
Auch Juri wird Teil meiner Welt. Ich verbringe zwei Nachmittage in seiner Wohnung, versuche, Briefe auf Kyrillisch zu entziffern, trinke seinen Kaffee. Ich rede mit mir. Er ist nicht da.
Zwischendrin flackert meine Wahrnehmung – plötzlich sitzt da Mischa auf dem kleinen Teppich in Juris Zimmer. Ich lache ihn aus. Das hier ist nicht dein Film. Mein hohles Kichern erschreckt mich selbst, fluchtartig verlasse ich Juris Wohnung.

Ich sage meinen nächsten Termin bei Frau Doktor ab. Mir ist völlig klar, dass ich keine Chance habe, Normalität bei ihr zu heucheln. Nicht mal, wenn ich ein ganzes Arznei-Schränkchen voller Medikamente schlucken würde. Ich erzähle der Sprechstundenhilfe am Telefon etwas über eine fürchterliche Magen- und Darm-Grippe, über Übelkeit und Gliederschmerzen. Ich nehme an, die sind ganz froh, mich nicht sehen zu müssen.
Langsam fange ich an, den Überblick zu verlieren. Weiß nicht mehr, welcher Wochentag, welche Uhrzeit es ist. Manchmal schlafe ich völlig übermüdet ein, meistens, wenn ich kurz bei mir zu Hause aufschlage. Wache auf, brauche endlos lange, um zu verstehen, wo ich bin. Wer ich bin.
Einmal rufe ich leise nach Mischa, als ich aus einem Wachtraum hochschrecke. Er ist mir im Traum begegnet, stand vor mir. Direkt am Bahnsteig. Er sah zufrieden aus. Möglicherweise habe ich ihm einen Gefallen getan. Julia war auch anwesend, in meinem Traum. Aber ich habe ewig gebraucht, bis ich sie erkannt habe.
Jetzt ist gerade einer dieser Momente. Es dämmert im Zimmer, ich weiß nicht: Ist es früh morgens, oder geht es gegen Abend?
Groggy stemme ich mich vom Sofa hoch. Das Bett hatte ich seit mindestens einer Woche nicht mehr benutzt. Meins jedenfalls nicht. Vage erinnere ich mich, dass ich irgendwann auf einer Matratze am Boden saß. Ganz kurz nur. Ich wollte verschnaufen.
Dabei muss ich eingeschlafen sein – vermutlich nicht lange, aber das Ganze hat mir einen Schrecken eingejagt. Ich bin der Schatten. Ich verfolge. Sich schlafend in einer Wohnung finden zu lassen, passt nicht in dieses Bild.
Ich habe danach eine kurze Auszeit genommen. Mich gezwungen für eine Weile in der Wohnung zu bleiben, etwas zu essen. Zu duschen. Damit ich mich nicht dauernd gegen den Wind anschleichen muss, dachte ich mit einem Grinsen, als ich unter das heiße Wasser stieg.
Aber ich bin ruhelos. Kann nicht anders, muss raus auf die Straße. Warum, weiß ich nicht. Ich weiß nicht, was ich zu finden hoffe.
In letzter Zeit ist es unruhig geworden - Gabi plant ein neues Filmprojekt. Er trifft sich ab und zu mit Menschen, die nichts mit der Agentur zu tun haben. Einen kenne ich – Filmstudent aus Babelsberg. Er bringt Freunde mit, manchmal welche, die ich schon gesehen habe, oft völlig Unbekannte. Sie reden und trinken Milchkaffee und planen und trinken mehr Milchkaffee. Ich umkreise ihre Taco-Bars, ihre Cafés und ihre Cocktail-Lounges wie ein hungriger Wolf den Schafspferch. Will meine Zähne in weiches Fleisch schlagen. Ich glaube, Blocher ist wieder weg. Den habe ich schon ein paar Tage nicht mehr gesehen.
Thalmann wollte sich mit mir treffen. Der hat mich tatsächlich mal am Telefon erwischt. Ich glaube, es war das Festnetz. Habe ihn abgewimmelt – er soll geduldig sein. Bin ich geduldig? Ich werfe einen schnellen Blick zu den drei Gestalten hinter der großen Glasfront hinüber. Gabi, Marlene – auch eine aus Babelsberg, er war schon mit ihr im Bett – und Claudius. Sein Regisseur. Nein, ich bin nicht geduldig – aber mir bleibt keine andere Wahl.
‚Es tut mir leid, Sie können hier nicht durch‘, herrsche ich ein Pärchen an. Die Frau sieht mich verdutzt an, schickt einen visuellen Hilferuf an ihren übergewichtigen Begleiter.
‚Entschuldigung‘, murmel ich, drehe mich weg. Für einen Augenblick war ich mit Mick am Set. Beim Blocken. Hinter mir läuft irgendwo unruhig Til Schweiger rum, beschwert sich über zu fettige Bratkartoffeln. Wie lange ist das her?
Tage?
Wochen?
Monate?
Ich krame das Handy raus, will Mick anrufen. Der weiß das. Der muss wissen, wann das war. Es ist wichtig.
Er geht nicht ran. Ich stecke das Handy zurück in die Tasche. Liegt Mick nicht noch im Krankenhaus? Ich erinnere mich matt an ein großes Gebäude – ist dass das Krankenhaus? Was macht er da?
Ich krame das Handy raus, will Mick anrufen. Ihn fragen, was er im Krankenhaus macht. Aber ich habe seine Nummer vergessen. Lasse das Telefon wieder in die Tasche rutschen. Alles schnürt mir die Luft ab, atemlos schaue ich hoch, verzweifelt.
Keuche so laut, dass ein junger Mann neben mir erschrickt. Alles dreht sich. Eine Stimme in mir drin sagt: Du verlierst die Kontrolle, Jakob. Ich beuge mich vornüber, muss würgen. Nichts kommt.
Langsam und unter Schmerzen richte ich mich wieder auf. Fange an zu grinsen. Ich habe die Kontrolle längst verloren. Und ich will sie auch nicht wiederhaben. Soll Frau Doktor damit glücklich werden.
Mit unsicheren Schritten suche ich mir meinen Weg zurück zu meinem Rad. Finde es nicht. Mir fällt auf, dass ich seit Tagen nicht mehr mit dem Fahrrad unterwegs bin. Nur noch mit der BVG. Nachdem ich irgendwann furchtbar gestürzt bin. Verwirrt hebe ich meine Hände – betrachte den dunkelbraunen Schorf auf beiden Handflächen. Ich weiß nicht mehr, was genau passiert ist. Vielleicht war das gar nicht ich, der dort gestürzt ist.
Ich orientiere mich neu, schaue mich nach dem blauen Symbol der U-Bahn um. Aber als ich es gefunden habe, in die richtige Richtung laufe, habe ich längst vergessen, wohin ich fahren wollte.
Vielleicht bin das gar nicht ich, der hier läuft, denke ich. Gehe weiter.

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Kommentare zu diesem Text

Kitten (36)
(09.03.10)
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 Mutter meinte dazu am 09.03.10:
"Manchmal frage ich mich, ob du gewisse Erfahrungen, die du deinen Charakteren antextest, schon selber gemacht hast... "

Das ist ja wohl mal eins der größten Komplimente, die ein Text bekommen kann. :)

Danke.

Und: Nein.
Jedenfalls ... nicht so.
Kitten (36) antwortete darauf am 09.03.10:
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