Rücksturz

Erzählung zum Thema Orientierung

von  Mutter

Ich weiß nicht, wie lange ich dort auf dem Boden sitze und weine. Immer wieder kommt jemand, fragt, ob alles in Ordnung sei. Sobald klar ist, dass ich nicht betrunken bin, keine sofortige medizinische Hilfe nötig habe, lassen sie mich in Ruhe. Ich nehme an, besoffen wäre ich ihnen lieber – immerhin sieht man das oft genug.
Irgendwann raffe ich mich auf – schiebe mich auf alle Viere, so dass meine Knie über den Boden schrammen, stemme mich hoch. Das erinnert mich daran, wie ich mich gefühlt habe, als mich Corben fertig gemacht hat. Nur dass der mich nicht kleinbekommen hat – für Gabi war das kein Problem. Er hat recht. Nicht mal das schaffe ich, ich bin nicht besser als Mick. Nachdenklich betrachte ich meine dreckverkrusteten Hände. Keine Brandspuren. Immerhin.
Ich bin mir nicht sicher, wie ich meinen Weg aus dem U-Bahnschacht finde. Komme mir vor, wie jemand, der durch endlose Gänge durch ein Bergwerk irrt, auf der Suche nach Tageslicht. Muss an eine Geschichte aus meiner Jugend denken – wer stirbt in einem Felslabyrinth? Tom Sawyer? Huckleberry Finn? Einer von den Bösen – Muff Potter vielleicht, oder der Indianer. Ich glaube, der Indianer war’s. Die Finger blutig gekratzt am Inneren der steinernen Pforte. Ein BVG-Mann betrachtet mich misstrauisch, als ich krächzende Laute mache und die Finger wie Klauen ausstrecke.
Eine letzte Treppe, auf die bereits Tageslicht scheint, dann bin ich draußen. Entkommen. Wem? Mir selbst?
Ich schaue noch mal auf meine Finger – kein Blut. Nur Dreck unter den Fingernägeln. Ich bräuchte eine Dusche. Also versuche ich, den Weg zu mir nach Hause zu finden.

Die nächsten paar Tage stabilisiere ich mich. Ich schlafe, esse und dusche regelmäßig. Als sei ich aus einem langen künstlichen Koma erwacht.
Julias Anrufe ignoriere ich weiterhin. Kann noch nicht mit ihr reden – wüsste nicht, was ich sagen soll. Das Schloss habe ich ausgetauscht, einen neuen Zylinder gekauft. Zwei Mal erwischt mich das schrille Klingeln, nachdem ich das leise Kratzen ihres - ursprünglich meines - Schlüssels an der Tür gehört habe. Das eine Mal drücke ich den Kopf tiefer ins Kissen, ziehe die Bettdecke über mich rüber, das andere Mal stehe ich gerade unter der Dusche. Ich halte den Kopf unter das Wasser, um das Geräusch nicht hören zu müssen.
Danach gibt sie auf, kommt nicht mehr vorbei. Meinen Schlüssel finde ich unten im Briefkasten. Ich habe noch ein paar Anrufe von ihr auf dem Handy, aber nachdem ich die konsequent wegdrücke, hört auch das auf.
Eines Nachmittags, als ich in der matten Sonne am Paul-Linke-Ufer sitze und den Boulespielern am Landwehrkanal zusehe, denke ich tatsächlich kurz über sie nach. Ob das, was gerade passiert bedeutet, dass ich sie verloren habe. Oder ob ich wirklich glaube, dass ich Julia nach Wasauchimmer wieder zurückbekommen könnte.
Ich weiß es nicht. Müde lehne ich mich zurück gegen die Bank, die Augen geschlossen. Fühle die Andeutung von Wärme auf meinem Gesicht. Auf genau dieser Bank hatte ich damals gesessen, als ich mir den Fuß beim Downhill-Fahren gebrochen hatte. Ich war mit Juri und Gabi oben vom Teufelsberg gestartet, und obwohl wir die Strecke sicher bereits ein Dutzend Mal gefahren waren, ist es dabei passiert. Eine Sekunde nicht aufgepasst, eine Blondine, einen Maulwurf oder eine Wolkenformation betrachtet, ich weiß es nicht mehr, und es hatte mich vorne über den Lenker gerissen.
Sprunggelenk. Wochenlang war ich in dem Sommer auf Krücken unterwegs gewesen – und häufig war ich dabei hier am Ufer gelandet. Hatte mich, gerade zu Beginn, als die ungewohnte Anstrengung noch sehr mühsam war, von Brücke zu Brücke weitergehangelt. Und die Bänke zum Ausruhen benutzt. Wie eine alte Frau, die schwere Tüten neben sich abstellt und schnaufend innehält.
Halte ich jetzt gerade inne? Habe ich mein Momentum verloren, und wenn ja – ist das gut oder schlecht?
Stillstand ist der Tod, hatte Gabi immer gesagt. Trifft das auch auf mich zu? Oder war es eher genau andersherum?
Neben mir klimpert ein Flaschensammler im Mülleimer herum. Ich mache die Augen auf betrachte ihn einen Augenblick, aber er schenkt mir keine Beachtung. 
Genauso wenig wie ich weiß, ob ich mit Julia durch bin, weiß ich, wie mein Stand mit dem Fight-Club ist. War’s das? Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan?
Vielleicht kann ich meine Hilflosigkeit, die Tatsache, dass ich ohnehin nichts tun kann, in Rechtschaffenheit verwandeln. In das Gefühl, alles getan, alles versucht zu haben, was in meiner Macht steht. Ich verziehe das Gesicht – habe ich das?
Früher wollte ich nur die Angst loswerden, hätte alles dafür getan. Jetzt würde ich gerne auch die verschissene Hilflosigkeit drangeben, die an mir zu kleben scheint.
Pechmarie.

Ich bringe meinen Scheiß in Ordnung. Kümmere mich um die Wohnung, rufe bei der Frau Doktor an, vertröste sie. Lasse mir einen Termin für nächste Woche geben. Bis dahin habe ich mich wieder komplett im Griff. Und bin über mich selbst erstaunt, wie normal und gelassen ich am Telefon klinge. Als wäre alles in Ordnung.
Juri schickt mir eine SMS. Fragt, ob alles gut ist. Er mache sich Sorgen. Der Arsch. Ich lösche die Nachricht, ohne zu antworten.
Mick meldet sich ebenfalls. Seinen Anruf nehme ich entgegen, ohne ihn wegzudrücken. Wir sind quasi Leidensgenossen – beide unfähig und gestürzt. Cruisin‘ for a loosin‘ …
‚Was liegt an?‘, frage ich mit brüchiger Stimme. Sie fühlt sich ungewohnt und falsch in meinem Mund an – wahrscheinlich habe ich sie einfach nur zu lange nicht benutzt.
‚Die Kanter-Höfen haben am Wochenende einen Tag der Offenen Tür.‘
Der Trockenboden liegt in den Höfen. ‚Die Lomographiker auch?‘
‚Ja. Ein paar von den Jungs haben eine Camera Obscura gebaut, ein Riesenteil, und wollen das zeigen.‘
‚Was interessiert dich das? Denke, du bist da raus?‘
Er zögert, antwortet nicht sofort. ‚Ich will da wieder einsteigen. Gabi hat mich rausgedrängt – es war nicht meine eigene Entscheidung.‘
Ich nicke stumm. Kann das Gefühl nachvollziehen. ‚Was ist mit Gabi? Macht der was?‘
Auch diesmal sagt er nicht sofort etwas. Als hätte er Angst, mir was von ihm zu erzählen. Als dürfte man seinen Namen nicht laut aussprechen.
‚Ich glaube, das er eine große Show abziehen will. Mit dieser Stunt-Geschichte, und seinen Schwarz-Weiß-Filmen. Juri meinte, er bringt seinen Stuntheini aus Babelsberg mit.‘
Klar dass Gabi sich so einen Tag nicht entgehen lässt.
‚Was ist mit dir? Kommst du?‘
Jetzt bin ich es, der zögert. Will ich Gabi sehen? Versuche, mir das mögliche Treffen auszumalen. Sofort schieben sich Bilder vom Bahnsteig davor – sein Gesicht direkt an meinem, sein harter Blick. Tränenschleier.
Ich schüttel die Gedanken ab. Das war was anderes. Ich war labil. Habe mich längst wieder gefangen. Von der Begegnung wird es keine Wiederholung geben.
‚Ja, ich komme auch.‘ Wäre doch gelacht, füge ich in Gedanken dazu. Lasse mich von dem Pisser nicht weiter einschüchtern.
‚Okay – wollen wir uns vorher treffen?‘
Sein Vorschlag klingt harmlos, aber er erleichtert mich. Wir wissen beide, dass wir da nicht alleine hinwollen. Angeschlagen wie wir sind. Vielleicht können sich die beiden Einbeinigen so gemeinsam stützen.
Wir verabreden uns am Görlitzer Bahnhof und beenden das Gespräch. Tun so, als würden wir uns beide auf das Wochenende freuen. Als würden wir nicht dort hingehen, um unsere Kämpfe auszufechten – unseren Ängsten zu begegnen.

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Kommentare zu diesem Text


 mondenkind (12.03.10)
was ich so mag an deinen texten ist, dass man sie, obwohl sie ja zu einem grossen ganzen gehören, auch als einzeltexte lesen und begreifen kann. das beruhigt mich, als spontanleserin, ungemein.
und jedesmal überlege ich, wie es wäre, wenn ich wirklich die ganze geschichte bis hierher kennen würde.. nun, wer weiss?
indianer joe heisst er übrigens. der zwielichtige schuft vom huckelberry. :)
lg und gern gelesen, wie immer.
nici

 Mutter meinte dazu am 12.03.10:
Ja, wer weiß? Eines Tages vielleicht ... ;)

Danke schön.
*knicks*

Und vor dem Indianer Joe habe ich mich damals furchtbar gegruselt. Konnte ich nicht alleine in meinem Zimmer bleiben, nachdem ich von dem gelesen hatte ... :)
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