Dropkick

Erzählung zum Thema Spaß

von  Mutter

Samstag kommt viel zu schnell. Ich hätte nichts dagegen gehabt, wenn er sich noch ein paar Wochen Zeit gelassen hätte. Mit einem mulmigen Gefühl treffe ich Mick im Schatten der Bahn am Görlitzer. Wir begrüßen uns mit einer stummen Umarmung, gehen schweigend nebeneinander her in Richtung der Kanter-Höfe.
Die Hofeinfahrt ist festlich geschmückt – Girlanden und frisches Grünzeug umrahmen uns, als wir eintreten. Im ersten Hof sind links und rechts Stände aus Festzeltgarnituren aufgebaut, es gibt jede Menge Kuchen, Kaffee und Mütter mit ihren selbstgestrickten Kindern. Der Lärm ist ohrenbetäubend – weiter hinten spielt, als Untermalung zu Stimmengewirr und Gekreische, auf einem improvisierten Podest eine Blechband. Bayrische Gypsies. Und über allem liegt wie eine sanfte Decke der Geruch von Gegrilltem.
‚Ich hol mir mal eine Wurst – willst du auch was?‘
Ohne ihn anzusehen schüttel ich den Kopf, scanne die Menschenmassen. Will wissen, wem ich begegnen werde. Gabi, Julia, Juri – es gibt so viele Möglichkeiten, die ich alle nicht so prall finde. Warum bin ich noch mal hier?
Weiter hinten, kurz vor dem Übergang zum zweiten Hof, sehe ich die Camera Obscura. Ein riesiges, eckiges Gebilde aus schwarzen Jurte-Bahnen, wie sie für die großen Pfadfinder-Zelte gebraucht werden, stellt die Dunkelkammer dar. Eine große Holzplatte davor enthält irgendwo die Linse, nehme ich an. Und stellt den gesamten Hof und das bunte Treiben darin, innen an die Wand geworfen dar. Auf den Kopf gestellt.
Ich drehe mich weg, will einen Schritt nach vorne machen, und pralle fast gegen Julia. Für einen kurzen Moment sehen wir uns nur an, ich bin mit trockenem Schlucken beschäftigt. Sie zu sehen, zieht in meinem Innersten. Macht mir das Bedürfnis, sie in den Arm zu nehmen, fest an mich zu drücken und nie wieder gehen zu lassen.
Sie sagt nichts, schaut mich nur an. Die einzige Regung, zu der ich fähig bin, ist es, mein Gesicht zu einem halben Lächeln zu verziehen. So ein verschämtes, das ihr sagt: ich weiß, wie viel Mist ich gebaut habe. Aber ich kann gerade nichts daran ändern.
Julia betrachtet mich noch einen Moment, scheint etwas sagen zu wollen. Schließt die weichen Lippen wieder, nickt fast unmerklich. Und geht an mir vorbei, berührt mich dabei ganz sanft am Ellenbogen. Eine Berührung, die mir Schauer den Rücken hinunter jagt. Ich drehe mich nicht um, weiß, dass sie jetzt vom Hof geht. Unsere Begegnung liegt hinter uns. Wo ist mein nächster Gegner?

Ich finde Gabi auf dem zweiten Hof. Er hat mit seiner Filmstudenten-Crew einen eigenen Stand. Unterhält sich, schüttelt Hände, bekommt die Schulter geklopft und trinkt Sekt. Er sieht mich aus der dunklen Durchfahrt kommen, mustert mich scharf. Schaltet sein Lächeln ein, entschuldigt sich bei zwei Gesprächspartnern. Er kommt auf mich zu, das halb ausgetrunkene Sektglas in der Hand, verneigt sich in einer angedeuteten Verbeugung.
‚Willkommen, der Herr. Was führt Sie in unsere Welt der Wunder?‘
Für einen Augenblick stelle ich ihn mir vor – oben auf einem Planwagen, als Doktor Tiburtius Gabriel, der seine ‚Allergewisslichste Wundertinktur des gesegneten Bonifatius‘ anpreist. Lässt Haare wachsen, heilt alle Krankheiten der Organe, vertreibt Kopfschmerz und Migräne und glättet die Bikinizone. Hier ist mein Geld – zwei Flaschen, bitte.
‚Was macht ihr hier?‘ Es klingt aggressiver, als ich es beabsichtigt habe. Eigentlich wollte ich wissen, was sie mit dem Stand machen.
Gabi lächelt nur, lässt sich von mir nicht aus der Ruhe bringen. Er dreht sich nach hinten weg, winkt jemandem. ‚Hast du Leif schon kennengelernt?‘, will er wissen, als er sich wieder zu mir umdreht. Immer noch mit seinem Quacksalber-Lächeln. Ich verneine stumm.
Von hinten nähert sich ein junger Mann, unser Alter. Beißt mit hochgezogenen Lefzen in eine Bratwurst und grinst uns an. Leif, nehme ich an.
‚Leif ist Stuntman. Er hat mir mit der Schwarzen Serie geholfen.‘
‚Angehender Stuntman‘, korrigiert er Gabi und hält mir seinen Ellenbogen hin. Die Linke hält einen Pappstreifen mit Senf und Toast, die Rechte die Wurst. Ich schüttel pflichtschuldig die Ersatz-Hand.
‚Jedenfalls wäre das alles ohne ihn nicht möglich gewesen.‘
Leif beißt ein weiteres Mal in den gefüllten Darm, legt kurz den Kopf schief.
‚Schwarze Serie sind die Stummfilme?‘, frage ich Gabi, schaue dabei weiter Leif an. Er sieht auf eine kantige Art gut aus. Kurze Haare, den Ansatz eines stylishen Iros, eine dezente Menge Gel. Kiefermuskeln, bei denen man sieht, wie sie sich bewegen – die sind bestimmt gut für einen Stuntman. Schätze, bei dem Job braucht man beeindruckende Kiefermuskeln.
‚Ja. Wir haben gerade den zweiten Teil fertig gemacht. Deswegen sind wir auch hier.‘
‚Was präsentiert ihr?‘
Er zwinkert mir zu. Ich könnte kotzen. ‚Hab noch einen kleinen Moment Geduld – die erste Show haben wir heute Morgen schon hinter uns. Gleich gibt es die nächste – schau’s dir an.‘
Ich nicke. Er schlägt mir kurz auf die Schulter, nimmt Leif mit einer Kopfbewegung mit und die beiden machen einen Abgang. ‚Man sieht sich‘, schießt mir der Stuntman noch rüber, bevor sie sich zurück zu ihrem Stand aus zwei Festzelt-Tischen schieben. Dahinter liegt jede Menge Zeug in Kisten und ein großer Bereich ist mit schwarzen Planen analog zur Camera Obscura abgehängt. Was dahinter ist, kann ich nicht sehen.  Kurz überlege ich, ob ich rüberschlendern und einen Blick riskieren soll, überlege es mir anders. Reicht, wenn ich die beiden Idioten gleich noch mal in voller Pracht sehen werde.
Mein Magen knurrt, aber der Geruch von Bratwurst dreht ihn mir im Schleudergang herum. Vielleicht kann ich hier irgendwo etwas alternativen Kuchen abgreifen - Vollkorn ist bestimmt super für mein aufgewühltes Inneres. Als ich mich umsehe, glaube ich für einen Augenblick, Juri zwischen zwei Punks in den letzten Hof verschwinden zu sehen. Vielleicht auch nicht – Gespenster.

Ich bin auf dem Weg zurück in den zweiten Hof, zwei Stück Kuchen in der Hand, als ich Gabi auf einer Kiste stehen sehe. Vor ihrem Stand hat sich bereits eine kleine Menschentraube gebildet.
Schnell sehe ich mich nach Mick um, kann ihn aber nirgendwo entdecken. Will nicht, dass er die Show verpasst. Möglicherweise das Highlight an diesem so mit Lebenslust geschwängerten Samstagnachmittag. 
Gabi verneigt sich fast runter bis zu seinen übergroßen Schuhen. Er trägt einen schlechtsitzenden Frack und hat einen Zylinder in der Hand. Immerhin hat er darauf verzichtet, eine Melone zu nehmen. Die Leute klatschen, er ist offenbar gerade fertig mit seiner kleinen Rede. Als er von der Kiste steigt, schiebt sich Leif mit herausgedrücktem Bauch in einer viel zu großen Hose auf Gabi zu. Die Daumen in den Hosenträgern, eine Autoritätsfigur. Die beiden streiten stumm- es geht um ein Taschentuch, soweit ich sehen kann. Es wird geschubst, hingefallen, gedroht. Die Zuschauer lachen. Zwischendurch jongliert Gabi mit vier Bällen. Leif stößt Gabi an, hat plötzlich einen brennenden Ärmel, als sein Kontrahent eine Zigarre nach ihm schnippt. Während Leif übertrieben panisch versucht, das Feuer auszuschlagen, nutzt Gabi die Gelegenheit, um kurz durch die Vorhänge nach hinten zu verschwinden. Der Stuntman interessiert mich Null, so dass ich weiter nach Gabi schaue. Er taucht sofort wieder auf.
Leif hat inzwischen das Feuer gelöscht  und wird von Gabi in den Hintern getreten. Väter der Klamotte. Der Babelsberger dreht sich um, stemmt die Fäuste in die Hüften. Droht. Die Kinder jubeln, die Erwachsenen klatschen verspätet für den Stunt mit dem Feuer.
Plötzlich und ohne Ansage springt Leif in die Luft und triff Gabi voll mit beiden Füßen vor die Brust. Gabi fliegt wie von einem Pferd getreten mit einem Knall durch die schwarzen Vorhänge, die sich nahtlos hinter ihm wieder schließen, nach hinten weg.
Stille.
Selbst die Blechband kann ich nicht mehr hören. Leif liegt auf dem Boden, springt auf. Verbeugt sich mit ausgebreiteten Armen, zeigt nach hinten. Die ersten Zuschauer fangen an zu klatschen, der Rest wartet auf das Wieder-Auftauchen von Gabi. Leif dreht sich irritiert um.
Gabi kommt nicht.

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Kommentare zu diesem Text

Kitten (36)
(12.03.10)
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 Mutter meinte dazu am 12.03.10:
:)

Danke. Sehr gut.
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