Hitzeschild

Erzählung zum Thema Unfall

von  Mutter

Ich bin als einer der ersten durch die Planen, dicht gefolgt von Leif. Sein gepresstes ‚Oh mein Gott!‘ und mein Blick, der Gabi findet, fallen in den selben Moment. Gabi liegt seltsam verrenkt an einer der Metallstreben, die nach oben führen und die ganze Backstage-Konstruktion stützen. Es hat ihn mit voller Wucht nach hinten und gegen das Metall gerissen – die drei Seile, die von seinem Rücken wegführen, laufen zu einer Konstruktion aus Stahlstreben, zwei fetten Gasflaschen und etwas, das wie eine Lafette aussieht. Ein Ratchet – Gabi hatte mir davon erzählt. Das Ding hatte ihn mit Wucht nach hinten gerissen – so werden die meisten Stunts gedreht, in denen Leute unvermittelt durch die Gegend fliegen. Nur landen die im Idealfall auf den riesigen Matten, die sich auch hier auf dem Boden und gegen Streben bis in zwei Meter Höhe auftürmen. Irgendwie ist Gabi vom Kurs abgekommen und hat einen Crash hingelegt.
Ikarus.
Gabi stöhnt.
‚Fuck!‘ entfährt es Leif, aber er macht immer noch nichts, steht nur neben mir. Blockiert den anderen Zuschauern, die von hinten nachdrängen, den Weg. Ich setze mich in Bewegung, knie neben Gabi nieder. Aus seinem Mundwinkel läuft Blut. Sein Atem pfeift ganz merkwürdig.
‚Scheiße Mann, was wird das?‘, flüstere ich und nehme seine Hand. Eigentlich will ich reflexartig fragen, ob alles in Ordnung ist. Das spare ich mir. Er reagiert nicht auf meinen Händedruck. Jemand brüllt nach einem Krankenwagen, dann nach einem Handy, wieder nach dem Krankenwagen.
Die Rufe nach dem Sani verselbstständigen sich vor dem Zelt wie ein anarchistischer olympischer Fackellauf – free for all.
‚Kannst du mich hören?‘, frage ich leise, lehne mich vor. Meine Lippen ganz dicht an seinem Ohr. Jede Wette, das mache ich, weil ich es in tausend Filmen gesehen habe. Keine Reaktion. Nicht mal ein Stöhnen. Ich nehme an, das ist kein gutes Zeichen.
Ich weiß nicht, wie lange ich da mit ihm sitze – die Zeit vergeht ganz merkwürdig unreal. Ein paar Sekunden, ein paar Minuten, eine Stunde – ich kann es nicht sagen. Tausend Dinge schießen mir durch den Kopf: Ich habe Gabi noch nie so gesehen. So leblos, so passiv - ganz ruhig.
Das hier ist nicht Gabi, fährt es mir durch den Kopf. Nicht der, den ich kenne. Der echte Gabi steht irgendwo, sieht uns zu und lacht sich ins Fäustchen. Er ist jemand, der seine eigene Beerdigung vortäuschen würde, nur um unsere Gesichter dabei zu sehen. Wut flimmert kurz durch mich durch – dieser kleine Wichser. Mein Zorn verraucht sofort wieder, als ich sein fahles Gesicht betrachte. Kleine Perlen von Feuchtigkeit bilden sich auf seiner Oberlippe, Blutbläschen tauchen mit jedem Atemzug auf seinen Lippen auf. Das hier ist kein Fake. Keine Show, die er abzieht, um sich dran zu ergötzen. Zur Abwechslung ist Gabi derjenige, der aus der Sonne stürzt. Der beim Wiedereintritt in die Atmosphäre verglüht ist. Sein Hitzeschild hat versagt.
Mir wird klar, dass ich das nicht für möglich gehalten hätte. Gabi ist für mich immer unzerstörbar gewesen. Unbesiegbar. Er sieht unglaublich jung aus, wie er da liegt.
Jemand packt mich an der Schulter. Ich versuche, mich zu konzentrieren, verstehe, dass ich im Weg bin. Ein junger Mann in leuchtend-roter NOTARZT-Jacke schiebt mich zur Seite, kniet sich neben Gabi hin. Hände fassen mich an Hüfte und den Armen an, jemand hilft mir hoch. Leif steht da, starrt auf den Notarzt-Rücken. Sieht zu mir hoch, flüstert. Ich verstehe ihn nicht.
Ohne etwas zu erwidern, gehe ich durch die schwarzen Zeltbahnen nach draußen. Sonnenstrahlen und Wurstgeruch warten auf mich – gegen das Licht helfen sie dunklen Wolken, die sich zwischendurch wie ein fetter Bodyguard zwischen mich und die Sonne schieben. Gegen den Geruch, der mir mehr Übelkeit als vorher verursacht, gibt es keine  Hilfe.
‚Was ist los?‘, will eine Stimme wissen. Eine Hand auf meiner Schulter signalisiert mir: Ich bin gemeint.
‚Wie?‘
‚Gabi? Ist ihm was passiert?‘ Es ist Mick.
Unendlich langsam schaffen es meine Pupillen, sich auf ihm zu fokussieren, ihn wahrzunehmen.
‚Wo warst du?‘, frage ich.
‚Ist es Gabi?‘
Ich nicke, sehe zurück. Aber die Bahnen aus schwerem Stoff versperren mir die Sicht. ‚Ein Stunt ist schief gegangen. Hat sich an Seilen nach hinten fetzen lassen, ist aber nicht auf den Matten gelandet.‘
‚Hat er sich was gebrochen?‘
Ich zucke mit den Schultern, sehe immer noch nach hinten. Als würde ich so eher verstehen, was gerade passiert ist.
‚Musste ja irgendwann passieren. Wenn man immer einen Gang hoch …‘
‚Halt’s Maul, Mick‘, unterbreche ich ihn mit ruhiger Stimme. Sehe ihn dabei nicht an. Es wäre jetzt so einfach, gehässig zu sein. Zu frotzeln, zu spotten. Nananananana und Siehste! Aber egal, wie stark dieses Gefühl in mir drin ist – das hat er nicht verdient. Den Gefallenen, der niemals zuvor gestürzt ist, zu verspotten, ist nicht fair. Ich will nicht, dass Mick das macht. Gerade Mick. Den es bei seiner dämlichen Benzin-Aktion auch gut selbst hätte erwischen können. Anwärter auf den Darwin-Award sollten den Ball ganz flach halten. Ich schlucke meinen aufkeimenden Ärger auf Mick runter. Den hat er ebenfalls nicht verdient.
‚Was machen sie jetzt?‘
Seine Frage wird beantwortet, als die beiden Notärzte mit Gabi zwischen den Zeltbahnen hervorschlüpfen – einer vorne, einer hinten und Gabi auf der Klapp-Bahre in der Mitte. Er liegt in einer Art Korsett, zusätzlich verlaufen Gurte über Brust, die Beine und seine Stirn.
‚Spineboard‘, höre ich Mick neben mir leise.
‚Was?‘
‚Ein Rettungsbrett. Jemand muss ihnen gesagt haben, was passiert ist. Wirbelsäule.‘
Ich muss daran denken, wie Gabi da drinnen gegen die Streben geschmissen lag, und der Wurstgeruch attackiert erneut Nase und Magen. Hilflos strecke ich eine Hand aus, streife Micks Jacke. Will mich nicht an ihm festhalten, obwohl wenn er unterstützend nach mir greift. 
‚Ich muss gehen‘, bringe ich heiser heraus.
‚Soll ich mitkommen?‘
Ich schüttel vehement den Kopf. Bloß nicht. ‚Finde raus, was mit ihm ist, okay? Wo sie ihn hinbringen.‘
Kann fühlen, wie er neben mir nickt. Ich stolpere Richtung Ausgang, raus aus den Höfen, zurück auf die Straße. Als würde dort wieder alles gut werden.

Draußen auf der Straße verspüre ich das Bedürfnis, Julia anzurufen. Traue mich nicht, lasse das Handy nach einem Augenblick des Zögerns zurück in die Tasche gleiten. Wie betäubt laufe ich weiter – überlasse es meinen Chucks, sich den Weg über das Pflaster zu suchen. Mir ist Latte, wo sie mich hinbringen.

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Kommentare zu diesem Text

Realistin (28)
(15.03.10)
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 Mutter meinte dazu am 16.03.10:
Wie cool! :)
Ich freu mich ...
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