Überdruck

Roman zum Thema Morgenstimmung

von  Mutter

Meine Beine fangen an zu schmerzen. Ich strecke den Rücken durch, um ihn zu entlasten. Dirty wirft mir einen kurzen Seitenblick zu, während er zwei Typen durchwinkt - er grinst.  Ich bin der Älteste der Crew und muss mir dauernd Sprüche darüber anhören, was für ein alter Sack ich bin. Ob ich mir nicht lieber einen anderen Job suchen will. Ich bin vierunddreißig, und tatsächlich unterscheidet mich von dem Rest vor allem, dass ich keine ambitionierten Pläne für eine berufliche Zukunft habe. Jasmin macht parallel eine Ausbildung zur Personenschützerin, für sie ist das hier nur ein Zwischenschritt. Dirty arbeitet noch an seiner Karriere als Kickboxer – das ist alles, was für ihn zählt. Enzo will ins Musik-Business, versucht sich nebenbei als Sound-Artist und Beatboxer. Bei dem Rest der Crew weiß ich nicht genau, was sie sonst noch so treibt – die sind alle zwischen fünf und zehn Jahre jünger als ich.
Früher habe ich als Erzieher gearbeitet – in einem offenen Jugendheim für Schwererziehbare und Jugendliche aus sozial schwachen Familien. Ein paar, die bereits straffällig geworden sind, hatten wir auch dabei. Aber die Stelle wurde weggekürzt, weil der Betreuungsschlüssel verringert wurde. Statt mich arbeitslos zu melden, habe ich mir den Job als Türsteher gesucht – übergangsweise. Das war vor fünf Jahren.
Inzwischen liebe ich den Job – am Wochenende stehe ich nachts an der Tür, und unter der Woche arbeite ich tagsüber als Security für wechselnde Events. So verbringe ich regelmäßig Zeit mit Luisa, meiner Freundin – ich habe meine Tagesabläufe perfekt an ihre angepasst.
Wir sehen uns abends, essen gemeinsam, stehen morgens zusammen auf. Am Wochenende habe ich tagsüber frei, gehe erst los, wenn sie sich daran macht, sich mit einer Decke vor dem Fernseher einzukuscheln. Wenn ich zwischen sechs und acht morgens zurückkomme, hole ich mir ein paar Stunden Schlaf, verbringe dann den Tag mit ihr zusammen.
Die Tag-Nacht-Umstellungen machen meinem Biorhythmus keine Schwierigkeiten – das kommt noch, meint Dirty immer mit einem Grinsen, das sei im Alter so.
Ich mag mein Leben, Luisa dagegen möchte, dass ich etwas ändere. Wir wollen beide Kinder. Aber sie ist nicht bereit, schwanger zu werden, solange ich weiter diesen Job mache. „Ich habe keine Lust, nachts alleine mit dem Baby zu sein“, sagt sie und lässt den zweiten Teil unausgesprochen. Und sich um mich Sorgen machen zu müssen, ergänze ich gedanklich.
Das verstehe ich, kann ich komplett nachvollziehen. Deswegen bereite ich gerade den Absprung aus dem Job vor. Verlasse Murat und die Crew, um wieder als Erzieher zu arbeiten. In den nächsten paar Wochen habe ich alleine drei Vorstellungsgespräche bei verschiedenen Einrichtungen.
Ich seufze, reibe mir mit den Fingerspitzen über die Kopfhaut. Es wird mir schwerfallen, all das hier aufzugeben. Aber ich bin bereit, diese Freiheit gegen das einzutauschen, was ich dafür bekomme: Eine Familie mit Luisa. Mit einem Grinsen denke ich daran, was ich damals gesagt hatte. Als ich eingewilligt hatte, mir wieder eine ordentliche Stelle zu suchen. „Dafür mache ich dir ein Dutzend Babies!“, hatte ich gerufen und mich auf sie gestürzt. Sie hatte quiekend versucht, sich aus meinen Armen zu befreien. Ohne Erfolg.

Genau wie die Beats drinnen, ebbt und flutet die Zeit um uns herum. Vergeht mal rasend schnell, mal unkontrolliert langsam. Wirklichen Ärger hatten wir heute noch keinen, es ist eine ruhige Nacht.
„Willst du mal eine Weile nach drinnen?“, fragt mich Enzo. Genau wie den Rest von uns würde man ihn auf den ersten Blick für einen Südländer halten. Das ist Murats Macke – keiner weiß, warum er unbedingt will, dass der Look in der Crew einheitlich ist. Der einzige Blonde, den wir dabei haben, Raul, ist in Wirklichkeit Spanier.
Meine Großmutter kommt aus Kalabrien, ich habe ihre Gene geerbt und könnte auch als Italiener durchgehen. Dirty ist Franzose mit algerischem Einschlag, Jasmin kommt aus dem Iran. Turgay und Emrah sind die einzigen echten Türken in der Gruppe. Enzo ist Pole, auch wenn man ihm den Sizilianer locker abnehmen würde. Eigentlich heißt er Jacek, aber Murat hatte ihn damals in der Anfangszeit immer bloß Enzo genannt. Uns als die Italienischen Zwillinge bezeichnet, obwohl wir unterschiedlicher nicht aussehen könnten. Irgendwie war der Name kleben geblieben – Enzo hatte damit jedenfalls kein Problem.
Ich schüttle den Kopf. Anders als Dirty oder Jasmin, die sich gerne drinnen im Club aufhalten, die Blicke und die Autorität genießen, bleibe ich lieber vorne. Mir reicht es, die Musik im Schädel wummern zu hören, da muss ich sie nicht auch noch in der Seele fühlen. Also fragt Enzo Jasmin - sie nickt und geht nach hinten.
Der Pole streckt den Kopf nach links und rechts, lässt die Wirbel im Nacken knacken. Er ist der einzige Bodybuilder unter uns – der reinste Fleischberg. Wir anderen sind eher Kampfsportler – a lean, mean fightin‘ machine, wie Dirty sagen würde. Der Franzose ist einen halben Kopf größer als ich, knapp zwei Meter groß, aber schmaler in Hüften und Schultern. Ich wiege fast zehn Kilo mehr als er - durchtrainiert sind wir beide.
„Ich bin müde“, sagt Enzo nach einem entschuldigenden Seitenblick auf mich mit seinem leicht schleppenden polnischen Akzent. Ein junges Pärchen geht an ihm vorbei zur Kasse, der Typ hat den Arm schützend um sie gelegt.
Ich lächle. Um die Uhrzeit sind wir alle müde – da helfen weder Koffein noch Taurin. Ich klopfe ihm auf die Schulter, sage „Bald sind wir durch“ und trete die breiten Stufen runter auf die Oranienstraße. Die Schlange vor unserem Club hat sich aufgelöst – es kommen zwar immer noch vereinzelte Partygänger, um hier aufzuschlagen, aber aus der Flut ist ein Tröpfeln geworden. Wir weisen kaum noch jemanden ab: Wer jetzt noch kommt, kennt die Regeln. Und weiß, wie er reinkommt. Die Poser und Möchtegerns, die ganz jungen Style-Fehlgriffe – die versuchen es früher am Abend. Und die, die zu besoffen sind, um sie reinzulassen, sind längst woanders versackt. Ich mag die letzten zwei, drei Stunden vor Feierabend. Draußen kommt mir die Luft so klar vor - trotz all dem Dreck dieser Nacht, der die Straßen verunstaltet.
Oben über den Himmel von Kreuzberg schmieren sich die ersten Vorzeichen eines neuen Tages. Ich freue mich auf den Ausklang.
Enzo ist mir gefolgt, steht hinter mir auf der Treppe.  „Geht ihr nachher noch rüber in den Bunker?“
Wir haben ihn schon ein paarmal nach der Schicht mit ins Studio genommen, aber er hat seine eigene Gewichtheber-Kaschemme irgendwo in Schöneberg. Voll rostigem Eisen, mit zusammengeschusterten Teppichen auf dem Boden, unten in einem Keller. Alles voller Steroide und gepumpter Polen.
„Ich nicht – Dirty schon. Willst du mit?“ Ich lege mir die Hand in den Nacken, ziehe krumme Muskeln gerade. Dann drehe ich mich zu ihm um.
Er grinst und schüttelt den Kopf. „Abends habe ich mehr Kraft“, hatte er beim letzten Mal gesagt, als er beim Bankdrücken nicht sein Pensum geschafft hatte.
Es ist Zeit, wieder reinzugehen. Ich sehe ein letztes Mal hinüber zum Kottbusser Tor, wo das Studio liegt, atme tief ein - sammle Kraft für die letzten paar Stunden.

Irgendwann ist es soweit – Feierabend. Einer von uns muss solange bleiben, bis auch die letzten Gäste morgens rausgekehrt werden, meistens um sieben oder acht. Nachhut, nennen wir das. Der Rest geht früher. Ein Blick auf mein Handy sagt mir, dass es kurz nach fünf ist. Heute ist Jasmin dran, sie kümmert sich um den Rest – die ganz Verzweifelten, die dringend noch auf der Suche nach einem Stich sind. Und die Alkoholleichen, zusammengesunken an der Bar. Hilft der Truppe vom Club, sie vor die Tür zu schaffen.
Enzo, Dirty und ich verabschieden uns von der Kleinen per Handschlag. „Nimm nichts mit nach Hause, was nicht dir gehört“, ermahnt Dirty sie. Jasmin lächelt nur müde.
Ich hatte schon öfter darüber nachgedacht, ob die zwei mal etwas miteinander gehabt haben. Bisher hatten sich beide dazu bedeckt gehalten. „Wenn ich Jasmin flachgelegt hätte und es dir verraten würde, bekäme ich den Kopf abgerissen“, hatte Dirty lachend festgestellt. Sie dagegen hatte mich auf meine Frage hin nur mit einer Mischung aus Verachtung und Abscheu angesehen.
„Okay Alter, hau rein“, sagt Dirty und schlägt Enzo auf die ausgestreckte Hand. Wir stehen oben an der Ecke Adalbertstraße und sind auf dem Weg zum Studio. Dirty hatte den Polen ebenfalls gefragt, ob er mitkommt – will er nicht. Er sucht sich erst seinen Bus und dann den direkten Weg in sein Bett, sagt Enzo.
Wir verabschieden uns, und ich gehe neben Dirty in Richtung Kotti. Zu unserer Linken dringt der Geruch von frischem türkischem Gebäck aus einem Laden, direkt daneben quillt hektische Musik vom Bosporus auf die Straße. Die Häuserwände ächzen unter dem Gewicht von unzähligen Schichten Postern und Plakaten, an manchen Stellen schält sich der harte Panzer aus Papier und Leim ab wie alte Haut.
Wir laufen dicht nebeneinander, unsere Schultern berühren sich fast. „Als wärt ihr füreinander gemacht“, hatte Luisa gewitzelt, als sie uns das erste Mal zusammen gesehen hatte. Ich wollte damals von ihr wissen, ob sie eifersüchtig ist. Weil wir so viel Zeit miteinander verbringen, uns so blind verstehen. Sie hatte verneint, gesagt, ich bräuchte Dirty. Der sei so etwas wie mein jüngerer Bruder, den ich nie hatte. 
Ich muss lächeln. Bin für einen Augenblick versucht, ihn ins Studio zu begleiten. Mich an den Gewichten abzureagieren, die durch das stundenlange Rumstehen und Warten angestaute Nervosität und Anspannung loszuwerden. Überdruck abzubauen. Aber zu Hause liegt Luisa in unserem Bett. Mein Grinsen wird breiter. Ich freue mich auf sie - darauf, ihren Körper neben mir zu spüren. Ich begleite Dirty noch bis zum Studio, das auf meinem Weg liegt.
„Hey-ho, let’s go!“, sagt Dirty in seinem schlechten Englisch und grinst mich von der Seite her an. Er fängt an zu joggen. Ich nicke, folge ihm.
Wir laufen durch das morgendliche Grau Richtung Bunker.

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Kommentare zu diesem Text


 Melodia (31.03.10)
sollte ich auch mal versuchen, nach der schicht ins fitnesscenter zu gehen... aber wahrscheinlich penne ich auf der bank ein^^

lg

 Mutter meinte dazu am 31.03.10:
:)

Danke ...
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