Graffiti

Roman zum Thema Alltag

von  Mutter

Ich wache mitten in der Nacht auf, habe irgendwas gehört. Den leichten Schlaf habe ich von meinem Vater geerbt. Tiger macht mich unruhig - schläft der Kerl nicht?
Im Halbdunkel gleite ich aus dem Bett, gehe zur Tür. Mit einem Knacken öffnet sie sich, als ich die Klinge runterdrücke. Das sei der Lack, meint Luisa immer - der klebt. Und will dann, dass wir Fenster und Türen neu streichen.
Das Sofa im Wohnzimmer ist leer, das Bettzeug zerwühlt. Mit schnellem Blick checke ich erst die Umgebung der Couch, dann die Uhr. Tigers Seesack ist weg und es ist kurz vor Drei.
Im Flur geht die Haustür auf. Ich brauche nur Bruchteile von Sekunden, bis ich das Zimmer durchquert habe, die angelehnte Tür zum Flur aufreiße. Tiger steht schon halb draußen, wie eingefroren.
„Was zum Teufel wird das?“, zische ich halblaut. Will Luisa nicht wecken – aber Mann, geht mir der Depp auf die Nerven. Er ist komplett angezogen, bleibt unentschlossen auf der Schwelle hängen.
„Mach sie zu. Von drinnen!“
Er gehorcht. Drückt sie mit der flachen Hand zu, ohne sich umzudrehen. Ohne mich anzusehen. Mit hängenden Schultern scheint er auf irgendwas zu warten – erinnert mich an einen getretenen Hund.
„Tiger.“
„Ja?“, kommt es kläglich zurück.
Ich berühre ihn leicht an der Schulter. „Komm mit.“ Er folgt mir in die Küche. Ich mache uns Tee, hocke mich mit ihm an den Tisch. Nötige ihn, die Jacke auszuziehen.
„Es geht gar nicht darum, dass du uns zur Last fällst, oder? Das ganze Theater?“ Er starrt mich an, beantwortet meine Frage nicht. Ich fahre fort: „Wovor hast du Angst, Tiger?“
Sein Blick gleitet aus meinem Gesicht auf dem Tisch. Betrachtet seinen Zeigefinger, der mit einer kleinen Teepfütze spielt.
Ich seufze, richte mich auf. Mein Rücken tut weh, es ist spät. „Ich habe das Gefühl, du läufst vor irgendwas weg.“ Sein Kopf zuckt kurz, als will er mich ansehen, und ich weiß, dass ich ins Schwarze getroffen habe. Ich lehne mich vor, meine Stimme wird dunkler, eindringlicher. „Aber nicht heute Nacht, Tiger. Heute Nacht bist du bei mir. Ich pass auf dich auf.“
Endlich traut sich sein Blick zurück in mein Gesicht. Er sieht aus, als würde er mir gerne glauben wollen. „Vertrau mir. Hier kann dir nichts passieren. Was morgen ist – scheißegal. Wenn dich die Unruhe wieder auf die Straße treibt, in Ordnung. Aber nicht heute. Okay?“
Er nickt langsam. Ich habe Angst, dass er gleich anfängt zu heulen. Was muss dem armen Kerl für eine Scheiße widerfahren sein, dass ihn das alles so mitnimmt? Aber ich stelle keine weiteren Fragen, habe ihn genug gequält für heute.
„Kann ich mich darauf verlassen, dass du nicht wieder versuchst abzuhauen?“ Ich lehne mich über den Tisch, grinse ihn an. „Oder muss ich die nächsten paar Stunden im Flur, direkt vor der Tür schlafen?“
Er schüttelt den Kopf, den Blick wieder abgewendet, lächelt ebenfalls. „Nein.“ Das ist alles was er sagt. Ich glaube ihm – muss mir keine weiteren Sorgen darüber machen, dass er stiften geht.
„Dann komm, lass uns schlafen gehen.“
Wir stehen auf, ich lege ihm den Arm um die Schulter, schiebe ihn müde aus der Küche.

Am nächsten Morgen schlüpfe ich vorsichtig aus dem Bett. Luisa bewegt sich im Schlaf, streckt den Arm nach mir aus. Ich knie mich auf das Bett, ziehe die Decke ein Stück hoch. So dass sie ihre Schultern bedeckt. Küsse sie sanft auf die Schläfe. Sie gräbt sich mit wohligen Lauten tiefer in das Kissen. Wacht nicht auf.
Ich schließe die Schlafzimmertür leise hinter mir, will auf Zehenspitzen rüber in den Flur. Tiger blinzelt mich schläfrig an – keine Ahnung, ob ich ihn geweckt habe oder er bereits wach war.
Wir nicken uns zu, ich gehe aus dem Zimmer. Meine Klamotten habe ich auf dem Arm, schmeiße sie auf den Boden und gehe duschen. Ich ziehe mich in der Küche an, nachdem ich die Kaffeemaschine gefüttert und angestellt habe.
Zwei Scheiben Weißbrot in den Toaster, dann fingerdick Marmelade drauf. Butter spare ich mir, bin eh schon spät dran. Ich klebe die beiden Toasts zusammen, esse sie in großen Bissen, während ich von dem kochendheißen Kaffee trinke. Ich habe mir die erste Tasse zu früh aus der Maschine genommen – die Brühe ist so stark, dass sie fast ungenießbar ist. Gerade richtig, denke ich mit einem Grinsen, wasche mir den Mund aus. Putze Zähne, fahre mir mit der Hand über den Dreitagebart, während ich mich im Spiegel betrachte. Keine Zeit zum Rasieren – aber was wäre ein Italiener ohne Stoppeln? Wahrscheinlich würde mir Murat einen Bart aufmalen, wenn ich ohne in seinem Büro erscheine.
Ich reiße im Flur die Motorradjacke vom Haken, schnappe mir den Helm. Wenig später bin ich auf dem Weg nach unten, nehme drei Stufen auf einmal.
Unten im Hof springt die schwere Enduro nach dem ersten Kick sofort an, die Maschine grummelt wuchtig zwischen meinen Beinen. Sobald der Helm sitzt, lasse ich die Kupplung kommen, das Geländemotorad springt genauso ungeduldig wie ich nach vorne.
Mit einem geschmeidigen Schlenker ziehe ich durch die Hofeinfahrt nach draußen - vertraue darauf, dass so früh in Kreuzberg noch niemand zu Fuß unterwegs ist.

Ich lasse Helm und Jacke in dem kleinen Zimmer, das uns als Aufenthaltsraum in Murats Container dient. An den Sachen erkenne ich, dass Jasmin und Enzo bereits da sein müssen – Dirty hat heute frei. Auf dem Weg nach draußen kommt mir Sascha vom Klo entgegen. Wir begrüßen uns stumm – haben uns außer einem Nicken nichts zu sagen. Er ist Grieche, ein elendes Großmaul und jemand, der dauernd den Frauen nachsteigt. Jasmin geht er voll auf die Eierstöcke, das würde für mich völlig ausreichen, um ihn nicht zu mögen. Aber zusätzlich macht er sich gerne über Enzo lustig – noch ein Grund mehr, den Idioten ätzend zu finden.
Ich klopfe an Murats Tür, warte keine Antwort ab. Er sieht vom Rechner hoch, hebt die offene Hand zum Gruß. „Moment“, sagt er, tippt weiter etwas ein.
Für einen kurzen Augenblick überlege ich, ob ich mich zurückziehe. Er kommt eh gleich zu uns raus, gibt uns das Briefing. Stattdessen gehe ich rein, schließe die Tür hinter mir.
„Mein Lieblings-Itaker“, sagt er mit einem Lächeln, ohne mich noch einmal anzusehen.
Ich erwidere nichts auf die Bemerkung, hocke mich auf die Lehne eines Bürostuhls, der vor seinem Schreibtisch steht.
„Was liegt an, Meister?“, fragt er. Sieht mich immer noch nicht an.
„Du hast uns schon wieder in das gleiche Roster gesteckt.“
„Wen?“
„Lass die Scheiße, Murat – du weißt genau, dass sich Jasmin und Sascha nicht riechen können.“
Wie ein Schnappmesser springt sein Blick zu mir hoch, nagelt mich fest. „Und du musst dich deswegen als ihr Paladin aufspielen?“
Ich schüttel den Kopf. „Mann, ich …“
„Hey Luca – Jasmin ist professionell genug, um trotzdem mit Sascha zu arbeiten. Capiche?“
Das nimmt mir den Wind aus den Segeln. „Das hat sie dir gesagt?“
Er nickt überlegen, fährt sich dann mit dicken Fingern durch die Gel-glänzende Mähne. „Hat sie. Gibt es sonst noch ein Problem, Primadonna?“
Ich stoße mich von dem Stuhl ab. „Nein, kein Problem.“
„Gut, dann schaff deinen Arsch aus meinem Büro und gib mir etwas Zeit. Ich bin in zwei Minuten bei euch draußen.“
Mit einem stummen Fluch auf den Lippen verlasse ich sein Büro. Noch letzte Woche hatte sich Jasmin bei mir ausgekotzt, dass sie andauernd mit Sascha zusammen bei irgendwelchen Events eingetragen ist. Dass es Murat offensichtlich Spaß machte, die beiden zusammen in einen Käfig zu sperren. Hätte ich bloß das Maul gehalten. Ich bin einer der wenigen Jungs, auf dessen Meinung Murat etwas gibt. Ein paar Minuten später folgt mir Murat, erklärt uns, worum es heute geht.

Ich habe mich gerade umgedreht, um zwei Mädels zu zeigen, wo die Toiletten sind, als mich von hinten jemand packt. Ein Arm in Lederjacke schlingt sich um meinen Hals und eine raue Stimme zischt in mein Ohr: „Lass misch auf den Event, du Keck, oder isch mach disch Messer!“
Mit einem Lachen klopfe ich auf den Arm. „Du bist ein dummer Wichser, Dirty!“ Ich drehe mich um, wir begrüßen uns in einer Umarmung. Er steht hinter der hüfthohen Absperrung aus Metallgittern, unsere Verbrüderung wirkt etwas ungelenk. Jasmin steht mit Enzo am Eingang und checkt die Tickets. Sie sieht mit einem Augenrollen zu uns rüber.
Eigentlich ist es kaum verwunderlich, dass Dirty an seinem freien Tag hier auftaucht. Das geht uns allen oft so. Als würde uns die Crew so sehr fehlen, als könnte man etwas verpassen – dass man zumindest einmal am Tag oder am Abend nach dem Rechten sehen muss.
Dirty hebt seinen Motorradhelm, den er für die Nummer eben auf den Boden gelegt hat, wieder in die Hand. „Musste eh rüber in den Friedrichshain, kann ich auch kurz vorbeischauen, dachte ich.“
Ich nicke – muss er mir nicht erklären.
„Wie läuft’s?“, will er wissen. Ich werfe einen Blick mit zusammengezogenen Augenbrauen auf die kleine Traube von HipHoppern und Street-Gangsters, die noch rein wollen. Drinnen ist es schon gut voll. Die ‚Sprayertage‘ waren noch sie so gut besucht. Vom Wasser her weht der Geruch von Lösungsmitteln und Treibgasen rüber – die Besucher und extra eingeflogene Profis toben sich an den eigens aufgestellten Mauerstücken aus.
„Es geht. Noch keinen echten Stress gehabt. Aber du kennst die Brüder ja.“
Er nickt. Die Jungs aus der HipHop-Kultur und besonders aus der Sprayer-Szene sind oft ziemlich anstrengend. Die sind so auf Sturm gebürstet, jede Sekunde auf ober-coolem Anti, dass die manchmal gar nicht raffen, wenn mal einen Moment Peace herrscht. So wie hier. Wo alles lässig sein könnte. Hier müssten die niemanden angiften – nicht mal uns. Machen sie aus alter Gewohnheit oft trotzdem. Deswegen ist bei dem Event Security anstrengender als es sein müsste.
Dirty legt mir die Hand auf die Schulter, dreht mich ein kleines bisschen weg von den anderen. Mit tiefer Stimme sagt er: „Robbi hat mir erzählt, dass dich Ducky schon wieder angequatscht hat. Worum geht’s?“
„Immer noch um die selbe alte Sache. Lollo zahlt ihm die Kohle nicht zurück.“
Dirty nickt. Er kennt die Geschichte, weiß, dass das eigentlich mit mir nichts zu tun hat. „Soll ich mich um Ducky kümmern? Damit der die Füße stillhält?“
Bei seinen Worten kann ich mir ein schiefes Lächeln nicht verkneifen. Klingt, als würde er den Rockabilly heimlich nachts in der Spree versenken wollen. Ich glaube kaum, dass Dirty diesen Eindruck erwecken wollte.
„Passt schon. Ich klemm‘ mich die Tage mal dahinter, Lollo Feuer unterm Arsch zu machen. Soll der sich um die Scheiße kümmern und dafür sorgen, dass Ducky mich in Ruhe lässt.“
Dirty sieht mich mit ernster Miene an. Tut so, als könnte er in mich rein schauen, erkennen, ob ich nicht vielleicht doch seine Hilfe brauche. Das macht er so überzogen, dass ich lachen muss. Nach einem Moment grinst er ebenfalls. „Aber du sagst Bescheid, wenn du Hilfe brauchst?“
„Mit dem Arsch werde ich schon alleine fertig.“
„Du sagst Bescheid, wenn du Hilfe brauchst?“ Seine Stimme ist noch tiefer, fast grollend geworden. Diesmal lache ich nicht über die Eindringlichkeit. Sondern nicke. „Ja, ich sag’s dir, Dirty.“ Nach einem Augenblick füge ich ein: „Danke!“ hinzu.
Er haut mir auf die Schulter. „Muss los. Hab‘ noch eine Verabredung im Park. Lasst euch die Zeit hier nicht zu lang werden.“ Er geht, die Hand mit abgespreizten Fingern zum Gruß erhoben. Sieht nicht zurück.
Als ich neben Jasmin trete, schnaubt sie: „Was will der Penner hier an seinem freien Tag?“
Ich beuge mich zu ihr runter, sage ihr ins Ohr: „Er hat mir einen Heiratsantrag gemacht.“
„So saht ihr auch aus“, stellt sie trocken fest und stoppt einen Typen, dem die Carharrt-Hosen bis in die Kniekehlen hängen, um ihn zu filzen.


Anmerkung von Mutter:

Habe mal einen langen Absatz vorne eingefügt, der musste sein. Auch wenn der Text jetzt deutlich länger als seine Kollegen ist ... :-/

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