Tor zur Hölle

Roman zum Thema Abgrund

von  Mutter

Der Bus hält kurz vor dem Kottbusser Tor. Ich taumel zwischen Kinderwägen und Einkaufstüten aus der hinteren Tür des Busses, dankbar dafür, dass es die automatische Absenkung des Ein- und Ausstieges gibt. Die es möglich macht, dass Krüppel wie ich aussteigen können, ohne zu stürzen.  Wie auf Autopilot suche ich mir meinen Weg. Finde den Eingang zur Reichenbergerstraße, laufe an den Bäumen entlang.
Als unsere Wohnung in Sicht kommt, übernehme ich langsam wieder die Kontrolle. Sehe die ganzen Wagen in zweiter Reihe – Polizeiautos, manche grün, andere Blau. Ein schwarzer Kleintransporter, der wie ein Leichenwagen aussieht. Zwei mattschwarze dicke Wagen - ein Mercedes, ein Audi. Die sind sicher alle nicht hier, um im Schwarzen Hahn ein Berliner vom Fass zu trinken.
Mir ist klar, dass ich da nicht einfach reinlaufen kann. Die fangen mich ab, setzen mich in eins der Autos - fahren mich zum Wehmeier. Ich muss da rein.
Unter der Tordurchfahrt in den Hinterhof, vor der Haustür, steht ein Beamter in Uniform. Grußlos gehe ich an ihm vorbei, trete in den Innenhof. Halte kurz inne, als ich ins Licht komme. Muss die Augen schließen. Den Schwindel bekämpfen.
Ich öffne die Augen, sehe hoch. Unser Küchenfenster liegt im zweiten Stock, das Fenster ist nur angelehnt. Durch die Scheiben, die dringend mal wieder geputzt werden müssten, sehe ich die dicken grünen Blätter der beiden Kletterpflanzen, die unsere Küche in ein halbes Gewächshaus verwandelt haben. Luisas ganzer Stolz.
Mit zusammengebissenen Zähnen verdränge ich jeden Gedanken an sie. Trete auf das eiserne Geländer des Kellereingangs, strecke die Finger nach dem Fensterabsatz von Kirchner aus dem ersten Stock aus. Klammere mich fest, ziehe mich hoch. Meine Füße suchen in der Wand nach Halt, finden ihn in Form von Ornamenten. Klinker, die spitz in die Wand vermauert sind, die eintönige Fassade aufbrechen. Meine glatten Motorrad-Stiefel rutschen weg, fassen nach, rutschen wieder weg. Meine Arme und die rechte Schulter brennen wie Feuer, weil sie mein Gewicht zu lange tragen müssen. Endlich übernimmt der rechte Fuß seinen Teil des Jobs, stemmt meinen Körper hoch.
Ich suche mir mit der rechten Hand weitere Ziegelspitzen, presse meine Handfläche dagegen. Mein linkes Knie schiebt sich auf das Brett, dann der Fuß. Ich drücke mich hoch, packe den Sims unserer Wohnung. Einen kurzen Augenblick später hänge ich halb geduckt auf unserem Fensterbrett, die Stirn gegen das kühle Glas gedrückt. In der Küche ist niemand.
Ich schiebe das Fenster weiter auf, gegen den Widerstand der Ranken, die das obere Drittel der Glasfläche verdecken.
Mit dem Oberkörper voran gleite ich in den Raum, rolle mich unter voller Körperspannung langsam ab. Komme in der Hocke auf dem Linoleum-Fußboden auf. Ich kann gedämpfte Geräusche aus dem Rest der Wohnung hören. Ich schleiche mich zur Tür, spähe durch den Spalt. Niemand zu sehen – die Haustür steht offen, ich kann draußen jemanden hören.
Langsam bewege ich mich durch den schmalen verwinkelten Flur, werfe einen Blick auf eine braun-grüne Uniform draußen vor der Wohnung. Bulle in Uniform.
Dann bin ich daran vorbei, zögere vor dem Wohnzimmer. Plötzlich befällt mich panische Angst. Die schlucke ich weg, ich muss das tun. Muss hinsehen.
Entschlossen betrete ich das Zimmer. Drüben bei unserer Anlage, neben dem Sofa, hockt jemand in einem weißen Komplett-Overall. Sieht aus wie einer dieser Schutzanzüge in einem Katastrophenfilm. Ohne Gasmaske.
Eine Blondine, ebenfalls in weißem Overall, kommt gerade aus dem Schlafzimmer. Ich kann nicht ins das Zimmer reinschauen – aber den Türrahmen, den sehe ich. Dort sind an mehreren Stellen  blutige Abdrücke sichtbar – wie diese Hände, die auf buntem Tonpapier in den Fenstern von Kindergärten hängen. Nur sind diese Abdrücke größer, nicht von einem Kind. Und ich weiß, woher die Farbe stammt. Keuchend gehe ich in die Knie.
„Hey, wer hat den hier reingelassen?“, ruft die Blondine verärgert, während ich mich auf dem Boden krümme.
Ich werde an der Schulter gepackt, jemand hilft mir auf. Weniger grob als ich erwartet hätte, aber deutlich entschlossener, als in meiner Situation angenehm ist. Resolut werde ich in Richtung Haustür geschoben – mit gebeugtem Kopf erkenne ich eine Uniform neben mir. Muss sich um den Bullen von vorne handeln. 
„Bringen Sie ihn raus, bitte“, sagt eine Frauenstimme hinter mir. Schätze, es handelt sich um die Blondine. Für einen kurzen Augenblick will ich mich wehren, mich losreißen. Fragen: „Warum?“ und „Was ist passiert?“
Dabei weiß ich längst, was passiert ist. Die Hölle hat sich aufgetan und Luisa verschlungen. Und ich stehe am Rand des Abgrunds, oder falle bereits, und weiß nur noch nicht, wann ich aufschlagen werde. Und wo genau.
Als wir zusammen die Treppe hinuntergehen und ich an einer engen Stelle eine weiche Brust an meinem Ellenbogen spüre, wird mir klar, dass der Bulle weiblich ist. Ich werfe einen Blick zur Seite, sie verzieht kurz das Gesicht. In einer verlegenen Geste, die man benutzt, wenn man Mitleid ausdrücken möchte – aber nicht weiß, wie. Ich nicke. Kann ich ihr nicht verdenken.
Unten in der dämmrigen Hofeinfahrt übergibt mich die Polizistin an den Kollegen, den ich vor Kurzem passiert hatte. Die beiden wechseln ein paar Worte – ich fühle mich wie unter Wasser. Kann ihre Stimmen nur ganz entfernt hören. Ich glaube, sie fragen mich, wer ich bin. Irgendwann greift mir eine Hand ans Gesäß, nimmt sich die Brieftasche. Den Ausweis.
Sanft aber bestimmt nimmt mich der männliche Kollege am Arm, führt mich zu einem Streifenwagen. Öffnet die hintere Tür, setzt mich hinein. Mit einem leisen Klicken schließt sich die Tür hinter mir. Ich halte die Handgelenke zusammen zwischen meinen Beinen, als ob ich Handschellen tragen würde. Keine Ahnung, warum.
Ich sitze eine Weile im Wagen. Schließlich steigen zwei Uniformierte vorne ein, ich nehme an, es sind der Kerl und die Frau. Sie bieten keine Erklärung an, wo es hingeht. Ich frage nicht.
Nehme wahr, dass wir nach Westen fahren. Bald schließe ich die Augen, lege den Kopf hinten auf der Nackenstütze ab. Ich will gar nicht wissen, wohin die Reise geht.
Immer wieder muss ich die Hände ausstrecken, mich links und rechts abstützen. Damit den Schwindel, der mich bei geschlossenen Augen zu überwältigen droht, in die Schranken weisen. Ich bemerke, dass mir ein dünner Schweißfaden von der Schläfe in den Nacken rinnt. Kommt mir heiß vor im Wagen. Überheizt.
Mich erinnert die Fahrt an einen schlechten Drogen-Trip, den ich als Achtzehnjähriger mal geschmissen habe. Von dem ich die ganze Nacht nicht wieder losgekommen bin und der fast im Krankenhaus geendet hätte. Ein Gedanke flackert mir durchs Hirn. Wenn das hier auch bloß Bad Acid wäre ...
Sofort vermischen sich Tränen mit dem salzigen Schweiß und sammeln sich hinten in meinem Nacken. Ich verbiete mir selbst jedes Denken in diese Richtung – das packe ich nicht. So überstehe ich nicht mal den Fall, geschweige denn den Aufprall. Ich habe davon gehört, dass manche Leute angeblich schon während des Falls bei einem Sturz aus großer Höhe sterben. Vielleicht vor Angst.
Ich muss am Leben bleiben. Kann nicht so einfach aufgeben, kann Luisa nicht im Stich lassen. Das hier kann noch nicht das Ende sein.
Entschlossen schlucke ich die letzten Tränen und den Kloß in der Kehle weg, reiße die Augen mit einem Ruck auf.
Der Wagen kommt zum Stehen.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Sylvia (14.04.10)
Huhu Mutter,

gut geschrieben, du nimmst den Leser mit und lässt ihn immer schneller, kurzatmiger lesen. Genau so, wie es in dieser Situation sein sollte. Es sind keine langweiligen Passagen drin. Nur bei einem Satz stutzte ich:

Meine Füße suchen in der Wand nach Halt, finden ihn Form von Ornamenten. Klinker, die sp...

gerne gelesen
lieben Gruß
Sylvia

 Mutter meinte dazu am 14.04.10:
Hey Du, danke ... :)

Zum Satz: Muss natürlich 'in', nicht 'ihn' heißen ... :)
Aber war das die einzige Verwirrung oder ist noch was komisch an dem Satz?

Gruß, M.

 Sylvia antwortete darauf am 14.04.10:
Meine Füße suchen in der Wand nach Halt und finden ihn in Form von Ornamenten...

So denke ich ist es deutlich....

LG Sylvia

 Mutter schrieb daraufhin am 14.04.10:
Ah, ja stimmt, Du hast recht ...
*vomschlauchruntersteig*

Danke. :)

 Sylvia äußerte darauf am 14.04.10:
:0))))

 franky (05.05.10)
Das ist so packend und mit zittriger Feder geschrieben, als wäre es Heute und jetzt geschehen.

Herzliche Grüße

Franky

 Mutter ergänzte dazu am 05.05.10:
Das ist ein großartiger Kommentar - danke schön dafür!

M.

 RainerMScholz meinte dazu am 26.12.12:
Si.
Grüße,
R.

 Mutter meinte dazu am 26.12.12:
Dir auch ein 'Danke' ... :)

 Sanchina (08.06.10)
Hallo Mutter, du hast da eine Situation, die höchstens eine halbe Stunde dauert, so beschrieben, dass sich dem Leser fast der gesamte Kontext offenbart. Echt gut! Gruß, Barbara
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram