Aller En Enfer

Roman zum Thema Muse

von  Mutter

Dirty steuert den tiefergelegten Clio sportlich aber nicht aggressiv durch die Stadt. Meine innere Unruhe will ihn drängen, schneller zu fahren. Um zu erfahren, was Enzo und Echo über Tiger wissen. Aber ich halte meine Klappe – würde bei Dirty ohnehin nichts nützen.
Jasmin hatte mal gesagt, dass sein Wagen perfekt zu Dirty passen würde. Den Vergleich habe ich nie verstanden. Der getunte Wagen ist niedrig, mit verbreiterten Achsen und erinnert  mich immer entfernt an einen Ochsenfrosch. Das kann ich von Dirty nicht behaupten. Aber beide haben eine immense Power, vielleicht meint sie das.
Lächelnd sehe ich zum Fenster raus, betrachte den vorbeiziehenden Friedrichshain. Die gelb-grüne Farbe vom Renault meint sie bestimmt auch nicht. Ich stelle mir Dirty in einem ballonseidenen bunten Trainingsanzug irgendwo in der Vorstadt vor, wie er Samstagvormitttag sein Auto wäscht. Runzel die Stirn – wo habe ich ihn schon mal in so einem Ding gesehen?
Dann fällt es mir wieder ein. In meinem Traum, am Tag vor Luisas Ermordung. Plötzlich geht alles ganz schnell. Mir steht das Wasser in den Augen, ein faustgroßer Klumpen in meinem Hals verhindert, dass ich Schlucken oder Atmen kann und ich habe das Gefühl, dass mir der Atem wegbleibt.
Dirty schießt mir beim Fahren einen Seitenblick rüber. Ich drehe mich noch weiter weg, als könnte ich durch das geschlossene Fenster entkommen. Er sagt nichts.
Bis wir in der Torstraße ankommen, habe ich mich wieder gefangen. Dirty parkt geschmeidig rückwärts ein, lehnt sich dabei direkt zu mir rüber. „Scheiß Heuschnupfen“, sagt er, ohne mich anzusehen. Ich nicke, ziehe die Nase hoch. Reibe mir beim Aussteigen ein letztes Mal mit dem Ärmel über die Augen.
Wir suchen uns unseren Weg über zwei mit zerstörten Möbeln und kaputten Fahrrädern verunstaltete Hinterhöfe, bis wir durch einen nach feuchtem Beton riechenden Aufgang ins Hinterhaus hoch können.
„Dritter Stock“, sage ich. Dirty nickt wortlos, steigt mir hinterher.
Oben angekommen suche ich vergebens eine Klingel. Hämmere die Faust gegen die Tür, die früher mal grün war – bevor jemand mit zu dünnem Lack versucht hat, sie blau überzustreichen. Und auf halber Höhe aufgegeben hat. Statt eines Klingelschildes hängt ein Metallschild dort, von irgendwoher geklaut, auf dem Echo Beach steht. Sofort habe ich den Song im Kopf. Ich ticke mit dem Fingernagel gegen das Schild, deute mit dem Kopf. Dirty versteht nicht, dafür ist er vermutlich zu jung.
Enzo macht uns auf, lächelt verhalten. „Hey.“
„Hi Enzo.“ Wir umarmen uns, ich gehe an ihm vorbei, warte, dass er und Dirty sich begrüßt haben. Der Flur ist lang und dunkel, und überall liegt Zeug rum. Sieht nicht aus wie ein Tonstudio.
„Wo lang?“, will ich wissen. Enzo deutet nach vorne, schiebt sich mit seinem massigen Körper an mir vorbei. „Echo ist im Sound-Room.“ Dirty quittiert den hochtrabenden Titel mit hochgezogenen Augenbrauen, ich lächle nur.
Das Zimmer sieht tatsächlich fast aus wie ein Studio. Mehrere langgezogene Tische, auf denen Mischpult neben Mischpult steht, die Wände komplett abgeklebt mit offenbar mehr als einer Schicht Schallschutz-Schaumstoff. Fenster sind keine mehr zu sehen, ich nehme an, die sind ebenfalls mit weggeklebt worden. Zwei nackte Birnen spenden das einzige Licht. Mitten im Zimmer stehen drei professionell aussehende Mikrofone auf Ständern, rechts stehen ein langgezogenes Sofa und ein Paar Sessel, auf einem Couchtisch davor zwei weitere kleine Tisch-Mikros.
Echo steht über eines der Pulte gebeugt und fummelt an den Reglern rum, als wir reinkommen. Als er auf uns zukommt, fällt ihm gerade noch rechtzeitig der Kopfhörer auf, der ihm schräg auf einem Ohr sitzt. Erst als er ihn abgesetzt hat, kommt er und begrüßt uns per Handschlag.
Enzo stellt uns vor, und ich entgegne: „Wir kennen uns, oder?“
Er zieht kurz die Augenbrauen zusammen, versucht sich zu erinnern, dann gibt er auf. Lächelt entwaffnend. „War ich betrunken?“
Ich grinse ebenfalls. „Du hast auf der Party aufgelegt. Zählt vermutlich genauso als Entschuldigung.“
„Wollt ihr euch setzen?“ Er deutet in Richtung der Couchecke. Dirty ist der erste, der sich in einen der weichen Sessel fallen lässt. Neugierig klopft er mit dem Finger gegen eins der Mikros. „Ist das an?“
Echo nimmt sich den anderen Sessel, lacht. Schüttelt den Kopf und deutet auf die Mikros in der Zimmermitte. „Jacek hat gerade ein paar Tracks aufgenommen.“
„Beatboxing?“, will Dirty interessiert wissen. Der Pole nickt stolz.
„Enzo hat mir von der Geschichte mit Tiger erzählt“, sagt Echo unvermittelt. Beugt sich leicht zu mir vor. Ich sitze auf seiner Seite der Couch, kämpfe gegen die Kuhle an, die Enzo neben mir verursacht.
„Er meinte, du kennst ihn.“
Echo nickt, spielt mit einem monströsen Ring an seinem Daumen. Sieht vom Tisch zu mir hoch, betrachtet mich einen Moment, bevor er sagt: „Tiger war mit zwei Freunden öfter hier. Die Jungs haben Demo-Tracks aufgenommen.“
„Wann war er das letzte Mal da?“
Echo zuckt mit den Schultern. „Hat mich Jacek auch schon gefragt. Keine Ahnung – vier Wochen vielleicht? Soll ich euch mal zeigen, was sie gemacht haben?“
Warum nicht? Nachdem ich genickt habe, steht er auf und geht zu einem der Pulte. Sucht eine Weile herum, findet eine Disc und schiebt sie in einen der Rechner, die unter den Tischen stehen.
Ein paar Sekunden später flutet satter Sound den Raum. Ein Teppich aus getragenen Beats umspült uns, wummert im Bauch. Dann weben sich die ersten Vocals dazwischen. Überrascht sehe ich zu Echo rüber, aber der hat die Augen geschlossen, wippt den Klängen mit dem Kopf nach.
Mein Blick zuckt zu Dirty rüber, der nickt. Die langsamen, vollen Sprechgesänge, die zwischen den Beats auftauchen, sind auf französisch.
Ich gehe zu Echo rüber, berühre ihn an der Schulter. Instinktiv dreht er die Lautstärke runter.
„Sind seine Kumpels Franzosen?“
Der DJ nickt. Deutet auf ein Mischpult und sagt: „Von dem einen weiß ich nur, dass er Phillippe heißt. Der andere ist Broussard.“
Dirty kommt rüber. „Der Sprayer?“ Echo nickt. Dirty wendet sich mir zu. „Der war auch bei den Sprayertagen dabei. Macht ganz cooles Zeug – ich habe ein paar Wandgemälde von ihm gesehen.“
„Hast du eine Adresse oder so? Von irgendwem von denen?“
Echo schüttelt den Kopf. „Die haben meist nicht mal vorher angerufen. Sind vorbeigekommen, haben geschaut, ob ich gerade Zeit habe. Falls nicht, haben sie ein bisschen rumgehangen und sind irgendwann wieder abgezwitschert. Das sind nette Jungs“, fügt er entschuldigend hinzu. Als würde ich ihm einen Strick draus drehen, dass er nichts von ihnen weiß. „Keine Sorge, Echo. Passt schon“, sage ich mit einem Lächeln.
„Soll ich euch das Tape kopieren?“, fragt er. Während ich noch zögere, nickt Dirty. „Die Jungs sind erstaunlich gut. Erinnern mich ein wenig an Akhenaton oder Sinik.“ Sagt mir beides nichts.
Wir warten kurz, während Echo eine frische CD in den Rechner schiebt, die Disc kopiert. Währenddessen drückt mir Enzo eine weitere Scheibe in die Hand. Verständnislos schaue ich ihn an. „Das bin ich“, sagt er und lächelt verlegen. Ich raffe es immer noch nicht. Dirty kapiert schneller. „Beatboxing? Du?“
Enzo nickt wild, grinst. „Hört’s euch mal an und sagt mir, was ihr denkt. In Ordnung?“
Dirty und ich versprechen quasi zeitgleich, dass wir das machen. Echo tritt dazu und gibt uns die CD in einer durchsichtigen Hülle. In geschwungener Handschrift steht dort mit Marker geschrieben:  Aller en Enfer.
„Was heißt das?“, will ich von Dirty wissen, obwohl ich einen Teil verstehe. Meine Nackenhaare stellen sich auf.
„In die Hölle kommen“, antwortet er mir mit starrem Gesichtsausdruck.
Wir verabschieden uns von den beiden, gehen das abgewrackte Treppenhaus runter zur Straße.

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