Hall of Fame

Roman zum Thema Suche

von  Mutter

„Wohin jetzt?“
Ich sehe rüber Richtung Alexanderplatz. Die Spitze vom Fernsehturm ist im Dunst verschwunden. „Wir fahren nach Friedrichshain. Zur Hall of Fame. Da kennen die zumindest Broussard.“  In der Nähe der East Side Gallery gibt es ein brachliegendes Gelände, auf dem der Senat eine ganze Reihe von Fertig-Mauerstücken hingestellt hatte. Da ist legales Sprayen möglich, die Jungs können sich austoben.
Bevor Dirty den Wagen aus der Parklücke steuert, schiebt er die Disk in den Player. Der erste Song ist ein anderer als der, den Echo oben gespielt hat, aber die Stimmen sind die gleichen.
„Das sind alle drei, die da singen, oder?“
Dirty nickt. Fädelt sich in den Verkehr, kneift kurz die Augen zusammen, um sich zu konzentrieren. „Gutes Französisch“, befindet er.
„Worum geht’s?“ Mein Italienisch lässt mich Bruchstücke, einzelne Passagen verstehen, aber alles verstehe ich nicht. Dirty grinst. „Der übliche Scheiß: Das Ghetto, die Drogen, der Kumpel. Bisschen mystisches Zeug dazwischen.“
„Was meinst du?“
„Naja, da eben ging’s um einen Engel. Den Engel der Vorstadt, der in die Betonhölle herabsteigt.“ Er lächelt abfällig. „So Teenie-Scheiß halt.“
Stumm sehe ich aus dem Fenster. Als die ersten Töne des nächsten Tracks erklingen, drücke ich auf Eject. Dirty sieht kurz rüber, sagt aber nichts. Nachdem wir einen Moment stumm durch die City fahren, holt er die Scheibe raus, legt eine andere rein. Ich sehe nicht hin.
Die Sounds überraschen mich. Klingt wie Drums und Percussions mit wilden Vocals dazwischen. Beatboxing.
„Enzo?“
Dirty nickt, wippt im Takt mit. „Fett, oder?“ Ich lächle, sehe wieder zum Fenster raus. Ich hatte mir nie darüber Gedanken gemacht, was Enzo genau für Mucke machte, hatte ihn nie danach gefragt.
Zwischen den satten und wuchtigen Beats sirrt und springt seine Stimme, schlägt Kapriolen. „Das ist verrückt“, lache ich, als ich mir den massiven Enzo dabei vorstelle.
„Wusstest du, dass er sowas macht?“
Der Franzose zuckt mit den Schultern, dreht am Lenker, als nach rechts einbiegt. „Er hat mir mal was vorgemacht. Das ist echt unglaublich, was für Sounds man mit dem Mund machen kann. Brauchst du nicht mal ein Mikro für.“
Den Rest der Fahrt begleitet uns Enzo, der geschmeidig aus den Subwoofer-Boxen kriecht.
Zehn Minuten später sind wir da.
Dirty verschließt den Wagen mit einem Blip-Blip und wir gehen auf das Gelände, direkt an der Spree. Ein paar hundert Meter weiter hatten die Sprayertage stattgefunden – das kommt mir wie eine Ewigkeit vor.
„Duff-da-da-duff-da … p-p-p-p...pff-tsss, pff-ts-ts, pff-tsss...“ Dirty versucht sich am Beatboxen.
Mit hochgezogenen Augenbrauen drehe ich mich zu ihm um. Er hält inne, grinst. „Was?“
„Nichts.“ Die Mauerteile stehen ohne jede Ordnung auf dem sandigen Gelände – es sieht wie ein Labyrinth, wo jemand zu große Abstände gelassen hat. Jeder Quadratzentimeter Beton ist mit buntem Lack bedeckt, Grau ist die einzige Farbe, die hier nicht existiert.
Manche der Graffitis sind elaborate Bilder, komplexe und verschlungene Designs, andere einfach unglaublich kunstvoll und mit eigenem Stil gemalt. Schmierereien oder Dilettantismus gibt es keinen – ich nehme an, was schlecht ist, wird sofort übersprayt.
„Wer entscheidet, was bleibt?“, rede ich mehr mit mir selbst. Dirty hört mich nicht, starrt wie ich links und rechts. Es ist, als wären wir in einem merkwürdigen visuellen Traum von jemand anderem gelandet. Wahrscheinlich die Alphatiere - wie bei allem.
Vor manchen der Mauern stehen Dutzende von Spraydosen und Sprayer, einzeln oder in Gruppen, stehen davor. Manchmal arbeitet einer gerade in schwungvollen Bewegungen an einer Wand. Erkennen kann man nur manche von denen, die gerade nicht arbeiten – sie alle tragen Masken, entweder auf dem Gesicht oder um den Hals geschlungen. Die Dinger sehen erstaunlich professionell aus, bedecken das ganze Gesicht und haben riesige Filter links und rechts. Ich nehme an, genug Sprayer haben sich über die Jahre die Lungen mit Lösungsmitteln zerfressen.
Unschlüssig halten wir inne, sehen uns um. Drei junge Männer, alle in farbverschmierten Klamotten, beobachten uns. Kurzentschlossen gehe ich rüber. Einer von ihnen schiebt sich die Maske vom Gesicht, macht ein paar Schritte auf uns zu.
„Hey“, begrüße ich ihn. Er nickt bloß.
„Wir sind auf der Suche nach Broussard. Hast du den gesehen?“ Der Sprayer nickt, mustert uns kurz. Versucht vielleicht zu entscheiden, ob es klug ist, uns die Info zu geben. Dann hebt er den Arm, zeigt Richtung Wasser. „Vorne, am Hexagon.“ Ich bedanke mich mit einem Nicken, wir setzen uns in Bewegung.
„Im Hexagon“, ruft er uns nach. Ich drehe mich um, hebe die Hand zum Zeichen, das ich verstanden habe. Er hat sich bereits die Maske wieder auf das Gesicht geschoben, geht zurück zu seiner Mauer. Klack-klack-klack. Schüttelt dabei die Dose.

Das Hexagon besteht aus sechs Mauerteilen, die grob in einem Sechseck aufgestellt sind. Die einzelnen Teile haben jeweils gut einen Meter Abstand, so dass man bequem zwischen ihnen nach drinnen schlüpfen kann. Auf der Innenseite kann ich ebenfalls Farbe erkennen.
Außen zieht sich ein fortlaufendes Bild über mehrere Mauerteile – ich nehme an, die Darstellung geht bis ganz rum. Ich kann eine glupschäugige Prinzessin, einen Ritter mit langem, blondem Zopf und verschiedene Fabelwesen erkennen.
„Das ist gut“, stellt Dirty fest. Ich nicke. Aus dem Innenraum können wir das Zischen von Gas hören. Klack-klack-klack.
Ich schlüpfe durch eine der Lücken. Drinnen trifft mich brutal die Mischung aus Treibgas und Lösungsmittel. Ein Typ in einem ölverschmierten grünen Overall dreht sich z uns um. In beiden Händen eine Dose, in einem Gürtel um seine Hüfte stecken drei weitere wie Patronen an einem Revolvergurt. Auf dem Kopf trägt er eine Wollmütze, die ebenfalls schon an einigen Stellen mit verschiedenen Farben in Kontakt gekommen ist. Nachdem er beide Dosen weggesteckt hat, zieht er sich aufreizend langsam die Maske runter, bis sie um seinen Hals baumelt. Und sieht uns fragend an.
„Bist du Broussard?“
„Ja. Warum?“ Er spricht mit leichtem französischem Akzent.
„Du bist ein Freund von Tiger, oder?“ Ich bin ein paar Schritte näher rangegangen, aber nicht so dicht, dass er sich bedrängt fühlt. Er nickt.
„Hey.“ Ich strecke ihm die Hand entgegen. „Ich bin Luca, ein alter Kumpel von Tiger. Das ist Dirty.“ Bevor er meine Hand ergreift, zieht er sich die dünnen Stoffhandschuhe aus. Dirty begrüßt er nur mit einem Kopfnicken. „Wir kennen uns, oder?“ Dirty bejaht.
„Hör zu, Tiger ist verschwunden. Wir sind auf der Suche nach ihm. Hast du eine Ahnung, wo er steckt?“
„Wie lange schon?“
„Sein Mitbewohner hat ihn zuletzt vor zwei Wochen gesehen.“ Dass ich Tiger noch vor zwei Tagen gegenüber gestanden hatte, verschweige ich.
„Zwei Wochen“, wiederholt Broussard gedehnt, denkt nach. Er geht rüber zu seinen Pappkartons voller Spraydosen – bestimmt dreißig, vierzig Stück. Ich frage mich kurz, wie die Jungs ihr Hobby finanzieren. Sind bestimmt nicht billig, die ganzen Farben.
„Kommt ungefähr hin. Das letzte Mal waren wir ungefähr vor vierzehn Tagen verabredet. Er ist nicht gekommen – hat uns versetzt. Auf Anrufe und meine SMS hat er nicht reagiert.“ Der schmächtige Franzose zuckt mit den Schultern. „Wie vom Erdboden verschluckt.“

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Kommentare zu diesem Text


 mondenkind (28.04.10)
hab ich erwähnt, dass ich alle ausgedruckt hab, bisher?
*worthalte*:)

 Mutter meinte dazu am 28.04.10:
Hey! Nur ausdrucken zählt aber nicht ... ;)

 star antwortete darauf am 28.04.10:
ich hab' alles brav gelesen

 mondenkind schrieb daraufhin am 28.04.10:
ich kann halt auf papier besser lange texte lesen. sonst verknurpselt es mir auf dauer die augen. ^^
star ist nun mein grosses vorbild. *uff* ^^

 Mutter äußerte darauf am 29.04.10:
Ihr seid ja knuffig ... :)

 Melodia ergänzte dazu am 29.04.10:
ich schließe mich den beiden an... also ausgedruckt und gelesen... ^^

lg

 Mutter meinte dazu am 29.04.10:
:)

Ach so ...
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