Road Trippin'

Roman zum Thema Suche

von  Mutter

„Wann seid ihr wieder zurück? Was denkst du?“
„Keine Ahnung – Dirty meint, wir schaffen die Strecke in neun, zehn Stunden. Ich glaube, er will übermorgen wieder zurück sein.“ Nach einem Moment füge ich hinzu: „Ja nachdem, was wir finden.“
„Hast du mit Wehmeier gesprochen?“
„Mache ich, wenn wir wieder zurück sind.“
Manu nickt. „Ihr seid vorsichtig, okay?“ Ich verspreche es. Wir verabschieden uns mit einer unsicheren Umarmung, danach berührt meine Hand noch kurz ihren Arm. Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll.
Zwei Minuten später stehe ich unten am Auto. Eine Assistentin vom LKA hatte morgens angerufen – ich könne, wenn ich wollte, unter Aufsicht in die Wohnung und ein paar Sachen rausholen. Ich hatte abgelehnt. Könnte den Gedanken nicht ertragen, aus unserem Schlafzimmer Klamotten zu holen und anzuziehen. Dirty hat mir Zeug geliehen und ein paar Sachen habe ich mir neu gekauft.
„Bist du soweit?“, will Dirty ungeduldig wissen. Ich nicke, sehe ein letztes Mal auf mein Handy. Keine Anrufe. Nichts, was mich zurückhält. Werfe mich in den Schalensitz und lasse die Tür zufallen. „Auf geht’s!“
Dirty grinst, zündet den Motor. Satte Trip Hop-Beats rollen aus den im Auto verteilten Boxen. Ich hatte als Bedingung gestellt, dass wir auf dem Weg nach Paris keinen französischen Rap hören würden. Kein Aller en Enfer oder was, was so ähnlich klang. Und kein Beatboxing. Dirty hatte missmutig zugestimmt.
Dirty lehnt sich vor, drückt ein paarmal auf einen Knopf der Mini-Anlage. Unter den Klängen von Morcheebas Enjoy The Ride rollen wir aus Berlin heraus. „Sehr witzig“, kommentiere ich, ohne ihn anzusehen. Kann fühlen, wie er neben mir grinst.
Ich schiebe mich im Schalensitz zurecht, weil mich etwas drückt. Das Buch fällt mir ein – ich hole es hervor.
„Was ist das?“, will Dirty wissen.
„Chess For Tigers“, antworte ich kurzangebunden, blättere darin herum.
„Bist du gut?“
Ich schnaube. „Ich spiele kein Schach. Das habe ich in Tigers Zimmer gefunden.“
„Und, irgendwelche Hinweise?“
Vorne steht eine Widmung auf Französisch drin: De la jungle dans la jungle.
„Aus dem Dschungel in den Dschungel?“, frage ich, nachdem ich sie Dirty vorgelesen habe. Er nickt. „Von wem ist die?“
„Steht nicht dabei.“ Nach einem Moment klappe ich das Buch zu, werfe es mit einem Seufzer auf das Armaturenbrett.

Bis Bielefeld vergeht die Zeit schnell genug, es ist kurz vor sechs. Danach wird es zäh. Wir haben unseren Pool aus Unterhaltungen erschöpft, ab und zu bricht einer von uns das Schweigen, der andere antwortet. Oft genug einsilbig.
Einmal anhalten, um zu tanken, zweimal, um zu pinkeln und Snacks zu holen. Dirty fährt eine Weile einarmig, nachdem er mit den Zähnen nacheinander Marsriegel aufreißt und isst.
„In Liège übernimmst du“, stellt er fest. Ich nicke nur. Lüttich. Zwischendrin langweilt mich seine CD-Sammlung und ich probiere es mit dem Radio. Aber wechselnder schlechter Empfang und absolut grottige Musik belehren mich schnell eines bessern.
Wir landen bei Trickys Album, auf dem irgendwelche britischen Gangster von ihrem Leben erzählen. „Krasses Zeug“, stelle ich irgendwann fest. Mad Frankie Fraser erzählt trocken weiter. Dirty nickt.
Belgien. Dirty hält an einem kleinen Parkplatz, wir wechseln. Es ist kurz nach acht.
Knapp eine Stunde später sind wir wieder raus aus Belgien. „Macht nichts“, meint Dirty, der es sich versucht, im Sitz bequem zu machen. „Außer Croissants hat das Land eh nichts zu bieten.“
Statt einer Antwort schnaube ich nur. Frag‘ den Franzosen über Belgien aus, klar.
„Was denn? Hast du mal ihr Bier probiert? Oder ihren Kaffee?“ Er schüttelt sich demonstrativ, deckt sich mit einer Sweatshirt-Jacke zu. „Schau mal, ob du nicht ein paar Tramperinnen aufsammeln kannst“, weist er mich noch an, bevor das Wageninnere wieder von Stille eingenommen wird. Ich habe die letzte CD nicht mehr ersetzt.

Um halb zwölf fahre ich auf eine Tankstelle und wecke Dirty. Es ist nicht mehr weit bis Paris, und ich bin nicht bereit, in den Moloch reinzufahren. Das soll er machen. Etwas zerknittert und misslaunig übernimmt er das Steuer. Seine Stimmung bessert sich erst, als ich uns vier Becher mit heißem Milchkaffee besorge und ihm eine Tüte mit warmen, weichen Croissants reiche.
„Wo müssen wir hin?“, frage ich, als wir die E19 von Norden nach Paris runterfahren. Er lächelt hart, sein Gesicht beschienen von den gelben Autobahnlaternen. Es ist kurz vor zwölf.
„Die Adresse ist nicht weit von hier. Wir fahren demnächst runter, durch Saint- Denis. Dann ist es nicht mehr weit.“
Links und rechts sehe ich Gruppen von Hochhäusern, die dicht beieinander stehen, als hätten sie etwas Wichtiges zu bereden. Dazwischen liegen es immer wieder freie Flächen – Brachland, auf dem nichts gebaut wurde. Noch nicht – vielleicht hat einfach nur noch niemand die Zeit gefunden, mehr Ghetto zu schaffen.
Dirty wechselt auf die rechte Spur, um abzufahren. Die französischen Straßenschilder sagen mir alle nichts. Ich bin froh, ihn dabei zu haben.
Danach fahren wir zwanzig Minuten auf einer Schnellstraße – größtenteils verläuft die Fahrbahn auf Stelzen mehrere Meter über den dem Boden, als wäre es wichtig, noch nicht unten anzukommen. Aber genau dort wollen wir hin.
Die doppelspurige  Schnellstraße verläuft sich, nachdem wir zwei Ampeln passiert haben, die hypnotisch orange vor sich hinblicken, fahren wir auf einer normalen Straße. Die Hochhäuser, die manchmal direkt neben uns, manchmal in der Ferne auftürmen, sehen so viel bedrohlicher aus. Unwillkürlich setze ich mich aufrechter im Sitz zurecht, merke, unter wie viel Spannung mein Körper steht. Obwohl es bereits so spät ist, sind genug Leute unterwegs – zu Fuß, auf den unregelmäßig durch Laternen beleuchteten Gehsteigen, in kleinen Gruppen an den Kreuzungen oder in der Nähe der Türme. Meistens junge Männer.
„Wo fährst du uns eigentlich hin?“, frage ich, kann den leichten Anflug von Panik nicht ganz aus der Stimme verbannen. Dirty zeigt auf den Papierschnipsel vorne auf der Ablage, auf den er die Adresse gekritzelt hat, die uns Broussard gegeben hat.
„Wir können da unmöglich heute Nacht nach Mitternacht aufkreuzen. Die lassen uns nicht mal rein, geschweige denn, dass sie mit uns reden.“
Er zuckt mit den Achseln. „Dann pennen wir halt ein paar Stunden im Auto. Gehen dann hoch.“
„Spinnst du? Im Auto – hier?“ Mein Daumen zeigt nach draußen.
Sein Grinsen zeigt mir, dass ich voll aufgelaufen bin. „Schisser!“, ruft er amüsiert.
„Okay, im Ernst – wo fährst du hin?“
Ich kann an seinem Gesicht sehen, dass er überlegt, ob er das Spielchen noch eine Weile weiter spielen soll. So tun, als sei es das Normalste auf der Welt, mitten im französischen Vorstadt-Ghetto zu übernachten. Mitten zwischen den Straßengangs.
Er entscheidet sich dagegen. Erklärt mit einem überlegenen Lächeln: „Ich kenne eine kleine Pension in der Nähe von Sevran, da können wir unterkommen. Die Frau liebt mich.“
„Dirty, der perfekte Schwiegersohn, den sie bemuttern kann“, lache ich.
Ernst antwortet er: „Nein, sie liebt mich. Richtig. Ich habe mal ein halbes Jahr bei ihr gewohnt. Sie hat mich mit einem Dach über dem Kopf versorgt, mich bekocht – und ich habe ihr das Bett warm gehalten.“
„Oh.“
Jetzt lacht er. „Nicht dramatisch. War für uns beide eine angenehme Regelung. Nur hätte sie mich gerne dabehalten, als ich wieder zurück nach Deutschland bin. Vermutlich hätte sie mich sogar geheiratet.“
„Wie viel älter?“
Er rechnet kurz, grinst dann. „Damals war ich Anfang Zwanzig und sie Mitte Vierzig. Kaum erwähnenswert, der Altersunterschied.“
„In der Tat.“ Ich sehe erneut aus dem Fenster - erleichtert, noch eine Aufschub bis morgen früh zu erhalten, bis ich mit dem Banlieue und seinen Bewohnern auseinandersetzen musste. Und frage mich, ob das Ganze wirklich so lässig für Dirty ist, wie er mir weismachen will. Oder ob es nicht doch ein paar Leichen gibt, die hier im Brachland begraben liegen, auf die wir stoßen könnten. Alte Geschichten, an die man besser nicht rührt.
„Wir sind gleich da“, verkündet Dirty nach ein paar Minuten. Mein Rücken und mein Arsch tun mir vom langen Sitzen weh.

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Kommentare zu diesem Text

sim (32)
(30.04.10)
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 Mutter meinte dazu am 30.04.10:
Okay ... :)
Danke, M.
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