Putzerfisch

Roman zum Thema Suche

von  Mutter

Hinter mir klappt die Tür zu, nachdem Dirty sich von ihnen verabschiedet hat. Er tritt an meine Seite, haut mir auf die Schulter. „Die haben keine Ahnung. Sind vor zwei Jahren hier eingezogen, haben die Wohnung von einer alleinstehenden Frau übernommen und noch nie etwas vom Tiger gehört.“
Ich nicke, den Blick weiter geradeaus ins Nichts gerichtet.  Dirty lehnt sich mit den Unterarmen neben mir auf das Geländer. Sieht nach unten, zieht etwas Rotz hoch und spuckt aus. Nachdenklich sieht er seiner feuchten Botschaft in den Abgrund hinterher.
„Was machen wir jetzt?“, will er wissen und sieht zu mir rüber.
„Wir suchen weiter.“
„Sehr witzig. Wie?“
Ich drehe mich langsam zu ihm um, betrachte ihn einen Moment. Er weiß nicht, was ich für eine Entscheidung getroffen habe. Dass ich zwischen diesen Türmen nicht weggehe, bis sie mir alles über Tiger erzählt haben, was sie wissen. Bis ich endlich eine Ahnung davon bekomme, wer er ist – er endlich greifbar wird. „Wir hören uns um. Reden mit den Leuten. Du hast gesagt, hier wird nicht viel umgezogen.“
Er zuckt mit den Schultern, relativiert. „Manche hauen ab, manche werden abgeschoben. Nicht jeder bleibt an Ort und Stelle.“
„Aber die meisten haben überhaupt keine Alternative, richtig?“
Zögernd nickt er. „Schon. Manches ist in Stasis gefangen, und es gibt Leute, die findest du auch in vierzig Jahren noch exakt am selben Fleck.“
„Siehst du. Irgendwer muss sich an Tiger erinnern“, entscheide ich und stoße mich vom Geländer ab. Gehe in Richtung Fahrstühle zurück. Dirty folgt mir.
Auf der Treppe neben den Zugängen zu den Aufzügen hockt ein kleiner Junge – dunkle Locken, dunkle Haut, noch dunklere Augen. Die schimmern fast feucht und sehen riesengroß aus. Ohne Scheu betrachtet er uns, selbst als Dirty ihn anfunkelt, versucht, ihn einzuschüchtern. Ich muss an den kleinen Kerl mit dem Ball vor Duckys Wohnung denken. Vielleicht gibt es in jedem dieser Häuser eine Unzahl solcher kleinen Jungs und ich frage mich, ob Tiger genau so einer gewesen ist. Er begegnet meinem Blick, ohne auszuweichen. Ist ihm offenbar gleich, dass das angeblich ein Zeichen von Aggression ist. Ich frage mich, ob er wirklich so dreist, oder einfach völlig abgestumpft ist.
Die Tür des rechten Fahrstuhls schiebt sich schabend auf und mit einem letzten Blick auf den Jungen trete ich ein. Ich hoffe, es ist ersteres.

Unten hängen inzwischen ein paar mehr Jungs herum – die drei von vorhin haben Verstärkung bekommen.
Ich trete zu dem Schwarzen und nicke ihm zu. „Ça va?“
Er nickt zurück, betrachtet mich misstrauisch. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, sage ich nach hinten an Dirty gewandt: „Frag ihn, ob es hier so eine Art inoffiziellen Blockwart gibt. Einen, der sich um Sachen kümmert, die den Bullen oder der Hausverwaltung egal sind.“
Dirty reagiert nicht sofort. „Na los, frag ihn“, sage ich, den Blick immer noch fest auf den Schwarzen gerichtet. Erst als Dirty anfängt, auf ihn einzureden, wendet er sich langsam meinem Kumpel zu.
„Und?“, will ich wissen, als Dirty fertig ist.
„Le Gorille!“, ist seine Antwort. Einer seiner Freunde hinter ihm nickt - es ist der Araber. „Absolument“, schiebt der Schwarze hinterher.
„Wo finden wir den Kerl?“
Diesmal übersetzt Dirty, ohne dass ich ihn dazu auffordern muss. Die Antworten kommen im Mehrkanalton: Der Schwarze, der Araber und noch zwei aus der Gruppe reden zeitgleich. Ein kurzer Streit bricht aus, ihre Stimmen werden lauter. Endlich scheint sich durch Lautstärke, Überzeugungskraft und Mehrheitsbeschluss eine Meinung heraus zu kristallisieren: Der Schwarze sagt etwas, sein arabischer Kumpel nickt energisch und vom Rest kommt zögerliche Zustimmung.
„Was ist los?“, will ich ungeduldig von Dirty wissen. Er reagiert nicht.
Dafür plappert der Schwarze wieder drauflos, nachdem er sich zurück zu uns umgedreht hat. Er gestikuliert, zeigt und zupft sich zwischendrin nervös an seinem Basketball-Shirt.
„Irgendwas über einen Keller, nicht weit von hier. Wo der Typ rumhängen soll.“
„Er soll uns hinbringen. Zu dem Kerl, zu dem Keller – egal. Sag ihm das.“ Meine Stimme klingt herrischer als ich möchte.
Dirty übersetzt, aber der Schwarze schüttelt den Kopf. Streckt das Kinn vor und verschränkt die Arme. „Pourquoi, pépère?“ Den ‚Penner‘ muss Dirty mir nicht übersetzen.
Ich greife in die Tasche, hole einen zerknüllten 50-Euro-Schein heraus. Mit der Linken greife ich das Handgelenk des Schwarzen, drücke ihm das Knäuel Geld in die Finger. Danach schießt meine rechte Hand zu seinem Gesicht und ich packe ihn mit den Fingern an den Wangen. Während ich mein Gesicht an seins heranschiebe, drücke ich fester zu. Durch den Druck wölben sich seine Lippen nach außen – er sieht aus, als will er mich küssen. „Was für ein süßer kleiner Putzerfisch!“, wirft Dirty mit einem Grinsen von der Seite ein.
Der Kerl will sich entziehen, aber ich verstärke bloß den Druck. „Der Fuffi ist dafür, dass er uns den Weg zeigt. Der Quetschmund dafür, dass er nicht mehr so eine dicke Lippe riskiert.“ Ich warte einen Moment, während Dirty übersetzt, dann frage ich: „Klar?“
Er versucht zu nicken, aber meine Hand schränkt ihn ein. „Désosser – hab’s gerafft“, quetscht sich zwischen seinen Lippen hervor. Ich lasse ihn los. „Gut.“
Während er einen Schritt zurück macht, funkeln mich seine Augen an. Dann erst wirft er einen Blick auf den Schein, streicht ihn glatt. Ein wenig versöhnt sieht er uns beide nacheinander an und sagt mit einer energischen Kopfbewegung: „Allez!“
Die Jungs schieben sich alle vor uns, aufgeregt durcheinander redend, aus der Tür. Als wir zu ihnen treten, hat sich der Kern um den Schwarzen herum bereits in Bewegung gesetzt. Etwa ein halbes Dutzend Jungs und er joggen Richtung Westen parallel zu den Türmen. Einige der anderen, vor allem der jüngeren, sehen uns verwirrt an. Ich nehme an, sie haben nicht mitbekommen, worum es geht.
Dirty schlägt mir auf die Schulter und ruft fröhlich ebenfalls: „Allez!“ Er rennt los, ich folge ihm eine Sekunde später.

Die Nachzügler des Pulks haben wir an der äußersten Ecke des letzten Turmes eingeholt, aber mein Geld ist bereits hundertfünfzig Meter weiter voraus. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wenn wir den Anschluss verlieren, sie nicht auf uns warten werden.
Dirty und ich erhöhen das Tempo, passieren einen weiteren der Jugendlichen, bis nur noch vier vor uns laufen. Der Araber dreht sich um, grinst und ruft etwas. Die Truppe erhöht das Tempo.
„Die Pisser“, schiebt Dirty mit zusammengebissenen Zähnen in den Gegenwind, der ihm die Silben von den Lippen reißt. Mir macht das Spaß. Ich bin froh, mich wieder bewegen zu können. Vor allem kann ich mich der Illusion hingeben, dass wir uns auf ein Ziel zubewegen. Ich verdränge den Gedanken daran, dass Le Gorille möglicherweise nicht den leisesten Schimmer hat, wer Tiger ist, beziehungsweise wie man ihn finden kann.
Wir sprinten über einen leeren  Parkplatz, auf dem hinten zwei rußgeschwärzte Müllcontainer zu sehen sind. Die vier Jungs hüpfen elegant über einen Metallzaun und verschwinden außer Sicht. Wir beiden erhöhen das Tempo.

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Kommentare zu diesem Text


 FRP (18.05.10)
Wie immer: gerne gelesen. Du brauchst kein Lektorat - das ist fertig und druckreif, so wie es ist.

 Mutter meinte dazu am 18.05.10:
"Kein Text ist jemals so gut wie er sein könnte ..." ;)

Trotzdem vielen, vielen Dank.

 mondenkind antwortete darauf am 18.05.10:
also ich drucke ja schon. :) ich hoff, das darf ich. ^^

 Mutter schrieb daraufhin am 18.05.10:
:D

Ja.
Bitte.
Kitten (36)
(09.06.10)
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