Le Parkour

Roman zum Thema Verfolgung

von  Mutter

„Fuck“, entfährt es Dirty, als wir am Zaun ankommen. Metallstreben, etwas über einen Meter hoch, sichern die Treppe ab – dahinter geht es drei, vier Meter in die Tiefe. Die Jugendlichen rennen bereits auf die Ausfahrt zu. Sie sind offenbar einfach runtergesprungen.
„Le Parkour“, sagt Dirty und zuckt mit den Schultern. Er steigt über das Gelände, schiebt sich kurz zurecht, den Rücken zu mir.
„Bist du bescheuert?“, will ich zischend wissen, gerade, als er abspringt. Er kommt unten auf, rollt sich über die Schulter ab. Fährt etwas wackelig aus der Hocke hoch und setzt sich wieder in Bewegung. Während er auf die Ausfahrt zutrabt, ruft er mir zu: „Komm schon!“
Ich packe das grünlackierte Geländer fest mit beiden Händen und hüpfe entschlossen im Seitsprung hinüber. Meine Füße kommen auf dem schmalen Betonsims auf, scharren kurz unsicher. Ich werfe einen schnellen Blick nach unten. Scheiße, ist das tief, denke ich. Auf der Treppe tauchen weitere Jungs auf, die inzwischen aufgeholt haben. Ich höre den Spott aus ihren Stimmen, zwinge mich aber, nicht auf sie zu achten. Mit einer geschmeidigen Bewegung gehe ich auf ein knie runter, greife den groben Beton der Kante mit beiden Händen. Lasse mich langsam runter – erst ist meine Hüfte auf Höhe des Absatzes, einen Augenblick später drücke ich mit etwas ab und gleite mit dem Oberkörper tiefer. Meine Fußspitzen schaben dabei über die Wand unter mir, als würden sie demnächst  den Grund erreichen. Ein paar Meter sind’s noch, Jungs, denke ich sardonisch. Inzwischen hänge ich an den ausgestreckten Armen an der Wand – das Ganze hat kaum ein paar Sekunden gedauert, trotzdem frage ich mich, ob es nicht schlauer gewesen wäre, die Treppen zu nehmen. Mit zusammen gebissenen Zähnen stoße ich mich ab, lasse los.
Scharfer Schmerz zuckt mir durch den rechten Knöchel, als ich lande. Eine unwillkürliche Bewegung mit dem Fuß, um das Gleichgewicht zu halten, erneuert den Schmerz allerdings nicht. Nichts gebrochen, alles heil.
Mit einem Grinsen und dem Johlen der Gruppe hinter mir, nehme ich wieder Geschwindigkeit auf. Außer einem dumpfen Pochen wehrt sich mein Knöchel nicht.
Ich sprinte durch die Ausfahrt, mein Blick zuckt hin und her. Ich versuche, mich zu orientieren – etwa hundert Meter vor mir umrundet Dirty gerade die Ecke eines niedrigen Gebäudes. Ohne sich noch einmal umzudrehen.
Ärger steigt in mir auf und ich benutze ihn, um mich anzutreiben. Meine Beine pumpen auf und ab, als ich mit vollem Speed über den verwaisten Platz sprinte, auf die Ecke zu. Ohne viel Geschwindigkeit herauszunehmen, schieße ich um die Ecke, innerlich auf einen herben Zusammenstoß gefasst.
Der nicht kommt.
Ich kann Dirty vor mir sehen, steigere noch einmal das Tempo. Wir laufen an geschlossenen Läden entlang, die Schaufenster durch Rollläden aus Metall oder Pressspan verrammelt. Überall sind bunte Tags und Graffitis zu sehen, die ich nur verschmiert aus dem Augenwinkel wahrnehme.
Vor mir rennt eine Dirty eine breite Treppe runter, die Beine dabei merkwürdig gespreizt, um schneller laufen zu können. Ich muss daran denken, wie er hinten gesprungen ist. Le Parkour, in der Tat.
Übermut packt mich. Mein Blick zuckt zur Seite, wo das Plateau, auf dem wir laufen, abrupt neben dem Einschnitt, den die Treppe bildet, endet. Nicht mal drei Meter, denke ich mit einem Grinsen. Ohne langsamer zu werden, sprinte ich neben der Treppe lang, auf die Kante zu. Während ich mit vollem Schwung  abspringe, rudern meine Arme, ich versuche, mich zu stabilisieren. Meine Füße machen kleine runde Bewegungen, als würde ich weiterlaufen.
Dann springt mir der Asphalt entgegen. Ich presse ein „Scheiße“ heraus, bevor ich die Luft anhalte und mit voller Wucht aufkomme. Ohne nachzudenken reißt mich der Schwung nach vorne, ich ziehe den Kopf ein. Meine Schulter prallt auf den Boden auf, aber ich schaffe die komplette Drehung, rolle fast wieder auf die Füße. Nur meine Handflächen opfern ein Teil von sich dem rauen Belag. Ich nutze den restlichen Schwung, um hochzukommen und weiter zu laufen. Mit einem Grinsen schwenke ich neben Dirty ein.
„Alter!“, sagt er nur beeindruckt und erhöht sofort das Tempo. Ich versuche, das Pochen in meinen ramponierten Handflächen zu ignorieren und ziehe mit - nochmal lasse ich mich nicht abhängen. Keine hundert Meter vor uns kann ich die Jungs sehen.

Es geht weiter über Treppen, Geländer und einmal sogar von einem niedrigen Dach auf das nächste. Ich komme kurz ins Taumeln, als ich dort aufsetze, Kies verspritzend, falle aber nicht. Inzwischen haben wir aufgeschlossen, und der Araber wirft uns über die Schulter einen kurzen Blick zu. Ruft dann seinen Kumpels etwas zu, aber als ihr Versuch, erneut auszubrechen und uns zurückzulassen, scheitert, werden sie langsamer. Mein Herz hämmert mir im Hals, aber auch an ihnen ist die wilde Jagd nicht spurlos vorüber gegangen: Das Basketballshirt ist bereits dunkel vom Schweiß.
Der Anführer zeigt mit dem Arm nach vorne und ruft: „Il est là!“
Ich nicke, um Dirty anzuzeigen, dass ich keine Übersetzung brauche. Er grinst, als hätte er sich die Mühe ohnehin nicht gemacht.
Vor uns liegt ein flaches, langgestrecktes Gebäude, vermutlich ein ehemaliges Einkaufszentrum. Das platte Dach ist nicht höher als drei Meter, weiter hinten kann ich auch höhere Auswüchse erkennen. Die gesamte Front wird von Rollläden eingenommen, keine einzige ohne Bild oder Slogan aus Farbe. Mittig senkt sich die Straße etwas ab – offenbar ging es hier runter in die Parkanlage. Auch hier ist alles verrammelt.
Die Jungs laufen auf die Seite des Gebäudes zu, wo sich mehrere kleine Anbauten aus Waschbeton befinden. Ich nehme an, hier haben früher die Müllcontainer drin gelagert.
Inzwischen sind die niedrigen Container leer, die Türen aus Blech eingetreten und aus den Angeln gerissen. Geschickt springt der Schwarze an das brusthohe Gebilde, zieht sich mit einer flüssigen Bewegung auf das grobmaschige Drahtdach hoch. Mit einem Satz ist er auf dem Dach der Anlage, läuft los.
Nacheinander folgen auch die restlichen Jungs, Dirty und ich sind die nächsten. Der Draht oben auf dem Anbau funktioniert wie ein rudimentäres Trampolin – ich bin überrascht, mit wie viel Schwung ich auf dem kiesbedeckten Flachdach lande. Von den Jungs sind nur noch zwei zu sehen – irritiert laufen Dirty und ich in ihre Richtung. Gerade verschwinden die letzten beiden, als würden sie irgendwo herunter klettern.
Einen Augenblick später stehen Dirty und ich ein weiteres Mal am Abgrund: Vor uns tut sich ein riesiges Loch auf. Das Dach des Einkaufszentrums ist eingestürzt und gibt den Blick auf das zerstörte Innere frei.
Durch die Ruine entsteht eine Art Atrium, von dem aus man eine mit Trümmern übersäte Fläche unter freiem Himmel und zwei Stockwerke des Gebäudes einsehen kann. Teile der Freifläche sind offenbar bereits von Schutt und Müll befreit worden – dort ist der staubige Beton zu erkennen. An verschiedenen Stellen stehen wackelige Tische und alte Campingstühle, an einer Stelle kann ich im ersten Stock durch den offenen Bruch des Mauerwerkes mehrere Jungs an einem Tischkicker erkennen.
Zwei Kleinere, vielleicht acht oder neun, spielen mit einem Fußball, den sie immer wieder gegen eine der letzten erhaltenen Mauern kicken.
Unsere Kundschafter versammeln sich gerade unten an einer improvisierten Kletterstrecke, die zu unseren Füßen vertikal in den Abgrund führt.
Dirty macht eine einladende Handbewegung, bedeutet mir, zuerst den Weg nach unten anzutreten. Ich nicke grimmig, gehe in die Hocke und lasse mich geschickt über den Rand gleiten. Wohin auch immer uns dieser Klettertrip führen wird – ich denke nicht weiter drüber nach. Bevor ich unter der Kante verschwinde, sehe ich das Gesicht des Franzosen, der mir vergnügt zulächelt.

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Kommentare zu diesem Text


 mondenkind (19.05.10)
ah, ich mag solche in-move-texte.. :)

 Mutter meinte dazu am 19.05.10:
Und ich mag, dass Du das magst. :)

Danke.
FliegendesOink (27)
(15.07.10)
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 Mutter antwortete darauf am 15.07.10:
Mist, Du hast Recht ... :)
Dann muss einer von beiden den Titel wohl abgeben. Jedenfalls sobald irgendwer eins von den Dingern mal haben will ... :D

Zum Schnellklicken: Sehr gut. So lob ich mir das. Allerdings kommt morgen der vorerst letzte Teil - dann bin ich zwei Wochen ohne Netz. :-/

Danke sehr. Made my day ...
FliegendesOink (27) schrieb daraufhin am 16.07.10:
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 Mutter äußerte darauf am 16.07.10:
Sorry ... :-/

Viel Glück!
FliegendesOink (27) ergänzte dazu am 16.07.10:
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FliegendesOink (27) meinte dazu am 16.07.10:
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