Silberrücken

Roman zum Thema Begegnung

von  Mutter

Sobald ich unten in dem künstlichen Beton-Canyon stehe, bereue ich, hier reingeklettert zu sein. Um mich herum verteilt sehe ich fast zwei Dutzend Kinder, Jugendliche und junge Männer. Kaum Mädchen. Und die Jungs haben einen Blick drauf, den ich gut kenne - aus meiner Zeit im Jugendheim.
Es ist eine Mischung aus Taxieren, Abwägen und Verachten. Sie versuchen mit forschenden Blicken zu ergründen, was ich kann, wer ich bin und was zum Teufel ich von ihnen will. Und ganz wichtig: Ob ich mich gegen sie wehren kann.
Ich verachte mich selbst, als mich ein Gefühl von Erleichterung durchflutet, während Dirty neben mir auf dem Boden aufkommt. Seine Schulter an meiner fühlt sich gut an.
Die vier Jungs, die uns hergeführt haben, stehen abwartend ein Dutzend Meter weiter – sie reihen sich nahtlos in den Halbkreis ein, der sich langsam um uns bildet. Diejenigen der Canyon-Bewohner, die ohne Zögern auf uns zukommen, sind älter als die anderen. Drei oder vier sind sicher fast zwanzig. Mehrere von ihnen tragen trotz der Kälte Muskelshirts, die die durchtrainierten Schultern zeigen. Was soll man in so einem blöden Ghetto außer Sport auch machen?
Der Schwarze spricht mit einem der Alphatiere, deutet mehrfach in unsere Richtung. Mir fällt auf, dass er das Geld scheinbar nicht erwähnt. Vielleicht sollte ich dazu etwas sagen, denke ich sardonisch.
Einer der Älteren tritt nach vorne, zieht hörbar die Nase hoch. Rotzt vor uns in den Dreck – nicht dicht genug an unseren Schuhen, um uns zu  treffen, aber immerhin so dicht, dass klar ist: Wir sind gemeint! Er ist athletisch gebaut, mit schmaler Hüfte in klassischer V-Form. Besitzt ein hübsches Gesicht, das nur leicht durch ein Kreuz aus zwei Narben auf der rechten Wange, direkt unter dem Auge, entstellt wird. Der Kerl macht bestimmt Schnitt unter den Mädels im Ghetto. Ich frage mich kurz, wie viele Mädchen er bereits zu minderjährigen Müttern gemacht hat.
Er verschränkt die Arme vor der Brust, um sich aufzupumpen. Kommt mir vor wie ein liebestoller Hirschkäfer, der bereit ist, sich in die Hörner seines Gegners zu stürzen.
Plötzlich bemerke ich eine Unruhe im Rudel – die Aufmerksamkeit wendet sich etwas zu unserer Linken. Ein paar der Jungs machen sogar einen halben Schritt zurück.
„Le Gorille“, zuckt es mir durch das Hirn. Und ich nicht mehr so sicher, ob ich den Silberrücken wirklich treffen möchte.
Durch eine Gasse, die schweigend gebildet wird, kommt der Boss der Gang auf uns zu. Er ist vielleicht einen halben Kopf kleiner als ich, aber fast so breit wie Dirty und ich nebeneinander. Ein Kreuz wie ein Doppelspind, würde Dirtys Trainer sagen. Er trägt ein weißes Unterhemd, das die behaarten Schultern zeigt und uns unmissverständlich klarmacht, woher der Kerl seinen Namen hat. Die ursprünglich schwarze Stahlwolle, die ihm auf den massiven Oberarmen, den Schultern und vor allem den Nacken wächst, färbt sich an vielen Stellen bereits silber-weiß. Das schütter werdende Haar ist in einen dünnen Pferdeschwanz im Nacken zusammengebunden, die Stirn schon fast kahl. Schwarze Cargopants und grobe Outdoor-Sandalen vervollständigen sein Outfit.
Er umrundet einen der Geröllhaufen und hält ein paar Meter vor uns an. Der Schwarze tritt zu ihm, vermutlich, um Bericht erstatten. Der Jugendliche redet schnell und leise, der Affenmann schweigt und nickt. Und kratzt sich den runden Bauch. Fasziniert betrachte ich seine riesigen Hände und die unglaublichen Arme, die zu lang für seinen Körper erscheinen. Er kommt mir vor wie ein Mitglied einer fahrende Truppe, der für Kleingeld Eisenstangen verbiegt.
Ich lasse den Blick über die restlichen urbanen Jäger gleiten, die den Ausgang der Begegnung mit hungrigen Blicken verfolgen. Mir ist klar, dass gerade über unser Wohl und Wehe entschieden wird.
Unwillkürlich zucke ich zusammen, als Le Gorille mit einem heftigen Nicken den Bericht des Schwarzen abbricht und einen großen Schritt auf uns zumacht. Reflexartig wischt er sich die Hand am Oberschenkel ab und bietet sie uns an. Überrascht schüttle ich seine Pranke – er hat einen festen, aber nicht übertriebenen Händedruck.
„Bonjour“, sagt er und mir fällt sofort der Akzent auf, mit dem er sein Französisch spricht. Während ihm Dirty antwortet und zu einer Erklärung ansetzt, entgegne ich: „Buongiorno!“ Beobachte ihn dabei aufmerksam.
Überrascht halten sowohl Dirty als auch der Silberrücken inne. „Sie sprechen meine Sprache?“, fragt er mich nach einer kurzen Pause in fließendem Italienisch. Ich nicke mit einem Lächeln. „Meine Großmutter stammt aus Kalabrien.“
Sein plattes Gesicht verzieht sich einem Grinsen und enthüllt zwei Reihen makelloser Zähne. „Ich bin Sarde. Man kann zwar nicht gerade sagen, dass wir große Freunde der Kalabresen wären – aber hey!“ Er macht eine ausholende Bewegung und fährt fort: „Besser als Franzosen allemal.“ Er bekräftigt seine Aussage mit einer vollen, sympathischen Lache.
Und plötzlich begreife ich die Situation. Mir wird klar, dass wir uns nie in Gefahr befunden haben: Das hier ist kein Gangleader, der die Jugendlichen in der Betonruine zu Raubtieren abrichtet. Bei meiner Entdeckung kann ich mir ein Lächeln nicht verkneifen.
„Sie sind Sozialarbeiter, oder?“
Er nickt, sieht überrascht von mir zu Dirty. Mein Begleiter verzieht mürrisch das Gesicht – er versteht von unserem schnellen Italienisch kaum ein Wort.
„In Deutschland habe ich früher ebenfalls mit Jugendlichen gearbeitet.“ Ich deute auf die Jungs um uns herum, rede weiter. „Ich bin Erzieher.“
„Kommen Sie, wir gehen rein“, bietet er uns an und macht eine einladende Handbewegung. „Hier draußen ist mir das Gequatsche zu ungemütlich. Und zu viele Lauscher!“ Dann schiebt er den Schwarzen gutgelaunt vor sich her und schlägt ihm auf die Schulter.
„Was zum Teufel geht hier ab?“, fragt Dirty verärgert, als ich mich daranmache, Le Gorille zu folgen.
„Wir sind unter Freunden“, entgegne ich kryptisch und zwinkere ihm zu. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als mir zu folgen.
Die Jugendlichen, die ebenfalls keine Ahnung haben, was gerade passiert, bleiben ratlos zurück. Manche entschließen sich, uns zu folgen – vermutlich, um uns im Auge behalten zu können. Andere zucken nur mit den Schultern und gehen zurück an was auch sie immer sie getan haben, bevor wir aufgetaucht sind.
Le Gorille geht gerade in das untere der beiden Stockwerke, aus denen das Gebäude besteht. In die obere Etage kommt man entweder über behelfsmäßige Leiter wie die, über die wir reingekommen sind, oder über Treppen im düsteren Inneren, vermute ich.
„Hier entlang“, lädt er uns freundlich ein und zeigt den Gang einer Einkaufspassage entlang. Fast alle Fensterfronten, die es einmal gegeben haben mag, sind längst eingeschlagen und –getreten, und hier und da  finden sich noch kleine Haufen der eckigen Glassplitter, die beim Zerspringen von Sicherheitsglas entstehen. An verschiedenen Stellen sind größere Rußflecke zu sehen und alle Geschäfte sind komplett ausgeräumt.
Das einzige Licht dringt durch schmale Schlitze in den Rollläden rein und taucht den Gang in die düstere Atmosphäre einer Katakombe. Durch die Gänge zieht ein dezenter Duft von Lösungsmitteln.
„Was ist hier passiert – die Unruhen?“
Er nickt, während er uns ein paar Meter weiter zu einem kleinen Geschäft führt. Drinnen brennen mehrere nackte Glühbirnen. Sieht aus, als hätte sich hier früher ein Reisebüro befunden - auf dem dichten beigen Teppich steht eine Palme aus Pappe in der Ecke. „2005 haben sie hier alles auseinandergenommen. Nicht weit von hier war das Epizentrum der schwersten Auseinandersetzungen. Eines der Zentren.“ Er zuckt mit den massigen Schultern. „Danach hat sich nie wieder jemand die Mühe gemacht, hier Geld zu investieren.“
Der Sozialarbeiter bleibt am Eingang stehen und bietet uns mit einer Geste Stühle aus Metall und Kunstleder an, die vor einem kleinen Schreibtisch mit einem alten Computer stehen. Sein Büro, nehme ich an.
Gerade als wir uns gesetzt haben, tritt er an uns heran, streckt uns erneut die Hand entgegen und sagt: „Verzeihung. Bruno Fazzolari ist mein Name. Aber die Jungs nennen mich meistens Big Bruno. Oder Fazzo.“ Er spricht beide Spitznamen mit einer französischen Betonung aus.
Ich wende mich Dirty zu und übersetze. Er grollt mich kurz an, bevor er sich mit einem freundlicheren Nicken Bruno zuwendet.
„Oder sie sagen Le Gorille“, antworte ich mit einem Lächeln.
Er grinst, zuckt wieder mit den Schultern. „Oder das, ja.“ Der Name scheint ihm nicht unangenehm zu sein.
Zügig geht er um seinen Schreibtisch herum und gleitet erstaunlich gewandt auf den Drehstuhl, der dahinter steht. Dann lehnt er die Unterarme auf den Tisch, verschränkt die fleischigen Finger ineinander und sieht uns mit ernstem Blick an. „Was kann ich für Sie tun, Gentlemen? Was verschafft der Banlieue die Ehre Ihres Besuches aus Deutschland? Allemagne“, fügt er an Dirty gewandt hinzu. Der Franzose nickt bloß, wartet auf meine vollständige Übersetzung.

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (20.05.10)
Die Texte von "Mutter" (ich verwende hier Anführungstriche, damit keiner auf die Idee kommt, ich könne evtl. meine Mutter meinen) haben meist eine gutgewählten, neugierig machenden Titel, so auch bei "Silberrücken". Finde ich. Dannach schließt sich meist eine Geschichte an, bei der zwei Männer an der Bar hocken und später wird ...äh... kopuliert. Meist mit Frauen, homoerotisches ist eher selten, so weit ich mich erinnere. Das ganze in einem etwas überbetont-lässigen Stil von alter (?) Pilp Fiction. So mein Vorurteil. "Silberrücken" überraschte mich mit einer ganz anderen Story, die ich auch mit großem Interesse ganz zu Ende gelesen habe. Das einzige, was ich nicht verstehe, warum es erst zu dieser (eigentlich unpassenden) Büro-Schreibtisch-Situation kommen muss, bis der Gorilla fragt, was das Anliegen seiner Gäste ist. Also ich finde man kann das durchaus bis zum Ex-Reisebüro retadieren, aber dieser Business- oder Philipp-Marlowe-Touch zum Schluß? Also ich weiß nicht... Aber ansonsten: Prima!

 Mutter meinte dazu am 20.05.10:
Hmmm-hmmm ...
Schreibtisch. Den brauche ich später noch - allerdings muss ich mir natürlich die Frage gefallen lassen, ob das dafür sinnvoll genug eingebunden ist.
Das schaue ich mir noch mal an. Danke.

Und danke. :)

Aber: Zwei Männer an der Bar? Die später mit Frauen kopulieren? :D
Du machst mich neugierig auf meine eigenen Texte ... ;)

 Melodia antwortete darauf am 21.05.10:
;-)

 Melodia (21.05.10)
und wieder eine unerwartete wendung.. dachte die treffen jetzt wirklich son bandenchef... schön wenn es anders kommt als man es erwartet (bei lektüren!)
ach, kleine anmerkung: es heißt "buongiorno" oder "buon giorno"... bist wohl nur abgerutscht beim tippen....

lg
(Kommentar korrigiert am 21.05.2010)

 Mutter schrieb daraufhin am 21.05.10:
Stimmt, Tippfehler ...
Danke. :)

Gibt es denn keinen Unterschied, ob man das zusammen oder getrennt schreibt? Ist das reine Geschmacksfrage?

 Melodia äußerte darauf am 21.05.10:
also soweit ich weiß ist es völlig egal.. es gibt glaube ich auch die variante "bongiorno"... aber das ist wohl eher dialekt...

lg

 Mutter ergänzte dazu am 21.05.10:
Ah, okay ... :)

Danke.
Perkele (40)
(22.05.10)
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 Mutter meinte dazu am 23.05.10:
Ach, da höre ich was von Dir, und Du bist gleich Kurztext des Tages - wie schön. :)

Danke ...
Und ja, mach mal, kannste bei mir hier imi Wald auf'n Tee vorbeikommen. :)
Perkele (40) meinte dazu am 24.05.10:
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