V8

Roman zum Thema Suche

von  Mutter

Unten vor der Tür bleiben wir einen Augenblick stehen. Dirty wartet darauf, dass ich sage, wo es lang geht. Ich dagegen versuche, mich zu orientieren. Die verschiedenen Bilder von Tiger, die sich in meinem Kopf wie durchgepauste Silhouetten übereinander legen, zu ordnen. Gegenüber sehe ich drei Jungs, einer davon ist der kleine Araber. Er nickt mir zu, als er meinen Blick auffängt.
„Wohin jetzt?“, will Dirty ungeduldig wissen.
Noch in Gedanken, drehe ich mich langsam zu ihm um. „Haben wir nicht noch eine Adresse? Die uns Big Bruno gegeben hat?“
„Der Mechaniker.“
Ich nicke. Dirty kramt in seiner Hosentasche, holt den kleinen Zettel raus.
„Können wir dahin laufen? Oder brauchen wir das Auto?“
Dirty zögert. Sieht sich um, als könnte er sich so orientieren. Entfernungen abschätzen. „Zwanzig Minuten vielleicht? Zu Fuß? Möglicherweise eine halbe Stunde.“
Ich habe keinen Bock, mir schon wieder einen Kopf um den Wagen zu machen. „Lass uns laufen“, beschließe ich und setze mich in Bewegung. „Wo müssen wir hin?“
Dirty zögert kurz, grinst dann. Weist mir die Richtung. Kurz darauf läuft er zügig an mir vorbei und ruft: „Komm schon, du Lahmarsch. Alter Sack!“
Ich erhöhe das Tempo, um ihn einzuholen.

Keine Viertelstunde stehen wir vor einer Werkstatt, die ein flaches aber breites Gebäude komplett einnimmt. In die gesamte Front sind mehrere Rolltore eingelassen, von denen bis auf zwei alle offen stehen und den Blick auf das ölgetränkte mechanische Innere freigeben.
Überall stehen Autos – sportliche, tiefergelegte, getunte. Daneben alte, zerbeulte und rostige Kisten, die kaum noch fahrtüchtig aussehen. Ich nehme an, die reparieren hier alles. Ich kann mindestens ein halbes Dutzend Jungs in Blaumännern sehen, genauso verschmiert wie ihr Arbeitsplatz. Manche sind Vierzig, Fünfzig, andere junge Kerle, vielleicht gerade volljährig.
Einer der Älteren kommt auf uns zu, wischt sich die Hände an einem Tuch ab – die Geste ist vollkommen sinnlos. Ich kann nicht bestimmen, was dreckiger ist: Seine Hände oder der Lappen. Oben auf dem runden Schädel ist er fast kahl, während ringsherum ein Kranz weicher grauer Haare steht. Es sieht aus, als würde er einen Heiligenschein aus Locken tragen.
„Bonjour“, begrüßt er uns. Fragt uns, wie er uns helfen kann. Ich schätze, er geht davon aus, dass wir einen Wagen abholen wollen. Warum sonst kommt jemand zu Fuß in eine Kfz-Werkstatt?
Dirty erwidert den Gruß und erklärt ihm, dass wir einen seiner Mitarbeiter suchen.
„Alain?“, fragt er misstrauisch. Macht sofort einen halben Schritt zurück. Betrachtet uns in einem neuen Licht - keine Ahnung, was er jetzt in uns sieht. Gangster? Zivilbullen, oder vielleicht Sozialarbeiter? Ich kann mir nicht vorstellen, in welche Schublade Dirty und ich gemeinsam passen.
„Sag ihm, dass Le Gorille uns schickt. Jede Wette, der Name macht uns gleich halb so gefährlich.“
Schon bei der Erwähnung des Namens zuckt der Blick des Mechanikers zu mir rüber.
„Le Gorille?“, will er wissen. „Vous connaissez Big Bruno?“ Ich nicke.
Er dreht sich halb nach hinten um und brüllt: „ALAIN!“ Grinst uns dann an und sagt noch etwas in schnellem Französisch. Dirty nickt, übersetzt aber mit einem fetten Grinsen erst, als sich der Schrauber langsam entfernt. „Er sagt, wir sollen ihn nicht zu lange beanspruchen. Alain hätte noch einen V8-Motor, den er komplett auseinandergenommen und vor Feierabend wieder zusammensetzen müsse.“
In einem der Rolltore taucht ein junger Mann, höchstens Anfang Zwanzig auf. Er sieht auf eine kantige Art gut aus – wie ein paar unserer türkischen Türsteher. Und er besitzt ruhige Augen – da fehlt die Getriebenheit, die ich bei meinen Jungs im Jugendzentrum so oft gesehen habe und die mir auch hier bei den Kids sofort aufgefallen ist. Als wäre Alain irgendwo angekommen. Der kommt bei den Mädchen bestimmt gut an. Alleine schon, weil er Arbeit hat, denke ich dann bitter.
Der Ältere wechselt ein paar Worte mit ihm, deutet in unsere Richtung. Alain beobachtet uns – seinen Ausdruck kann ich allerdings nicht deuten. Frage mich, ob er vielleicht einfach gleich auf der Stelle umdreht und einen Abgang macht - V8-Motor hin oder her.
Langsam kommt er rüber, beäugt uns dabei immer noch misstrauisch.
„Hey“, begrüße ich ihn. Biete ihm nicht die Hand an – in Gedanken hat er sie sich am Overall gerieben, und wie bei seinem Kollegen lässt sich keine nennenswerte Säuberung erkennen.
„Du bist Alain?“ Er nickt, als Dirty übersetzt. Ich fahre fort: „Wir sind Freunde von einem alten Kumpel. Lucien Lefevre – Le Tigre?“
Er zuckt zusammen, als er den Namen hört. Als Dirty geendet hat, antwortet er schnell und ohne Zögern.
„Er sagt, von Tiger hat er seit Jahren nichts mehr gehört. Aber es stimmt – sie seien gute Freunde gewesen damals. Was passiert ist, will er wissen.“
Ich lasse Dirty kurz erklären, dass Tiger zu Unrecht von den deutschen Behörden beschuldigt wird. Alain nickt wissend – so fangen hier im Ghetto vermutlich viele Geschichten an.
„Le Gorille hat uns deinen Namen gegeben – er meinte, wenn noch jemand Verbindungen zu Tiger hätte, dann du.“
Er schlitzt die Augen. „Wir haben keinen Kontakt gehabt, seit er weg ist.“
„Hat er sonst noch irgendwelche Spuren hinterlassen? Gibt es noch Dinge, die ihm gehört haben?“ Ich muss an das Buch in meiner Hosentasche denken. „Bücher zum Beispiel?“
Alain schüttelt den Kopf. Ich spüre Verzweiflung in mi aufsteigen. Warum muss sich dieser Junge als so ein verdammtes Phantom entpuppen?
Alain sagt etwas auf Französisch. Ungeduldig haue ich Dirty gegen den Oberarm, bevor der Mechaniker den Satz beendet hat. „Ja doch!“, schiebt Dirty zwischen den Zähnen hervor. „Er sagt, es gibt noch ein Bild von Tiger.“
„Was für ein Bild?“ Ich kann mein Herz in meinem Hals schlagen spüren, fiebrig und unruhig. „Wo ist es?“
Alain erklärt etwas, deutet nach hinten. Sieht uns an, redet weiter, wartet auf eine Reaktion. Ohne zu übersetzen, stimmt Dirty zu.
„Bon. Jusqu'à alors“, sagt Alain nur und geht nach hinten weg.
„Spinnst du? Was hat er gesagt?“, fahre ich Dirty zischend an. Ich fühle mich, als würde ich an glatten Fliesen immer weiter auf einen Abfluss zurutschen. „Warum hast du nicht übersetzt?“
„Entspann dich!“, sagt Dirty ohne Aufregung und wendet sich zum Gehen. „Wir kommen in zwei Stunden wieder. Dann hat er Feierabend.“ Er grinst bis über beide Ohren. „Bis dahin muss er arbeiten – hat irgendwas über einen V8-Motor, den er wieder hinbekommen muss, erzählt.“ Dirty geht die Straße entlang, ich folge ihm notgedrungen. „Und? Was dann? Was weiß er? Was ist das für ein Bild, von dem redet?“
„Was weiß ich. Er hat eingewilligt, uns nachher hinzubringen. Er wird es uns zeigen.“ Dirty zuckt mit den Schultern. „Bis dahin … warten wir.“ Er setzt sich auf eine niedrige Mauer und sieht in den Himmel. Die Wolkendecke ist aufgerissen, vereinzelt kommt die Sonne durch. Es wird fast warm. Mit zusammengekniffenen Augen schaut er weiter nach oben.
Mit einem Seufzer setze ich mich neben ihn. „Was machen wir, wenn uns das wieder nicht weiterhilft? Uns gehen die Spuren aus.“
Dirty hält die Augen geschlossen. Ich spüre, wie er neben mir mit den Schultern zuckt. „Irgendwas wird sich schon finden. Stück für Stück. Fang mit den Ecken an – hast du das nicht mal erzählt? Wer hat das gesagt, dein Vater?“
Ich antworte nicht, schaue zweifelnd. Irgendwann drehe ich mich zu ihm um, betrachte seine stoische Gelassenheit. Muss darüber lächeln. „Hast du in den letzten Tagen einen Crashkurs in ganzheitlichem Zen bekommen? Wo war ich da?“
Dirty grinst zurück. „Vielleicht bin ich einfach schon zu lange mit dir unterwegs. Ich habe Hunger – suchen wir uns was zu essen?“
Mein Magen knurrt ebenfalls. Mit einem Nicken stemme ich mich von dem Mäuerchen, strecke mich. Versuche so zu tun, als würde ich in den nächsten zwei Stunden nicht vor Ungeduld umkommen.
„Da vorne war ein Supermarkt.“

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Kommentare zu diesem Text

Perkele (40)
(09.06.10)
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 Mutter meinte dazu am 09.06.10:
Wolltest Du nicht eh nach Berlin kommen? Dann stelle ich Dir welche vor ...
Mudda kannste auch gleich treffen. :D

Danke schön. :)
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