Filz

Roman zum Thema Macht

von  Mutter

„Wissinger, wir haben doch …“ Wehmeier ist offensichtlich leicht von der Rolle – die Ankunft des neuen Mitspielers irritiert ihn. Mich auch. „Wieso Hamburg?“, frage ich, an die Berliner Kommissare gewandt. „Ist es üblich, SoKos länderübergreifend zu bilden?“
Dombrowski sieht wütend aus, aber zur Abwechslung bin ich mir sicher, dass nicht ich die Ursache bin.
„Haben Sie Frau Karmann und Herrn Monteleone noch nicht über den neuen Stand informiert?“, fragt Wissinger harmlos. Ich entdecke einen Hauch norddeutscher Schnoddrigkeit in seiner Betonung.
„Wir waren gerade dabei“, quetscht Wehmeier zwischen den Zähnen hervor.
Aber ich bin nicht bereit, ihn so schnell vom Haken zu lassen. „Sie erwähnten einen weiteren Mord – vor wenigen Tagen. Aber das ist hier in Berlin geschehen, richtig? Nicht in Hamburg?“ Diesmal richte ich meine Frage direkt an Wisssinger. Er schüttelt den Kopf und seine vollen Haare. Sieht kurz zur Seite auf die anderen beiden, antwortet dann: „Der letzte Mord ist in der Tat hier in Berlin geschehen. Aber nicht alle Taten wurden hier verübt.“
„Wie viele Morde gibt es?“, will ich wissen.
Bevor Wehmeier antworten kann, sagt Wissinger: „Wir wissen noch nicht hundertprozentig, welche exakt in das Muster passen. Fest steht, dass es ältere Fälle aus Hamburg gibt, auf die das Tatprofil voraussichtlich ebenfalls passt.“
Langsam reime ich mir zusammen, was hier passiert. Wissinger hat als Teil der SoKo offenbar dafür plädiert, mit offenen Karten zu spielen und Manu und mir die Wahrheit zu sagen. Wehmeier, oder, wahrscheinlicher, Dombrowski, haben sich dagegen ausgesprochen. Wollten uns nur von der Hauptmann erzählen. Durch sein Erscheinen hat Wissinger jetzt Tatsachen geschaffen. Wahrscheinlich bietet so eine SoKo zwischen verschiedenen LKAs jede Menge Gelegenheiten für Nickligkeiten, Stutenbisse und Grabenkämpfe.
„Warum SoKo Stern? Warum haben Sie sie so genannt?“ Für einen kurzen Augenblick frage ich mich, ob ich den Bogen überspanne – meine Rolle übertreibe. Beruhige mich sofort. Die Frage liegt sicher nahe, wenn man nichts von den Tätowierungen weiß.
Diesmal tauschen alle drei Polizisten kurze Blicke aus, bevor Wehmeier sagt: „Deswegen wollten wir mit Ihnen reden. In der Hoffnung, dass Sie uns weiterhelfen können. Die Forensik versichert uns, dass Luisa Karmann nicht im Besitz einer Tätowierung war – ist das korrekt?“
Ich bemerke Manus durchdringenden Blick aus dem Augenwinkel, nicke aber einfach mit dem Kopf. „Sie hatte keine. Aber sie wollte sich stechen lassen. Warum fragen Sie?“
„So etwas haben wir uns gedacht. Können Sie uns etwas über das Motiv sagen?“
Ich denke kurz darüber nach, sie ins Leere laufen zu lassen. Manu würde mir vermutlich nicht ins Wort fallen, mich erstmal machen lassen. Entscheide mich dagegen - beschreibe den drei Ermittlern, was für ein Motiv sich Luisa sich machen lassen wollte. Erwähne Manu.
Wissinger fragt bei ihr kurz nach, sie bestätigt meine Aussage.
Mit meinen Ausführungen zur facella halte ich ihre SoKo zusammen, biete ihnen den Kitt, der die Zusammenarbeit zwischen Berlin und Hamburg weiterlaufen lassen kann. Dafür will ich im Gegenzug ebenfalls Informationen.
„Was ist mit den Fällen in Hamburg? Wie passt das alles zusammen? Gehen Sie immer noch davon aus, dass es Tiger war?“
Muss ich ihnen erzählen, wie er wirklich heißt? Wo er herkommt? Muss ich wirklich ihre Arbeit für sie machen? Ich entscheide mich in diesem Fall dagegen – für heute haben sie genug von mir bekommen. Nach wie vor bin ich nicht völlig von Tigers Schuld überzeugt. Ihnen jetzt alles, was ich von ihm weiß, zu erzählen, käme mir vor, als würde ich ihn verraten. Mir ist völlig klar, wie absurd meine Gefühle sind, aber ich kann mich nicht gegen sie wehren.
„Darauf können wir Ihnen zu diesem Zeitpunkt noch keine umfassenden Antworten geben. Wir sind immer noch dabei, alle Teile zusammen zu fügen. Allerdings haben wir jetzt eine handfeste Spur, der wir nachgehen können, und ich hoffe, dass wir damit rasche Ergebnisse erzielen werden.“ Wehmeiers Worte machen mir klar, dass ich schnell handeln muss, wenn ich vor den Bullen bei Horst Mann Wedel sein will. Die Frage, warum mir das so wichtig ist, schiebe ich beiseite. Will mich der möglichen Antwort nicht stellen – ich weiß nur, es ist wichtig.
Ich nicke, als würden mich die Worte des Kommissars überzeugen.
„Können Sie uns Kopien der Entwürfe zukommen lassen, die Sie für Ihre Schwester gezeichnet haben?“ Manu nickt auf Wissingers Frage. „Wo Luisa das Tattoo machen lassen wollte, wissen Sie nicht, oder?“, fragt er weiter, die Stimme tief und voll. Vertrauenserweckend. Er besitzt die breiten Schultern und die schmale Hüfte eines Schwimmers und ich bilde mir ein, dass er sich ein wenig nach vorne gelehnt hat. Als würde er uns die Hand reichen, seine Hilfe anbieten. Bei ihm können wir loslassen, ihm Vertrauen schenken, scheint die Geste sagen zu wollen. Aus dem Bauch heraus beschließe ich, dass ich ihm nicht traue. Manu wirft mir einen kurzen Blick zu und fragt: „Du?“ Ich schüttle den Kopf. Sie kopiert die Geste, gibt sie damit an den Hamburger Kommissar weiter. Ich bin mir völlig im Klaren darüber, dass der Preis für ihre Mitttäterschaft offene Karten sein werden – die ich später vor ihr auf den Tisch werde legen müssen. 
„Sie würden uns einen großen Gefallen tun, wenn Sie im Anschluss an dieses Gespräch mit einer unserer Mitarbeiterinnen die anderen Opfer durchgehen könnten. Vielleicht ergibt sich eine Verbindung, die wir bisher übersehen haben. Wären Sie so gut?“ Wissinger benutzt seine sonore Stimme, als wolle er uns beschwören.
Manu nickt, ich schließe mich an. Frage mich dabei, wie Wehmeier und Dombrowski an diese Informationen kommen wollten, wenn sie uns über die Morde in Hamburg im Dunklen halten wollten.
Wissinger beendet das Gespräch, wickelt uns ab. Sagt, wir sollen in Kontakt bleiben, drückt uns seine Visitenkarten in die Hand. Wir versprechen, alles zu tun, was wir können, um zu helfen. Bevor uns der Hamburger Kommissar wohlwollend zur Tür schiebt, hält er kurz inne, um den anderen beiden die Gelegenheit zu geben, uns zu verabschieden.
„Vielleicht ist am besten, wenn Dombrowski sich noch einen Moment dazusetzt“, sagt Wehmeier, als uns Wissingers breiter Rücken bereits abschirmt. Er schüttelt gutgelaunt den Kopf. „Ich bin sicher, Ihre Assistentin bekommt das hin. Ich würde gerne noch mit Ihnen beiden reden.“
Damit sind wir an der Tür. Ein letzter männlicher Händedruck und eine kurze Anweisung, und er überlässt uns der Obhut von Frau Kierer, der Brünetten. Die Tür schließt sich hinter uns und für einen Moment bin ich versucht zu lauschen, wie laut die Auseinandersetzung hinter uns wird. Dazu kommt es nicht - Frau Kierer führt uns mit einer freundlichen Einladung raus auf den Gang, in ein weiteres Zimmer. Verschwindet kurz, um uns Wasser und Kaffee sowie einen kleinen Teller Kekse zu bringen. Während wir uns Tassen und Gläser füllen, schließt sie die Tür und setzt sich mit einem Ordner zu uns an den funktionalen Tisch.
„Sind Sie Teil der SoKo?“, frage ich, während sie in den Unterlagen blättert. Sie lächelt mich mit schönen Zähnen an. Ich schätze sie auf Anfang Dreißig.
„Ja, als Assistentin von Herrn Wehmeier bin ich quasi automatisch Teil der SoKo geworden.“
„Und Wissinger?“ Ich frage mich, warum uns der Hamburger so bereitwillig Frau Kierer überlassen hat, wenn sie klar in Wehmeiers Lager gehört. Hätte eher erwartet, dass er uns mit einem seiner eigenen Leute reden lassen will. „Hat der den Laden hier jetzt übernommen?“
Sie grinst. Schüttelt leicht den Kopf. „Nicht wirklich. Klaus und Harald kennen sich schon ziemlich lange. Zwischen den beiden gibt es zwar eine gewisse Rivalität – aber die tut den Ermittlungen sicher eher gut, als dass sie sie behindert.“
Ich verkneife mir die Bemerkung, dass das da drinnen eher nicht so aussah. Plötzlich verstehe ich, was sie gerade gesagt hat. „Sie kennen Klaus Wissinger schon länger, oder?“
Sie wird rot, setzt zu einer Erklärung an, verhaspelt sich. Verstummt. Ordnet ihre geordneten Unterlagen neu und fragt: „Können wir beginnen?“ Als ihr langsamer Augenaufschlag meinem Blick begegnet, nicke ich langsam. Bin gespannt, ob wir mehr über die Verflechtungen in der SoKo Stern erfahren und muss daran denken, dass die Franzosen die Bullen den Filz nennen.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text

Realistin (28)
(07.07.10)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Mutter meinte dazu am 08.07.10:
Nom, nom ... So richtig zufrieden bin ich mit beiden Varianten nicht - Du hast Recht, da holpert's ein wenig.
Ich grübel noch mal ... :)

Danke schön.
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram