Übersprung

Roman zum Thema Suche

von  Mutter

„Ihr alter Kollege Chris Harder hatte die Info über den Aufenthalt in Hamburg. Er hat damals geholfen, Tiger fort unterzubringen.“
„Warum hat er jetzt erst davon erzählt“, frage ich misstrauisch.
Dombrowski lächelt und zuckt mit den Schultern. „Voraussetzung für das Programm damals war eine Einverständniserklärung der Eltern. Ohne die hätte Tiger nicht nach Hamburg gedurft.“
„Klar, nicht mit sechzehn.“
„Harder wusste das. Und es gab keine Eltern von Tiger, die etwas unterschreiben hätten können. Jedenfalls nicht in Berlin. Das wusste er vermutlich allerdings nicht. Tiger hat ihm irgendeine Geschichte aufgetischt, sein Mitleid erregt. Jedenfalls hat Harder dafür gesorgt, dass Tiger mit auf das Programm konnte – auch ohne Erklärung der Eltern.“
„Und deswegen hat er nichts gesagt?“
„Das kann ihn den Job kosten.“ Ein weiteres Achselzucken. „Falls es jemand herausfindet, den das interessiert. Uns interessiert nur, was Tiger damals in Hamburg gemacht hat. Und wir mögen es nicht, wenn uns wichtige Informationen vorenthalten werden, die die Ermittlungen behindern.“ Er sieht mich dabei eindringlich an und ich nicke brav – nehme den Hinweis an, ohne zu protestieren. Inzwischen habe ich das Gefühl, dass wir über die Spielchen hinweg sind: Er weiß, dass ich zusätzliche Informationen habe, egal woher, und akzeptiert das, solange wir ihm nicht in die Ermittlungen pfuschen. Ich fange an, Dombrowski zu mögen - seine pragmatische Art gefällt mir.
„Das war’s“, sagt er mit einem müden Augenzwinkern und berührt mich mit der Hand am Oberarm, um sich zu verabschieden. Wahrscheinlich findet er, dass ein förmliches Händeschütteln nicht zu der Art von verstohlener Unterhaltung passt, die wir gerade geführt haben. Vielleicht hasst er Händeschütteln aber auch einfach – würde mich auch nicht überraschen.

Manu steht schon am Bike, den Helm in der Hand. Sie sagt nicht, sieht mich aber aufmerksam an.
Ich überlege einen Augenblick. „Können wir zu dir fahren? Dort reden?“
Sie nickt, schiebt sich den Helm auf den Kopf.
Kurz darauf rollen wir vom Bordstein und ich passe eine Lücke ab, um in den Nachmittags-Verkehr zu gleiten. Während sie sich wieder an mich lehnt, denke ich darüber nach, was und wie ich ihr alles sage. Und ob ich irgendwie aus meinem Versprechen wieder herauskomme.
Ich spüre ihren Körper gegen meinen, und während wir an der Spree entlang Richtung Kreuzberg 36 fahren, lehne ich mich leicht zurück. Drücke mich aktiv gegen sie – so habe ich das mit Luisa immer gemacht. Sie reagiert, indem sie mich noch fester umklammert. Ich grinse unter meinem Helm. Bin froh, sie zu haben. Und für sie da zu sein.
Oben in der Wohnung sind wir beide für einen Moment befangen – benutzen Übersprunghandlungen, um unsere Unsicherheit zu überspielen. Ich bin unsicher, weil ich nicht genau weiß, wie ich beginnen soll. Oder aufhören. Und ich nehme an, sie schwimmt etwas, weil sie keine Ahnung hat, was ich ihr alles erzählen werde. Von wie viel sie keine Ahnung hat.
So benehmen wir uns wie ein Pärchen, das kurz vor der großen Aussprache steht – und nur nicht weiß, wie beginnen.
Nachdem ich mit einem Schwammtuch den Tisch gründlich abgewischt und mit einem Geschirrtuch noch gründlicher nachgetrocknet habe, trage ich die Sachen zurück in die Küche. Manu steht am Herd und fragt: „Kaffee?“
„Ja, gerne.“ Wir sehen uns kurz mit scheuem Lächeln an, dann ziehe ich mich ins Wohnzimmer zurück. Warte dort auf Manu und den Kaffee.
Als sie kurz darauf die beiden Becher auf den Tisch stellt und sich mir schräg gegenüber setzt, nehme ich mir einen Schluck von dem Milchkaffee. „Danke“, sage ich und stelle den Becher zurück.
„Und?“, will sie mit einem Lächeln wissen.
„Und – was kommt jetzt, meinst du?“
„Auch. Und : Was erzählst du mir alles?“
Ich nicke, nehme mir noch einen zusätzlichen Moment, bevor ich endlich den Zettel aus der Tasche hole. Ich falte ihn auseinander, streiche ihn glatt und schiebe ihn dann Manu über den Tisch zu.
„Wer ist das?“ Sie betrachtet das Bild, ohne eine Miene zu verziehen.
„Martina Hauptmann, das letzte Opfer.“
Manu hebt den Blick, sieht mich zusammengezogenen Augen an. „Woher hast du das? Nicht von den Bullen, oder?“
Nicht wirklich. Nicht von den Bullen.“ Muss über meinen eigenen Witz grinsen. „Frank hat mir das besorgt.“
„Wozu hast du das? Also was willst du damit?“
Jetzt ist es an mir, überrascht auszusehen. „Fällt dir nichts auf? An ihr, meine ich?“
Mit gerunzelter Stirn betrachtet sie die Photokopie erneut, schüttelt den Kopf. „Nein. Nicht wirklich. Sie ist jung. Was noch?“
Meine Fassungslosigkeit scheint sie zu amüsieren. „Was denn?“, lacht sie.
„Sie hat Ähnlichkeiten mit dir. Und Luisa.“
„Was?“ Hell und laut lacht sie erneut. „Das ist nicht dein Ernst.“ Mit de Blatt in der Hand springt sie auf und verschwindet im Flur. Ich nehme an, sie geht ins Bad oder ins Schlafzimmer, um einen Spiegel zu suchen.
Kurz darauf steht sie wieder im Türrahmen, den Blick nachdenklich auf das Bild gerichtet. „Hmmm. Schätze, ich weiß, was du meinst. Darauf wäre ich im Traum nicht gekommen.“ Langsam kommt sie rüber und setzt sich wieder.
Ich lehne mich vor, um sicherzustellen, dass meine nächsten Worte zu ihr durchdringen. „Manu, vielleicht ist es dir bei den Bildern von den anderen nicht aufgefallen – den Fotos, die uns die Kierer gezeigt habt. Aber auch da gab es Ähnlichkeiten.“
„Hn? Was meinst du?“
„Das alle Opfer bisher eine gewisse körperliche Ähnlichkeit aufweisen.“
Ihre Pupillen weiten sich ganz leicht, als sie begreift, was ich ihr sagen will.
„Und du bist Luisas Zwillingsschwester.“
Sie nickt. Jetzt ist es endlich angekommen. Stumm lässt sie den Blick erneut auf die schlechte Kopie des Bildes in ihren Händen sinken. Als sieht sie Martina Hauptmann zum ersten Mal richtig.
„Warum?“ Ihr Flüstern klingt rau.
„Das weiß ich nicht. Weiß niemand. Da sind sie noch dran. Aber das ist der Grund, warum ich es dir nicht erzählt habe.“
Sie nickt wieder, als würde sie verstehen, was ich sage. Schüttelt den Kopf. „Aber wenn es auch um mich geht – muss ich das doch wissen.“
Ihr Blick voller Schmerz und Vorwurf lässt mich das Gesicht verziehen. „Manu, es tut mir leid. Ich dachte, ich könnte dich beschützen. Da raushalten“, rutscht es mir heraus. Ich bereue die Worte schon, bevor sie beißend antwortet. „Um mich aus der Sache rauszuhalten, ist es ein bisschen spät. Jetzt, wo Luisa tot ist.“
„Es tut mir leid. So meinte ich das nicht.“
Ihre Stimmung schlägt sofort wieder um, die Stimme wird weich. „Ich weiß. Eigentlich nehme ich dir das auch nicht übel. Aber ich stehe nicht so auf die Macho-Schiene.“ Den Teil, den sie unausgesprochen lässt, ersetze ich im Geiste: Nicht so wie Luisa. Wobei das unfair ist – so war sie nicht. Aber es stimmt, sie hatte dafür vermutlich eine höhere Toleranz als ihre Schwester.
„Ich nehme Sachen, die mich betreffen, gerne selber in die Hand. Bin für mich selbst verantwortlich. Verstehst du das?“
Ich nicke. Bin müde – weiß, dass sie Recht hat, ich dagegen auch. Kann es nur nicht in Worte fassen. Überhaupt fühlt sich mein Hirn wie ein Haufen durchnässte Watte-Pads an.
„Ich war beim Tintenblut.“ Es ist der Beginn des Versuches, reinen Tisch mit ihr zu machen.
„Und? Hast du was rausgefunden?“
Resigniert schüttle ich den Kopf, starre auf die Tischplatte. „Er behauptet, er hätte noch nie von Luisa gehört. Sie noch nie gesehen.“
„Er lügt!“, stellt Manu entrüstet fest.
Ich nicke mit einem schwachen Lächeln. Sieht wohl so aus.

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