Tiger Balm

Roman zum Thema Suche

von  Mutter

Manu sitzt in eine Decke eingewickelt auf dem Sofa und liest, als ich hereinkomme. Eine kleine Lampe neben ihr auf einer Kommode spendet das einzige Licht. Für einen Augenblick stehe ich unschlüssig im Türrahmen – weiß nicht genau, was ich sagen oder wie ich mich verhalten soll. Wie um mir zu helfen, lächelt sie und klopft neben sich auf das Sofa. Die Geste ist so betont häuslich, dass ich grinsen muss.
Ich setze mich neben sie, den Kopf hinten auf der Lehne abgelegt.
„Hast du was herausgefunden?“
Ohne sie anzusehen, nicke ich. „Ich glaube schon.“ Sie überlässt mir die Pause, antwortet nicht. Ich fahre fort: „Er hat Polaroids von den Frauen gemacht.“ Ich spüre Manus Blick auf mir liegen.
„Luisa?“
Ich nicke. „Ich bin komplett ausgerastet und zu ihm hoch in die Wohnung.“ Mein Adamsapfel fühlt sich plötzlich doppelt so groß an wie sonst, ich habe Schwierigkeiten beim Schlucken.
„Was ist passiert?“
„Ich habe ihn zusammengeschlagen und die Bullen gerufen. Mit Wehmeier telefoniert – der hat eine Streife geschickt.“
Ihr Nicken kommt schnell und intensiv – wahrscheinlich hat sie Angst gehabt, ich erzähle ihr jetzt von Schlimmerem.
„Das heißt, er war es?“
„Ganz ehrlich – keine Ahnung.“ Ich spiele mit den blauen Bommeln, die am Rand der Decke hängen. Plötzlich drehe ich den Kopf zu Manu rüber und sehe sie direkt an. „In dem Kasten waren Tausende Fotos.“ Das Ungeheure meiner eigenen Worte droht mich zu erschlagen. Sie streicht mir eine Locke aus dem Gesicht, fährt mir weiter durchs Haar. Ich hindere sie nicht daran.
„Der kann die doch nicht alle umgebracht haben. Und Luisa hatte überhaupt kein Tattoo.“ Ich schüttle den Kopf. „Das passt mal wieder alles überhaupt nicht zusammen.“
„Nach allem, was wir über Tiger rausgefunden haben – glaubst du tatsächlich, dass er damit nichts zu tun hat? Nach all den Sachen, die ihr in Frankreich erlebt habt, nach Hamburg – ist das alles wirklich nur ein Zufall?“
Wir betrachten uns gegenseitig. Ihre Augen wirken größer als alles, was ich jemals gesehen habe – als würden ihre Pupillen versuchen, mich in dem dämmrigen Zimmer komplett in sich aufzunehmen.
Endlich schüttle ich den Kopf. „Ich wünsche es mir so sehr. Aber ich glaube nicht daran.“
Manu nickt, als sei sie zu dem gleichen Schluss gekommen. „Also egal, was mit diesem Tätowierer passiert – wir müssen Tiger finden.“
„Wir?“ Ich sehe sie überrascht an – in meiner Stimme findet sich keinerlei Ironie oder Spitzfindigkeit. Sie reagiert entsprechend gelassen und nickt. „Ob ich es will oder nicht, Luca - ich bin bereits Teil dieser Geschichte. Und ich will mich daran beteiligen. Diesen Knoten zu entwirren.“ Bevor ich etwas erwidern kann, setzt sie nach: „Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie sehr diese Hilflosigkeit an dir frisst. Aber weißt du was?“ Ich weiß, was jetzt kommt, als sie sich näher an mich heranbeugt und verziehe schon vorher das Gesicht.
„Das geht mir nicht anders. Und ich hasse das Gefühl ebenso sehr wie du.“
Mir ist klar, dass sie jedes Recht besitzt, eine Beteiligung einzufordern. Und ich weiß, dass es mir schwerfallen wird, aber damit werde ich leben müssen. „In Ordnung. Das verstehe ich.“
„Keine Alleingänge mehr?“
Ich nicke. „Keine Alleingänge mehr. Ich versuch’s.“
„Gut.“ Sie setzt sich gerader hin. „Was haben wir noch? Nichts, oder?“
„Weiß nicht. Broussard war damals so mit ihm.“ Ich zeige gekreuzte Zeige- und Mittelfinger. „Den wollte ich morgen mal anrufen. Ich glaube zwar nicht, dass Tiger sich bei ihm gemeldet hat, aber möglicherweise ist ihm noch was eingefallen. Oder er kann uns weiterverweisen – Tiger hat ein ziemliches Netz gespannt, was seine sozialen Kontakte angeht.“
„Was meinst du?“
„Naja, bisher waren wir nur bei ein paar Leuten, die ihn kennen. Zur Not soll uns Broussard alle Namen geben, die ihm einfallen. Dann klapper ich die ab, frage nach weiteren Namen. Irgendwer muss doch was wissen – kann doch nicht sein, dass diese kleine Kerl einfach vom Erdboden verschluckt ist.“
„Wir“, korrigiert sie mich.
„Was?“
„Du willst die abklappern. Nimm mich mit.“
Ich nicke. „Wenn ich das ab und zu aus Gewohnheit vergesse – erinner mich dran, okay? Ich habe vor, mein Versprechen zu halten.“
„Das war ein Versprechen?“ Ihr Lächeln sieht in dem Licht wunderschön aus. Ich nicke müde. „Hoch und heilig.“
„Gut.“ Sie sieht zufrieden aus – vielleicht glaubt sie mir wirklich. Ihr einer Finger spielt mit meinen Locken – wickelt sie ein, zieht sanft daran, lässt sie gehen. Verdreht sich erneut darin. Ich mag das Gefühl.
„Mama hat uns früher mit Tiger Balm eingerieben“, sagt sie unvermittelt.
„Was?“
„Tiger-Balsam – kennst du nicht?“
Bei ihrem überraschten und ernsten Tonfall muss ich lachen. Obwohl ich das Gefühl habe, Manu macht einen schlechten Witz. „Nein, nie gehört. Was soll das sein?“
„Im Ernst – das kommt aus Asien. Sie hat uns damit bei Erkältungen eingerieben. Ich kann mich noch gut an den Geruch erinnern. Luisa und ich haben den geliebt. Ich schaue mal, ob ich welches besorgen kann.“
Ich bin nicht so sicher, ob ich die Idee so klug finde. Alles, was mich mit Luisa und vor allem ihrer Vergangenheit verbindet, ist gut – aber wie viel davon will ich mit Tiger in Verbindung bringen? Ich strecke mich, um aus Manus Nähe zu kommen. Zögernd lässt sie von meinen Haaren ab.
„Und jetzt schmeiße ich dich von meinem Sofa – ich muss ins Bett.“
„Ja, mach mal.“ Sie lächelt. „Ich gehe noch ein wenig lesen. Schlaf gut.“
Manu geht und ich ziehe mir die Couch aus. Nachdem ich im Bad war, stehe ich kurz am Fenster, dass ich geöffnet habe. Die kühle Nachtluft umstreicht mich und sehe raus auf die Gaslichtlaternen, die die Kopfsteinpflasterstraße säumen. Ob Wehmeier inzwischen ebenfalls bei Wedel angekommen ist? Oder ob er ihn sich ins Präsidium liefern lässt? Vielleicht schmeißen sie den auch erstmal in eine Zelle und lassen ihn dort bis morgen früh schmoren.
Ich versuche, die frustrierenden Gedanken an Wedel aus meinem Hirn zu verbannen und lege mich schlafen. Es dauert nicht lange und ich dämmere weg.

Am nächsten Morgen bin ich früh wach – ich war bereits eine Runde am Kanal laufen und habe Brötchen mitgebracht, als Manu aus dem Bad kommt.
„Early bird“, stellt sie mit einem Grinsen fest, während sie sich die Haare trockenrubbelt und in ihrem Zimmer verschwindet.
Nachdem ich den Frühstückstisch gedeckt habe, suche ich mein Handy aus meiner Jackentasche und sehe die Namen durch, bis ich Broussard habe. Obwohl ich zu der Uhrzeit eher seine Mailbox erwartet hätte, meldet er sich.
„Salut. Ich habe schon darauf gewartet, dass ihr euch meldet.“
„Hast du was? Hat sich Tiger gemeldet?“
„Ja und nein. Von ihm selbst weiß ich nichts, aber ein Kumpel hat neulich Nacht auf einer Party erwähnt, dass Tiger bei ihm war.“
„Und?“
„Es gab da einen Telefonanruf, und kurz darauf ist Tiger weg. Der war voll in Panik, meinte Sodom.“
„Sodom – ist das der Kumpel?“
„Ja. Auch ein Sprayer. Ich habe ihm gesagt, dass du bestimmt mit ihm reden willst.“
„Wann war das Ganze?“
„Vor ziemlich genau zwei Wochen.“

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram