Daniel

Erzählung zum Thema Menschen

von  Secretgardener

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Daniel war in seiner Klasse durchaus beliebt. Manche fanden es hin und wieder komisch mit ihm zusammen zu sein, aber sie wussten nicht genau, warum. Er hatte wirklich gute Noten, war humorvoll, aufmerksam und fiel sehr selten negativ auf. Seinem großen Bruder und seiner kleinen Schwester gefiel es, Zeit mit ihm zu verbringen, und ihm gefiel es auch. Auch er liebte seine Familie; den Vater und seine Tante, die bei ihnen wohnte. Doch auch, wenn niemand mit dem Finger darauf zeigen konnte, merkten alle, dass etwas an ihm grundlegend anders war.
Im Internat war man selten allein, das war ein Problem. Daniel brauchte Ruhe. Oder besser gesagt: er brauchte Abstand. Er hatte nie das Problem zuviel von sich zu geben, sondern zu wenig. Daniel war ein Schwindler, er stahl Gedanken.
Es fing an, als er klein war. Das glaubte er zumindest, da er sich nicht an andere Zeiten erinnerte. Man war damals schon verblüfft, wie schnell er Lösungen parat hatte, wie schnell er manches lernte. Er kannte es nicht anders, daher wunderte er sich selbst nicht darüber. Es geschah auch immer unterbewusst, und er stahl nur die guten Gedanken. Unnütze, falsche oder unpraktische fanden nicht den Weg zu ihm. Das Opfer merkte auch nichts davon, da die Gedanken bei ihm nicht durchbrechen konnten. Kopieren und sofort löschen.
Seine Mutter hatte wohl etwas geahnt. Da sie selbst eine ähnliche Gabe besaß, war sie sensitiv dafür. Er sah sie zuletzt als er 9 war; 2 Tage bevor seine Schwester operiert wurde. Es war ein sehr komplizierter, wichtiger und vor allem teurer Eingriff, den sie selbst zahlen mussten. Er sah, wie seine Mutter in die Küche kam, seinen Vater küsste und lange festhielt. Sah, wie sie mit feuchten Augen zu ihm kam, auch ihn fest an sich drückte – noch fester als seinen Vater – ihn auf die Stirn küsste und ihm sagte, dass sie ihn liebte. Sah, wie sie weg ging. Und hörte, wie sie weinte. Das war das erste Mal, dass er absolut keine Ahnung hatte, was gerade passierte; er erhielt keine Antwort von seiner Mutter. Und von da an auch nie wieder auch nur ein Zeichen von ihr.
Daniel liebte seine Schwester sehr. Er konnte mit ihr spielen und lachen. Sie brachte ihn dazu, nicht zu denken. Und, wie auch seine Mutter, konnte sie ihn trösten, und er sie.
Er beendete die Schule und machte seine Lehre. Durch seine Fähigkeit musste er viel weniger investieren. Doch umso älter er wurde, umso größer wurden die Zweifel. Wo hörte er auf, wo fingen die anderen an? Was war seines, und was nicht? Es begrub ihn und er fing an an sich zu zweifeln. Er beschloss, abgeschieden zu wohnen. Von allen wegrennen um jemanden zu finden. Doch das Grau blieb Grau nimmt man etwas davon weg. So musste er versuchen über die Zeit sich selbst zu finden. Wirklich arbeiten musste er nicht; ein Vorteil, wenn man immer das Richtige weiß.
Seine Schwester besuchte ihn oft, seine Freundin nicht mehr. Seine Schwester wurde bald erwachsen und ähnelte ihrer Mutter immer mehr. Er musste ihr manchmal von ihr erzählen. Vor allem von dem Tag, an dem sie weg ging. Er erzählte ihr auch, dass ihre Mutter das Geld für die Operation an diesem Tage bezahlte. Er redete darüber, dass er seine Mutter auch dafür liebte, dass sie ihn immer überraschen konnte; als Einzige.
Er sah sie lange Zeit an. „Daniel, was ist“? – „Es ist nur so komisch, wie Du Mama immer ähnlicher wirst“. Sie fing an zu weinen und er nahm sie in seine Arme. Nach einer Weile löste sie sich von ihm, küsste ihn auf die Stirn, sah ihn ernst, aber liebevoll an. „Keine Angst, meine kriegst du auch nicht“.
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