Traumfänger

Text

von  MrDurden

Alles beginnt mit einem wunderbaren Traum. Und wenn alle Abenteuer bestritten und alle Zuckergussgeschichten erzählt sind, erwachen wir. Die Nacht ist vorüber, der Schutz und die magische Intimität der Dunkelheit ist verflogen und alles, was bleibt, ist die Erinnerung an ein Märchen, das der Realität nicht standhalten konnte. Repeat. Alles wiederholt sich. Neue Geschichte, die Handlung bleibt dieselbe. Alles beginnt mit einem wunderbaren Traum.

Vielleicht steige ich eines Tages in den Bus und fahre aus irgendeinem Grund in irgendeine Richtung. Ich hasse Busse, diese sozialen Auffangbecken mit den kaugummiverklebten Linoleumböden, den beschlagenen Scheiben mit Schimmelrändern und den desozialisierten Busfahrern, die niemandem in die Augen sehen können, weil sie seit fünfundzwanzig Jahren täglich dieselbe Strecke immer und immer wieder abfahren und ihren Hass auf rüpelhafte Mitfahrer über die Jahrzehnte hinweg auf die gesamte Menschheit übertragen. Vielleicht steige ich eines Tages in einen solchen Bus und treffe dich.

Vielleicht hast du kastanienfarbenes Haar, dunkelbraune Rehaugen und vielleicht wirfst du mir etwa alle anderthalb Minuten einen verstohlenen Blick zu. Ich verpasse absichtlich meine Haltestelle, setze mich zu dir und versuche einzigartig in dieser so unerträglich trivialen Umgebung zu sein. Dein Blick scheint gelangweilt, doch irgendwann schaffe ich es schließlich, diese meterdicke Barriere aus Stahlbeton zu überwinden und dir ein Lächeln zu stehlen. Wir sind jung und es spielt keine Rolle, wer wir sind oder woher wir kommen. Nur dieser bedeutungslose und doch so besondere Moment zwischen kaugummiverklebtem Linoleum, einem soziopathischen Busfahrer und beschlagenen Scheiben mit Schimmelrändern verbindet uns.

Vielleicht verbringen wir jeden Tag miteinander und vertreiben uns die Zeit mit der Sache, die wir mehr hassen als alles andere auf der Welt. Wir kaufen uns Monatstickets, suchen uns den Bus mit dem kaugummiverklebtesten Linoleumboden, den widerlichsten Schimmelscheiben und dem psychotischsten Busfahrer und tingeln Tag für Tag von Stadt zu Stadt. Vielleicht erzählen wir uns Geschichten, breiten unsere desillusionierten und doch so naiven Ansichten vor unseren Füßen aus und reden uns ein, wir hätten einen ganz besonderen Menschen getroffen. Dann schließen wir unsere Augen, knipsen unserem Verstand die Lichter aus und schlafen mit offenen Augen ein. Wir träumen. Nicht einsam, denn wir wollen finden, was bereits Milliarden Seelen vor uns gefunden haben. Alles, was wir wollen, ist ein wenig Schlaf. Und wie immer beginnt alles mit einem wunderbaren Traum.

Vielleicht wird eines Tages das öffentliche Verkehrswesen saniert. Neue Busse mit sterilen Bodenbelägen, lupenreinen Scheiben und gut bezahltem, hochmotiviertem Personal. Irgendwann ist auch die letzte Geschichte erzählt, die letzte Besonderheit trivialisiert und plötzlich wird aus so aufregend abscheulichen Umgebungen eine angenehm monotone Welt ohne Platz für kleine Naivitäten. Wir kneifen unsere Augenlider zusammen, versuchen uns müde zu reden und den Traum aufrecht zu erhalten, mit dem alles begann. Doch der Schutz und die magische Intimität jeder Nacht verfliegt mit der Dämmerung. Wir erwachen, denn wir können nicht ewig schlafen. Und die Wirklichkeit ist zu bitter, um jede Haltestelle vorbeiziehen zu lassen.

Vielleicht sehen wir uns nie wieder. Wir kaufen uns Autos, suchen uns Beifahrer und Straßen, die uns weit weg führen von unseren alten, eingefahrenen Buslinien. Vielleicht finden wir andere Menschen, die mit uns träumen und Märchen erleben wollen, die der Realität niemals standhalten werden. Repeat. Alles wiederholt sich. Neue Geschichte, die Handlung bleibt dieselbe. Alles beginnt mit einem wunderbaren Traum. Irgendwann erwachen wir. Und vielleicht ist ein anderer Mensch nicht die Antwort auf meine Fragen.

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Kommentare zu diesem Text

LudwigJanssen (54)
(13.06.12)
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 MrDurden meinte dazu am 13.06.12:
Hey, ich dank dir für deine Kritik LudwigJanssen. Der Punkt mit der "Intimität der Dunkelheit" ist mir nach dem Veröffentlichen auch aufgefallen. Ich ändere nur ungern noch was im Nachhinein Freut mich, wenn der Text zusagt! David
LudwigJanssen (54) antwortete darauf am 13.06.12:
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fragilfluegelig (49)
(14.06.12)
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 MrDurden schrieb daraufhin am 14.06.12:
Danke dir für Kommentag und Empfehlung! Ja, man muss seine Lebensfragen im Grunde selbst beantworten. Mit dem Text wollte ich mich ein bisschen damit auseinandersetzen, dass jeder um mich herum sein Glück in Beziehungen sucht. Ich selbst konnte es dort nie finden. Ich glaube nicht, dass mein Lebensglück von einer anderen Person oder vom Gründen einer Familie abhängig ist. Irgendwie ist diese Geschichte doch immer dieselbe. Danke dir fürs Lesen
(Antwort korrigiert am 14.06.2012)
KeinName (20)
(15.06.12)
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 MrDurden äußerte darauf am 15.06.12:
Vielen Dank für deine Kritik. Freut mich sehr, wenn Leser sich so damit auseinandersetzen. Wünsche ein schönes Wochenende! David
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