Das unheimliche Haus

Short Story zum Thema Befreiung

von  AZU20

Das unheimliche Haus

Er ging den steilen Kiesweg hoch und sah das Haus aus einer Bodenwelle emporwachsen. Zuerst den Giebel und die Fenster mit den grünen Läden, die im Wind auf dem grauen Putz der Vorderwand hin- und herschlugen. Dann tanzte mit jedem Schritt ein weiteres Stück des Gründerzeithauses auf dem rasenbedeckten Hang, zu dem er keuchend emporstieg. Das Haus sah unheimlich aus, als habe es in seiner Trauer die Luft angehalten und sich unter der Last der Vergangenheit gekrümmt.
Er blieb stehen und holte tief Luft. Das Haus schwankte vor seinen Augen, es schien ihm, als winke es ab; er war nicht willkommen.
Aber er ging weiter und trat unbeirrt in den Schatten, den das breite Satteldach ihm entgegenwarf. Die Terrassentür stand offen. Ein schmaler Lichtschein fiel auf die schiefen, grauen Betonplatten, zwischen denen Gras wucherte.
  Der rote Vorhang an der Tür flatterte leicht, als die alte Frau ihren Rollator auf die Terrasse schob. Schwerfällig tapste sie hinter ihm her, als werde sie über den unter ihren Füßen schwankenden Untergrund vorwärtsgezogen. Sie blieb stehen und seufzte tief; für einen kurzen schmerzlichen Augenblick schien die Welt stillzustehen, bis ein fettes Amselmännchen sich schimpfend über eine laut schnarrenden Elster aufregte. Die Frau zuckte zusammen, schaute kurz auf, drehte sich um und schlurfte hinter ihrem Gefährt wieder ins Haus.       
  Eine frostige Stille legte sich über die Szene,
während drinnen jemand die Tasten eines Klaviers anschlug, Töne ohne Zusammenhang, ohne Melodie. Zunächst nur ein leises Klimpern, das aber anschwoll, immer lauter, immer quälender, sich steigernd zum elenden Gesang einer verlorenen Kindheit. Die Muskeln des Mannes verkrampften sich, er hielt sich die Ohren zu, krümmte sich wie unter unsäglichen Schmerzen. Als der letzte Ton verklang, wieder Stille, Totenstille.   
Der Mann richtete sich auf und ging auf die Tür zu, hinter der die Musik zur Ruhe gekommen war. Die Frau stand am Klavier und drehte ihm den Rücken zu. Er blieb stehen. „Mutter!“

  Den Friedhof betrat er zum ersten Mal. Glattgeharkte Wege, links und rechts Denkmäler, Kreuze, Blumenrabatte wie zu seinem Empfang aufgereiht. An den Kreuzungspunkten stockte er, schaute auf einen Plan in seiner Hand, bog ab oder ging geradeaus weiter. Die Kronen der hohen Kastanien rauschten im Wind und lieferten die Begleitmusik zu der Suche. Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit. Zwanzig Jahre sind zu kurz, um zu vergessen.
Der Blick des Mannes ging über die Gräber. Ein weißer Engel führte den Toten in die Ewigkeit, ein schlichter Stein erinnerte an den, der unter ihm begraben lag. Hier ein schlichtes Holzkreuz, dort ein gewaltiger Findling, in den Schriftzeichen eingraviert waren. Kurze Schlaglichter auf dem Weg zur letzten Ruhestätte von Thomas Gruber.
Ein einfaches Grab, eingerahmt von grauem Basalt, eine glatte, rote Platte mit dem Namen des Toten, seinem Geburts- und Todesdatum, eine Kiefer, tief gebückt, umgeben von einem Kranz Stiefmütterchen, eine leergebrannte Grableuchte, eine Vase ohne Blumenschmuck. Dieser Ort verweigerte jeglichen Trost.

  „Mutter, ich bin es.“ Er sprach mit belegter Stimme. Sie hallte dumpf durch den Raum und schien bei der alten Frau nicht anzukommen, denn sie rührte sich nicht, sah so aus, als horche sie in sich hinein.
„Mutter, hörst du mich?“ Er sprach lauter, sah, wie der alte Körper erzitterte. Er ging einen Schritt auf seine Mutter zu, als sie aus ihrer Teilnahmslosigkeit zu erwachen schien. Langsam wie in Zeitlupe drehte sie sich zu ihm hin und sah aus ihren wässrigen Augen in seine Richtung.
  Der Blick ging ins Leere und traf ihn bis ins Mark.     
„Mutter, ich bin es, Thomas“, sagte er und versuchte, ihre Augen an sich zu binden. Die alte Frau flüsterte etwas, das wie Thomas klang, und drehte sich wieder weg. Dann griff sie zum Rollator und verließ wie an ihn gekettet, den Raum. Der Teppichboden verschluckte fast alle Geräusche bis auf ein Knacken, das aus dem Inneren des schlaffen Körpers kam und ihn an die Geräusche der Achslager seines alten Wagens erinnerte, den er weit entfernt von dem Haus abgestellt hatte. Er wollte schon hinter seiner Mutter hergehen, als sein Blick auf das Bild fiel.
  „Vater, ich kann die Jahre nicht zurückkaufen“, flüsterte er, „ich habe mich an mein Weinen erinnert.“ Er stand einen Augenblick schweigend da und starrte auf den Grabstein. Vorn dort kam keine Antwort.
„Mutter“, rief er, „ich hätte dich gebraucht. Du hättest ihn ...“, er brach unvermittelt ab und schluchzte leise.
„Ich kann die Jahre nicht zurück ...“, er tastete seine Taschen nach einem Taschentuch ab. 
„Seine Hände, seine riesigen Hände ... auf meinem kleinen Körper ...“, er sprach wie im Traum, leise, unzusammenhängend, atmete jedes Wort einzeln aus. Aber niemand war da, der ihn verstand.
„Wer fängt mich auf, bevor ich falle? Wer dringt in meine dunkle Stille ein und macht sie hell?“

  An der Wand hing ein nur unvollkommen beleuchtetes Diptychon aus wenigen unterschiedlichen Farbtönen. Ein Bild, ganz im Stil seines Vaters, der an der Kunsthochschule studiert hatte, bevor er sein Leben verschenkte, die gleichen Hände hatten den Pinsel geführt, deren grober Gewalt der Sohn lange Jahre ausgeliefert war. Das quadratische Gemälde hing leicht schief mitten auf der Wand, als hätte es versucht, sich von dem Haken abzuschütteln.
Auf seiner linken Hälfte stand eine Frau an einem altertümlichen Herd und rührte in einem großen Topf herum, während sie mit der linken Hand so etwas hineinstreute. Vor ihr hingen alle möglichen
Küchengeräte ungeordnet an einem Holzregal, auf dem
Gefäße von unterschiedlicher Größe herumstanden. Einige trugen Aufschriften: Salz, Pfeffer, Gurken, Lavendel. Seine Mutter, ihre Küche, die blauweiß gestreifte Schürze, ihr Zopf, zu dem sie ihr Haar zusammenband, ihre Haltung am Herd, mit der der Maler sie in ihrer ganzen Unterwürfigkeit entlarvte.
Auf der rechten Seite des Bildes schaute ein halb nackter, grobschlächtiger Mann in einem kurzärmligen Unterhemd triumphierend in  Richtung des Betrachters. Auf einem Bett hinter ihm wand sich ein nackter Junge offensichtlich unter Schmerzen, was der Maler durch die Unschärfe der Konturen des kleinen Körpers dargestellt hatte.
Ein Geräusch aus dem Nebenzimmer lenkte ihn von der weiteren Betrachtung ab. Er ging auf die offenstehende Tür zu. Ein eiskalter Luftzug fiel ihn an und schien ihm den Eintritt verwehren zu wollen. Er blieb stehen und horchte angestrengt nach nebenan. Die Standuhr, in deren Kasten er sich als Kind vor dem bösen Wolf zu verstecken suchte, schlug viermal. Der Wolf hatte ihn gefunden und gierig verschlungen, immer wieder.
Ein dumpfes Geräusch ließ ihn hochschrecken, zögernd überwand er die wenigen Meter zur Tür.  Der Nebenraum sah aus als habe er sich gegen den Besuch der Mutter gewehrt. Die Stehlampe mit dem gelben Blümchenschirm war umgekippt, eine einzige Glühbirne flackerte nervös und erlosch dann ganz. Seine Mutter hatte wohl versucht, sich an der Lampe festzuklammern, und war mit ihr zu Boden gestürzt. Der Rollator lag wie ein Käfer auf dem Rücken und streckte alle Räder von sich. Der Mann lief zu ihr hin und beugte sich herab. Sie lebte.

Er betrat das Krankenhaus durch einen Nebeneingang. Zögernd ging er auf einen der Aufzüge zu und ließ sich in den zweiten Stock bringen. Von seiner Hand hingen ein paar weiße Nelken herab, als gehörten sie nicht zu ihm. Ohne nachzudenken, wandte er sich nach rechts. Je näher er der Tür kam, hinter der sie lag, umso langsamer wurden seine Schritte. Zum Schluss schlich er widerstrebend unter der schweren Last seiner Erinnerungen auf das Ende des Gangs zu.
Vor der Tür mit der Nummer 66 blieb er einen Augenblick unschlüssig stehen, dann klopfte er an. Er führte sein Ohr dicht an das Türblatt und horchte angestrengt. Kein Laut drang aus dem Krankenzimmer nach draußen. Vorsichtig drückte er die Klinke nach unten und öffnete. Sein Blick fiel auf ein riesiges Bett, das fast den ganzen Raum einnahm. An einem Gestell daneben hingen zwei Flaschen, aus denen eine gelbliche Flüssigkeit in Schläuche tropfte, die zu der alten Frau
führten, die ihn aus großen Augen unverwandt ansah. Ihre Lippen bewegten sich unaufhörlich, als wolle sie ihm etwas mitteilen. Da liegt sie, dachte er, so hilflos, wie sie es ein ganzes Leben lang war. Er schob einen Stuhl an ihre Seite, setzte sich und gab sich Mühe zu verstehen, was seine Mutter flüsterte, doch die Worte schwanden unverständlich dahin. Er rückte noch näher an sie heran und beugte sich über sie.
„Verzeih mir“, hauchte sie immer wieder. Er sah ihren flehentlichen Blick, nahm zögernd ihre Hand, hielt sie fest und drückte sie.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text

ichbinelvis1951 (64)
(20.06.12)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 AZU20 meinte dazu am 20.06.12:
Danke, Klaus, freut mich, dass Dir auch dieser lange Text gefällt. LG

 Jorge antwortete darauf am 20.06.12:
Hallo Armin, Klaus hat Recht, du solltest häufiger diese Art von literarischer Äusserung wählen.
Der Text bewegt und fesselt den Leser auf besondere Weise.

 Martina schrieb daraufhin am 20.06.12:
Kann mich hier nur anschließen....Du hast eine schöne Art zu erzählen....Lg Tina.

 AZU20 äußerte darauf am 20.06.12:
Ihr Lieben, ich nehme mir eure aufbauenden Worte zu Herzen. Einen schönen Abend noch. LG

 EkkehartMittelberg (20.06.12)
Lieber Armin,
du gehst in deiner Kurzgeschichte sehr sparsam mit wörtlicher Rede um. Das fordert die Fantasie des Lesers heraus und gibt dir die die Möglichkeit, die Dinge, insbesondere das Diptychon, eindrucksvoll sprechen zu lassen.
Die düstere Atmosphäre ist so verdichtet. dass der Schluss nicht nur für den Protagonisten, sondern auch für den Leser als Befreiung wirkt.
LG
Ekki

 AZU20 ergänzte dazu am 20.06.12:
Vielen Dank für Deinen einfühlsamen Kommentar und alles andere. LG

 Lluviagata (20.06.12)
Sehr gut erzählt, bildhaft und spannend!
Alle Achtung!

 AZU20 meinte dazu am 20.06.12:
Vielen Dank für alles. LG
Lena (58)
(21.06.12)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 AZU20 meinte dazu am 21.06.12:
Herzlichen Dank für alles. LG
stimulanzia (48)
(21.06.12)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 AZU20 meinte dazu am 21.06.12:
Ich danke Dir sehr. LG
rochusthal (71)
(25.06.12)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 AZU20 meinte dazu am 25.06.12:
Danke für den interessanten Kommentar und ...LG

 Prinky (25.06.12)
Na, wer hat dich denn zu solchen Texten animiert?
Jedenfalls war ich gefangen, vom Anfang bis zum Ende. Deine bebilderte Sprache erinnert mich beim Lesen immerzu an einen Film, den ich mir anschaue. LG Micha

 AZU20 meinte dazu am 25.06.12:
Das beschriebene Bild existiert tatsächlich und war der Ausgangspunkt. Danke für alles. LG
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram