Short Story

Kurzgeschichte zum Thema Einsamkeit

von  max.sternbauer

Die Menschen im Zug kamen sich so vor, wie der Inhalt einer Konservendose. Wobei die Frage, ob Ananas oder Austern irrelevant war.
Eingesperrt in eine Enge aus Blech. In einer Stadt  sieht man alles mögliche. Doch dass ein Zug voll war, im Arbeitsverkehr, gehörte auch nicht zu dem Sagenschatz des Abendlandes. Was sich schon eher qualifiziert, ist jenes Faktum, der dieser Begebenheit inne wohnt.
In nur einer Seite des Waggons befand sich der Großteil der Menschen. Wäre der Zug ein Boot als Teil eines Comicstrips gewesen, hätte wohl die leere Hälfte in den Himmel gereicht. Die Leute standen wirklich so dicht beieinander, dass Luftholen nur mit zur Hilfenahme von Schultern und Ellbogen möglich war. Nur wollte keiner so wirklich. Der animalische Wunsch nach Sauerstoff und das Bedürfnis seine Tasche abzustellen, wurde etwas über leuchtet. RAUS HIER!!!
Der Mann am Fenster stank. Eine Frau, die in der ersten Reihe stand, spülte ihren gelben Mageninhalt in eine Einkaufstüte. Aber niemand stöhnte auf vor Ärger. Weil der Geruch konnte sowieso nicht schlimmer werden.   

Seine Haut war Grün. Unregelmäßig verteilte sich die Farbe über seinen Körper. Gesicht, Arme, man sah es durch die Löcher seiner rissigen Kleidung. Er wirkte wie ein normaler Fahrgast.Was nicht der Fall war, für den Rest des Planeten nämlich. Er hatte sein Leben schon lange ohne  Besuche von Kinos und Restaurants gemeistert. Gebäude betrat er nur selten. Aber wenn er mal an das andere Ende der Stadt wollte, nahm er doch die U-Bahn. Aber selten. So konnte er die freundlichen Avancen der Polizei möglichst oft umschiffen. In seinem Portemonnaie befand sich ein ärztliches Attest, wonach seine Pilzerkrankung als harmlos bezeichnet wurde. Er musste das amtliche Schreiben bei sich haben und herzeigen. Als Erklärung. Aber die Polizei reagierte mal so mal so. Wie die Tage gut oder schlecht gestimmt waren. „Also wirklich, können sie sich nicht waschen. Duschen, solche Einrichtungen gibt es auch für Sie.“ Er schaute in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Ein wütendes Gesicht leuchtete wie ein Mosaik aus der Mauer menschlicher Teile. Er überlegte. Noch zwei Stationen. Das waren etwas Fünfhundert Meter. Nicht allzu weit zu Fuß. Er entschied sich dafür auszusteigen. Auf seinem Rücken konnte er deutlich die Blicke der anderen kribbeln spüren. Sogar die Stärken, in denen diese eingestellt waren. Von der versteckten Neugier, die nadelartig aus den Augenwinkeln stach, die gerade heraus brennenden Vorwürfe. Er kannte das alles. Déjà-vu vom Fließband.

Auf dem Bahnsteig verlor eine Frau ihre Brieftasche. Sie rannte zu einem der Waggons und hatte
schon ein Bein in sein Inneres versenkt. Er hatte die Brieftasche in der Hand, als ihr Blick auf ihn fiel und sie brüllte: „Nein, lassen Sie das!“ Als würde es sich um eine Bombe handeln. Die Frau hüpfte aus dem Zug hinein hinaus. Der Ausdruck ihres Gesichts wechselte im übergangslosen Spieles eines Schattentheaters. Und das alles in drei Sekunden. Bevor gehupt wurde, war sie endgültig im Zug. Als sie an ihm vorbeirollte, sah er zuerst einen erleichterten Fall in den Sitz.
Durch die Scheibe sagte sie ihm, dich sehe ich nie wieder. Dann bemerkte sie die Brieftasche. Nicht in ihren Armen, nicht achtlos auf ihrem Schoß liegend. Sondern in einer fragend ausgestreckten Hand, die gerade von ihr davon flog. Bevor der Zug in die Dunkelheit verschwand, schaute er ihr noch dabei zu, wie sie aufsprang und zum Ende des Waggons rannte. Das war auch so alles in einem Zeitraum von drei Sekunden geschehen. Er klappte die Brieftasche auf und observierte den Inhalt. Nett, wirklich nett. Dann machte er sich auf den Weg. Ehe die Polizei kam.

Draußen auf der Straße beschloss er eine kurze Rückkehr in die Gesellschaft. Nicht in die feinen Salons, er kannte nicht einmal den Standort eines solchen. Aber in die unteren Ränge wollte er wieder zurück. Mit einem neuen Anzug betrat er ein feines und etwas teures Hotel. Ein stilles Zimmer begrüßte ihn. Und dort setzte er sich an das Fenster und betrachtete. Es war ein Schacht von ein mal einen Meter. Auf dem Grund lag eine alte Zeitung. Aber er wollte nicht hinunter steigen und sie lesen. Er hatte ein Dach über dem Kopf. Für heute. Vielleicht auch Morgen. Er kratzte sich mit einem beliebig gewählten Finger zwischen Kragen und Hals einen Teil seiner Haut. Hinter der Tür konnte er eine Reisegruppe hören. Alles nahm er mit geschärften Sinnen wahr. Nur einschlafen wollte er nicht. Einen Film ansehen vielleicht. Er schaute sich in dem stillen Zimmer um und dachte, einen Film sehen wäre nicht das schlechteste vom schlechten. Ja das wäre gut...

Er nickte, aus der schlafenden Stellung hoch, und blinzelte zu dem Stück Papier hinüber, das vor der Tür lag. Wir müssen das Zimmer sauber machen. Bitte gehen Sie. Er schaute auf den Wecker. Ja, er war über der Zeit. Auf der Karte stand keine Unterschrift. Nur ein „Bitte gehen Sie“. Er überlegt bei der Rezeption anzurufen. Aber ein weiterer Tag in dem Zimmer herum sitzen, dafür war ihm das Geld zu schade. Als er die anderen Zimmer auf dem Stockwerk abschritt, spürte er wieder einen Blick der seinen Rücken streifte. Nur kurz, aber dafür stark. Bevor sich der Lift  schloss, mit dem er nach unten fuhr, schaute er nochmal in den Gang. Und sah ein Zimmermädchen hastig einen Putzwagen durch den Gang schieben. Sie trug eine Plastikmaske. In der Hotelrezeption war niemand. Er ging hinter den Tresen und nahm die gelbe Packung Fischfutter zur Hand. Denn da war ein Aquarium. Die Tiere kamen und er winkte ihnen mit einer knappen Bewegung zu, bis ein paar Brocken im Wasser versanken. Einige Fische schauten beim Futtern nach rechts, wie er nach draußen schritt und sein Schatten verschwand.

In einem Park ging er an Dingen vorbei. Dann wendete er sich um. Ging vor, ging zurück. Dann setzte er sich. Guter Plan. Ich bekomme bald Hunger, dachte er. Wo könnte ich heute Mittagessen?
Frühstücken, Abendessen, Imbiss. Das waren alles so Probleme. Genaugenommen ein Problem. Weil es neben dem Geldmangel schwer war an die Menschen heranzukommen. Selbst mit seinem neu erstandenen Kostüm fand er nur schwerlich einen Tisch. Er fuhr sich über das Gesicht, das sich pelzig anfühlte.
Eine Zeitung verfing sich an einem seiner Beine wie bei einer Straßenlaterne. Die Witzseite war nicht lustig. Den schlechtesten überflog er nicht nur, sondern las ihn ganz. „Ein Hai und ein Fisch treffen sich im Südpazifik. Der Fisch, der seinen Kalender verlegt hatte, fragte den Hai: Welchen Tag haben wir heute? Ich weiß nicht. Na heute.“ Wer fand das komisch? Dann wunderte ihn eine zweite Frage im Anschluss noch mehr. Denn er hatte bemerkt, dass er den Witz sich selber laut vorgelesen hatte. Und sogar diese Frage laut gestellt hatte. Und dann viel ihm auf, das er schon sehr lange nicht mehr seine Stimme gebraucht hatte. Dann legte er die Zeitschrift weg, schritt den Weg ab. Einen Witz hatte er ewig nicht erzählt, deswegen erzählte er ihn nochmal. Und weil ein schlechter Witz auch schon so lange zurück lag, wurde er wieder wiederholt. Und dann brüllte er ihn auch noch durch den  Park, weil eine Rede hatte er sowieso noch nie gehalten. Niemand hörte zu.
An einem Kebabstand wechselte er einen großen Schein gegen einen Sack voll  Münzen. Die Telefonzelle, die dann folgte, hatte schon einmal bessere Zeiten gesehen. Die erste Münze in den Schlitz bewirkte ein Stöhnen. „Oh ja, ich bin schon ganz feucht. Hier bei mir wird es vor allem mit dem Mund gemacht. Mhm, was willst du mit mir machen? Sag schnell, ich bin schon ganz geil.“ Er nickte im Takt, bis er bemerkte, dass die Frau ihn ja gar nicht sehen konnte. „Sehr schön, hört sich ja gut an.“, presste er steif heraus, während sie weiter stöhnte. „Das klingt nach einem guten Angebot.“ Er hatte noch nie mit einer Nutte geredet und wusste noch weniger von dieser Branche.
„Machen Sie auch was anderes, ich meine, machen Sie auch andere Sachen?“ „Oh bist du ein kleiner Perversling. Was stellst du dir denn so vor?“ „Wie geht es Ihnen denn?“ Schweigen wehte durch die Leitung und dauerte und dauerte. „Tut mir leid, ich bin nicht die Telefonseelsorge. Also wenn Sie nicht, na ja, Sie wissen schon, dann muss ich jetzt, dann muss ich....“ Er erwiderte: „Aber ist es nicht, egal, was wir sprechen? Ich meine, wir können uns auch nur anschweigen. Wenn Ihnen das Recht ist. Oder ich rede und Sie hören zu. Ich bezahle alles. Oder Sie...“ Er unterbrach sich, weil er bemerkte, wie ein Damm in ihm brach und die Worte kamen in Form und Gestalt eines gefangenen Flusses. „Wie lange arbeiten Sie, äh, wie nennt sich im Fachjargon, was Sie machen?“
Ein kurzes Lachen. „Ich nenne es akustische Wichsvorlage liefern. Aber unter der Bezeichnung erhalten Sie keine Auskunft im Arbeitsamt.“ Er lachte. Sie auch, aber lauter. Dann veränderte sich ihre Stimme. Wurde sorgenvoller. „Wollen Sie nicht aufhängen, das kostet eine Menge, was sie da machen!“ Er war gerührt und amüsiert zugleich. Eine Frau, die Telefonsex praktiziert und einen ihrer Kunden über die Kosten aufklären will. „Ich habe genug Geld.“ „Sind Sie reich?“ „Nein.“ Er hörte den Hörer knacken. Sie wechselte die Hand, mit der sie den Hörer trug. „Haben sie keinen, äh...“ „Ich habe aber einen Freund. Und ich liebe ihn.“, sagte sie bestimmt. „Verwenden Sie keine oder keinen, na wie heißt das doch gleich?“ Sie lauerte, das spürte er. Meinte er etwa Kondome?„Nehmen sie für Ihre Arbeit kein Ding her, so eines, was man sich um den Kopf schnallt?“ „Was?!“
„Wo schon Kopfhörer und Mikro eingebaut sind. Dann müssten Sie nicht immer den Hörer aus der Hand geben.“, schob er hastig nach. Ein helles Lachen kam durch die Leitung. Nichts Gespieltes. Und es dauerte lange. „Mein Gott, habe ich Sie vorher falsch verstanden. Meine „Ausrüstung“  sozusagen ist gerade kaputt. Ich habe mir einen alten Apparat aus dem Keller holen lassen.“ Das Geld ging langsam aus und er fragte sie, ob sie vielleicht seinen Witz hören wollte. Davor kam noch eine Frage, nämlich warum das nicht EIN Witz war, sondern  ihn als den seinen bezeichnete. Er antwortete, weil sie beide eine besondere Beziehung teilten. Das helle Lachen wiederholte sich und war doch ein anderes. Es war spontan. Keine Fesseln. Kein Nachdenken. Ein Krokodil was riecht, zubeißt.
Kurz dachte er, ein  Kind zu hören. Die Frau konnte nicht alt sein. Vielleicht Anfang Zwanzig. Zum Lachen habe ich schon lange niemanden mehr gebracht. Lange her, lange. Die Stimme brach ab. Die Münze tauchte in den Apparat hinein. Kurz überlegte er dem Münzfernsprecher die Hand dankend zu schütteln. Aber das ging wohl nicht. Auch ein Opfer war wohl nicht so im Rahmen des möglichen. Stattdessen sagte er einfach „Danke“ und betrat die Straße, die rechts an der Telefonzelle vorbei lief und ihn vielleicht zu seinem Ziel brachte.


Anmerkung von max.sternbauer:

Der Mann war einsam. Aber vielleicht verändert sich das bald.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Lala (27.03.13)
Kenne ich diese Schtorry nicht?

Hat Lluviagata, die nicht vorgestern noch arg kritisiert?

Tja, nichts mehr zu sehen. Kein Komm, kein Etwas.

Arme kleine, kurze Story, dass Du solch einen Rabenvater hast, der Dich nur mit denen spielen lassen will, die auch ihm genehm sind.

Allein schon deswegen: Schade.

 max.sternbauer meinte dazu am 28.03.13:
Hallo.
Ich habe die Geschichte deswegen kurz raus genommen, um sie zu überarbeiten. Da ist halt leider der Kommentar mit raus geflogen, den ich aber für sehr wichtig erachte. Kannst du mir, wenn du lust und Zeit hast, genauer sagen was dir an der Geschichte nicht gefällt? Bitte, das wäre ein großer Gefallen für mich. Und danke nochmal für deine bisherige Bemerkung. Ich bin natürlich kein Rabenvater (nette Formulierung) sondern bettle nach Kommentaren, die leider viel zu selten kommen.

 larala (25.08.15)
Ich mag die Geschichte. Überhaupt mag ich, wie du schreibst.

 max.sternbauer antwortete darauf am 06.07.17:
Liebe larala, danke für deinen lieben Kommentar. Du wirst es vielleicht glauben aber ich habe erst heute ihn bemerkt.

Lg Max
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram