Esther 1.

Erzählung zum Thema Familie

von  franky

Vorwort

*

Im Jahre 83 hatte die Schwester von Claudia, die Esther, nach einem Italienaufenthalt eine Erkrankung und wurde im Spital näher untersucht, wo eine ganz seltene Krankheit diagnostiziert wurde. Sie hiess mit Abkürzung: Lupus. In lateinisch: Erythematodes. Das ist eine Störung des Immunsystems. Das sei eine Krankheit, die meist bei Frauen ab dem zwanzigsten Lebensjahr auftreten und den unterschiedlichsten Verlauf nehmen kann. Das hatte mir Claudia mitgeteilt. Auch Männer können davon betroffen sein. Da Lupus noch bei keinem der näheren und weiteren Bekannten aufgetreten ist, konnte man sich darunter noch nichts Konkretes vorstellen. Die Tatsache wurde im Augenblick mit gewisser Besorgnis aufgenommen, aber ziemlich schnell wieder verdrängt.
Esther konnte nach dieser Untersuchung, wo diese Krankheit festgestellt worden war, ganz normal ihr gewohntes Leben fortführen. In der Ferienwohnung in Savognin hatte sie immer Schwierigkeiten. Wenn wir alle im Garten in der prallen Sonne lagen, musste sie gänzlich im Schatten, angezogen neben uns liegen, was von Mama oft ein wenig ironisch kritisiert wurde. Das war besonders schlimm, als sie von einem Ferienaufenthalt in Kenia, den sie mit ihren damaligen Freund Pius unternommen hatte, zurückgekehrt war. Obwohl dort die Regenzeit herrschte, hatte die Sonne doch eine viel stärkere Kraft, als bei uns in Mitteleuropa. Esther war so eine lebenslustige und liebenswerte Person und wollte uns nicht mit ihren Beschwerden beunruhigen. Sie versprühte soviel Lebensfreude und konnte mit ihrem Unternehmungsgeist alle anstecken. Es musste immer etwas laufen. Sie fuhr einen roten Ford Escort, auf den sie besonders stolz war. Esther hatte die Schule einer Hotelsekretärin abgeschlossen. Im Tessin lernte sie Pius kennen, der im gleichen Hotel als Koch angestellt war. Das war im Jahre 84 und seitdem hatten die beiden ein nach aussen hin sehr gutes Verhältnis aufgebaut. Die beiden versuchten wenn möglich immer im selben Haus arbeiten zu können. Da die Eltern von Pius einen Betrieb in Romanshorn hatten, absolvierte er die Hotelfachschule. Das verlangte auch die Kenntnis in allen dazugehörenden Fächern. Esther hatte Pius zu Beginn ihres Verhältnisses über die Krankheit informiert. Sie wurde von Pius akzeptiert. Ich muss über „LE“, So wird die Krankheit auch mit Abkürzung genannt, erklären, dass sie alle inneren Organe befallen kann, als müsste das Immunsystem die eigenen Organe als Krankheit bekämpfen. Die Krankheit tritt in Schüben auf, in ganz unterschiedlichen Intervallen. Sie ist deshalb so gefährlich und unberechenbar, da sie auch im Schlaf als epileptischer Anfall vorkommen kann, d.h. es wird auch das Gehirn befallen. Das wurde Esther zum ersten Mal bewusst, als sie von Arosa notfallmässig bei Nacht und Nebel ins Spital Chur eingeliefert werden musste. Nach einigen Tagen konnte sie aber schon wieder zu ihrer Arbeitsstelle zurückkehren. Wie sie uns später einmal erzählt hatte, hatten sie in Arosa immer High Life mit ihren Kollegen. Mit Schlafen und Ausruhen auf der Tagesordnung hatten sie nicht viel im Sinn. Es galt die Devise: Mit vollen Zügen das Leben geniessen! Wie sie damit Recht haben sollte. Gegen diese Anfälle musste sie das Medikament Thegretol regelmässig einnehmen. Sie sollte auch jeden Stress und Aufregung vermeiden, was in ihrem Beruf überhaupt nicht möglich war. Es war im November 85, da musste ich zu einem Doktor nach Bad Ragaz wegen meiner Hände, Esther war sofort bereit, mich dorthin zu bringen, weil Claudia nicht Zeit hatte. Ich kann mich noch so gut erinnern, es schneite wie verrückt und als wir in das Auto stiegen, wollte der Motor nicht anspringen. Er war hoffnungslos abgesoffen. Esther war ganz verzweifelt und legte die Hände in den Schoss und sagte: Jetzt weiss ich nicht mehr weiter! Ich fragte, ob ich einmal probieren dürfte, das Auto zu starten? Sie stimmte zu und ich drehte den Schlüssel nur einmal um und der Motor sprang an. Sie hatte von mir damals noch keine besonders gute Meinung, da ich die Claudia geheiratet hatte, ob- wohl ich um vieles älter war. Nein! Hochzeit war erst ein Jahr später. Aber trotzdem. Ich brachte meine Untersuchung bei dem Doktor in Bad Ragaz hinter mich. Der hatte mir schon damals zu einem Abbruch meiner Musikerlaufbahn geraten. Ich sah aber aus finanziellen Gründen noch keine Möglichkeit, in Frühpension zu gehen. So schleppte ich mich mit allen diesen Beschwerden über so manche Jahre hinweg. Claudias jüngste Schwester Carmen machte eine Lehre als Friseurin in Vaduz. Diese Schwester kam auch öfters auf Besuch zu uns nach Walenstadt. Sie erzählte so nebenbei Claudia, dass sie öfters unterwegs einfach umfalle und nach kurzer Bewusstlosigkeit wieder aufstehe und weitergehe, als wäre nichts geschehen. Bei dieser Meldung sagte ich zu Claudia: Carmen ist wahrscheinlich sehr krank, sie muss unbedingt zu einem Arzt gehen. Ich kannte Carmen immer nur in einem Zustand wie leicht erkältet. Dass sie aber als Kind Asthma hatte, die wahrscheinlich von einer überstarken Allergie herrührte. Die Eltern und der Hausarzt hatten dies gut im Griff, so lange Carmen noch minderjährig war und die entsprechenden Anordnungen befolgen musste. Nach Erreichen der Volljährigkeit mit Achtzehn hatte sie aber jede regelmässige Kontrolle abgebrochen. Ihre Asthma-Anfälle konnte sie sehr gut vor den Anderen verstecken. Sie kam nur zu ihrem Hausarzt um den Cortison-Spray zu holen. Für weitere Gespräche hatte sie keine Zeit. In diesem Falle lauerten zwei unheimliche Krankheiten im Versteckten, die zu jeder Zeit unheilvoll zuschlagen konnten. Dazu kam noch, dass Mama eine grosse Operation im Spital Walenstadt machen lassen musste. Die niederschmetternde Diagnose, sie habe Gebärmutterkrebs, brachte alle Familienangehörigen in grösste Verzweiflung. Die Operation war jedoch erfolgreich und die späteren radioaktiven Bestrahlungen hatte sie bewundernswert gut überstanden. Wir hatten alle berechtigten Optimismus für eine völlige Wiederherstellung von Mamas Gesundheit. Als aber im Spätherbst ein niederschmetternder Bericht von St.Gallen kam, der Mama nur mehr eine Lebenserwartung von 2 bis 3 Monaten gab. Sie hatten auf einem Röntgenbild einen verdächtigen Fleck entdeckt, der den Krebsbefall der Leber befürchten liess. Wir machten einen Familienrat mit Esther, Papa, Grossmutter und Claudia. Wir waren davon überzeugt, dass diese Aussage vor Mama geheim gehalten werden müsse. Nur der geringste Gedanke dass Mama nicht mehr lange zu leben hätte, würde sie vorzeitig umbringen. Wäre auch ein Fataler Fehler gewesen, da sich nachträglich herausstellte, dass dieses Röntgenbild nicht korrekt gelesen wurde.

11.9.95 Esther.

Es wurde in keiner Beziehung soviel umgekrempelt, als zwischen Esther und mir. Alle angehäuften Vorurteile wurden mit Fortlauf der Jahre regelrecht weggespült. Als ich Ende 88 meine Laufbahn als Musiker abgeschlossen hatte, konnte Esther schon seit Anfang September nicht mehr ihren Beruf als Hotelsekretärin ausüben. Sie hatte in Stansstad im Hotel "Postillion" als Chefsekretärin gearbeitet. Dies war ein sehr anspruchsvoller Posten. Pius hatte die Stelle als Stellvertreter des Chefs angenommen. Esther und Pius hatten sich in Buochs aus diesem Grunde eine 3-Zimmer-Wohnung gemietet. Claudia und ich hatten ein paar Mal, als ich in Meiringen spielte, hier übernachtet. Die beiden hatten im "Postillion" eine Jahresstellung. Im Sommer 87 hatte Esther auch hier einen epileptischen Anfall, der vom Lupus ausgelöst wurde. Sie musste notfallmässig ins Spital nach Stansstad eingeliefert werden. Zu dieser Zeit spielte ich zufällig in der Nähe in Meiringen, so dass wir Esther aus dem Spital abholen konnten. Besser gesagt, Esther wollte auf keinen Fall mehr bleiben und hatte ihre Entlassung erzwungen. Die paar Tabletten könne sie auch zuhause einnehmen. Esther schwärmte uns immer von einer Weltreise vor. Für einige Länder mussten auch vorsorglich gewisse Impfungen durchgeführt werden. Mitunter mussten auch Visa beschafft werden. Einige hatte sie schon eingeholt. Die ganzen Vorbereitungen für so eine Reise, waren noch sehr aufwendig. Vor Antritt der Weltreise mussten beide ihren schönen Posten aufgeben und natürlich auch die Wohnung. Das Vorhaben hätte in Esthers Leben einen markanten Einschnitt gebracht. Es kam aber alles ganz anders als geplant war. Sie hatte die Schwere ihrer Krankheit mit all ihren möglichen Folgen nicht mit eingerechnet. Im Sommer 88 machte Esther Ferien bei einer bekannten Kollegin auf der Insel Sardinien. Dieser Aufenthalt hatte Esther gar nicht gut getan. Wie schon gesagt, wurden die Anfälle so stark, dass sie vorzeitig nach 2 Monaten den Posten in Stantsstad aufgeben musste. Sie wurde in Chur bei Doktor Schmid behandelt. Zu diesem Arzt hatte sie unbegrenztes Vertrauen. In diese Zeit fiel eine Umbesetzung dieses Posten im Spital. Es kam Doktor Brunner als Nachfolger. Diese Tatsache hatte Esther seelisch sehr schwer beschäftigt. Nach kurzer Zeit hatte sie aber zu Brunner ebensoviel oder noch mehr Vertrauen. Doktor Brunner war Chef der Abteilung Medizin im Kantonsspital Chur. Esther vegetierte in Zizers bei den Eltern mehr schlecht als recht dahin. Angehörige gaben ihr gute Ratschläge, wie sie wieder gesund werden könne, ohne dass jemand über diese spezielle Krankheit Bescheid wusste. Wir mussten uns alles in mühsamer Kleinarbeit zusammentragen, was über Erythematodes - abgekürzt: L.E. oder Lupus, was auf Deutsch Wolf bedeutet - bis anhin bekannt war: Ein Wolf, der den Menschen von innen auffrisst. Mama konnte kein Verständnis dafür aufbringen, dass Esther nicht an frische Luft gehen wollte. Sie solle sich wenigstens ein paar Minuten auf dem Balkon auf einen Stuhl setzen. Es herrschte schon eine empfindliche Herbstkälte. Nur damit alle zufrieden waren, setzte Esther sich da hin und stoppte mit der Uhr die 15 Minuten, um nach Ablauf dieser für sie grässlichen Zeit sich wortlos und unverzüglich wieder in die Stube zu begeben. Nach jedem Besuch bei Esther sagte Claudia zu mir: Mir scheint, Esther hat überhaupt keinen Lebenswillen mehr, wie soll das weitergehen? Und wo führt das hin? Wir wussten uns auch keinen Rat. Dazu wäre noch zu bemerken, dass Esther auf Anraten eines Bekannten von Pius in Nähe von Stuttgart einen Arzt auch Naturheiler aufsuchte. Diese mühevolle Reise unternahm sie mit dem Auto oder mit dem Zug. Dieser Arzt hatte auch versucht, die zum Teil sehr hohen Dosen von Cortison zu verringern. In dieser Zeit hatte Esther die Konsultationen bei Doktor Brunner völlig eingestellt. Dies geschah aber mit grösstem Missfallen der Verwandtschaft. Vor allem Claudia hatte nicht das Vertrauen zu einem Naturheiler, obwohl er auch die klassische Medizin beherrschte. Als dann der grosse Rückfall bei Esther eintrat, wurden die Skeptiker in ihrer Meinung bestärkt oder bestätigt. Das ging so weit, dass sie den Naturheiler zur Rechenschaft ziehen wollten. Doktor Brunner konnte aber keine grundsätzlich falsche Behandlungsmethode feststellen. Die einzige Veränderung in der Behandlung von Doktor Brunner bestand nur in der Erhöhung der Cortisonmenge. Das konnte aber das momentane Wüten des Lupus in Esthers Körper nicht mehr stoppen. Nach längeren verschiedensten Versuchsphasen kamen die zuständigen Ärzte zur Anwendung einer sehr fragwürdigen Behandlungsmethode mittels Chemotherapie. Als wir diese Absicht der Spitalärzte zu Ohren bekamen, hatte sich in unserem zwar laienhaften Medizin-Verständnis eine grosse beängstigende Unruhe aufgebaut. Chemotherapie in der Krebsbehandlung war uns gewissermassen geläufig. Einen Heilerfolg bei Lupus konnte uns niemand nur im Geringsten glaubwürdig begründen. Wir hatten damals noch kein gewichtiges Wort bei Esthers Behandlung mit zu reden. Bei einer der vielen Untersuchungen im Spital wurde auch eine Lungenentzündung festgestellt. Dies wurde zu einem fast unbezwingbaren Übel, da Esther sehr schlecht auf Antibiotika ansprach. Nach kürzester Zeit musste sie die eingenommene Medizin wieder erbrechen. Der Körper von Esther ermöglichte keinen Zugang für irgendwelche Heilmittel. Es wurde so ziemlich alles vom Körper zurückgewiesen, was versucht wurde, hinein zu bringen. Die zuständigen Ärzte - einschliesslich Brunner - wurden immer ratloser. Sie mussten ein ums andere Mal wieder neu über die Bücher gehen, um sich über eine neue Vorgehensweise zu einigen. Es wurde Dezember und die Weihnachten feierten wir wieder in Savognin. Es wurde eine Feier mit viel Tränen und Verzweiflung bei allen Familienangehörigen. Zur Weihnachtsfeier kam auch Pius nach Savognin. Das Verhältnis zwischen Esther und Pius hatte eine gewisse Abkühlung erfahren. Es vollzog sich als leises Davonschleichen von Gefühlen, was fast unmerklich, aber stetig zu beobachten war. Claudia und ich hatten über diese Veränderung gesprochen, die aber von anderen Familienangehörigen nicht registriert wurde. Auch jüngste Schwester Carmen und ihr Freund Roland kamen zur Feier. Die Schwester die dritte Schwester Sandra kam auch im Laufe der Nacht. Ihr Freund Niggi gesellte sich erst zum Frühstück am 25 zu uns. und musste frische Brötchen und Gipfeli mitbringen. Der Esstisch wurde in voller Länge ausgezogen, damit alle Mitglieder ihren Teller und Kaffe abstellen konnten. Je mehr Personen sich zusammen fanden, desto weniger wurde über Esthers Krankheit gesprochen. Ich hatte den Eindruck, dass die Geschwister Carmen und Sandra über die Tragweite von Esthers Krankheit gar nicht Bescheid wussten. Wir teilten untereinander die Geschenke aus und tranken auch so manches Glas Wein. An Silvester öffneten wir sogar eine Flasche Sekt um auf ein glückliches neues Jahr an zu stossen. Über all dieser scheinbaren Gemütlichkeit hing das Damoklesschwert einer Chemotherapie, die Esther vom Arzt verordnet bekommen hatte und die anfangs Januar vollzogen werden sollte. Claudia und ich konnten nie und nimmer den Erfolg einer solchen Behandlung einsehen. Der schon äusserst schlechte Gesundheitszustand machte uns immer mehr Bedenken. Als aber der Tag kam, wo Esther mit Pius nach Chur fahren sollte, hatte unsere Stimmung einen Tiefpunkt erreicht. Als dann nach einer Stunde ein Telefon kam, worin Esther der Mama mitteilte, dass sie auf der Fahrt nach Chur einen Autounfall hatten und in Tusis abgeholt werden sollten, gab dies uns noch den Rest. Esther hatte sich bei diesem Unfall ihren rechten Arm ausgerenkt. Das ist eine sehr schmerzhafte Verletzung. Esther musste ins Spital und bekam ein Korsett um den Arm ruhig zu stellen. Trotz dieser sehr schmerzhaften Verletzung musste sie auch die äusserst unangenehme Chemotherapie über sich ergehen lassen. Die üblichen Begleiterscheinungen wie Übelkeit und weitere körperliche Schwächung liessen nicht lange auf sich warten. Eine beunruhigende Veränderung des Blutbildes wurde auch festgestellt. Nach Ende der Chemotherapie war der Gesundheitszustand von Esther viel schlechter als vorher. Esther konnte aber nach dieser Tortur wieder nach Hause gehen. Der Haarausfall als Folge der Chemotherapie hatte sich noch in Grenzen gehalten. Zu Hause musste Esther nun mit einer Reihe von Beschwerden zu Recht kommen. Der bei dem Autounfall ausgerenkte Arm machte ihr noch mehr zu schaffen als vorher gedacht. Sie bedauerte auch den Verlust ihres geliebten Escort. Sie hatte Claudia und mich mit diesem Auto zur Hochzeit gefahren. Pius hatte die schlechte Angewohnheit, immer ein paar Striche schneller zu fahren, als sein fahrerisches Können es zugelassen hätte, was sich besonders bei Glatteis verhängnisvoll auswirken musste. Wir hatten immer ein schlechtes Gefühl, wenn wir mit ihm fuhren, er hatte immer zu wenig Abstand zum vorderem Auto. Das war wahrscheinlich der Ausdruck einer inneren Unruhe. In allen Situationen wirkte er leicht gestresst. Die Eltern von Pius hatten offensichtlich mit Esther keine Freude als Schwiegertochter. Zu allem Überfluss hatte Esther bei einem kurzen Besuch bei den Eltern von Pius vor Weihnachten einen nächtlichen epileptischen Anfall und musste notfallsmäßig in das nächste Spital gebracht werden. Bei einer Unterhaltung mit Esther machte sie die Bemerkung: "Wenn der Pechvogel dich einmal in seinen Krallen hat, dann will er dich nicht mehr loslassen". In gewissen Zeitabschnitten des Lebens ist man schon dieser Meinung. Es klebt einem das Pech an den Fersen. Bei nüchterner Betrachtung kann man kaum glauben, dass so viel Leid und Unglück ein einziges Menschenkind treffen kann. Das Ungemach schob sich als dicke Brühe stetig weiter und Aussicht auf Besserung war nirgends in Sicht. Im Gegenteil, es kam immer noch schlimmer! Pius hatte in seinen freien Tagen Esther in Zizers besucht. In der Nacht hatte Esther wieder so einen epileptischen Anfall und sich dabei sogar in den Arm von Pius verbissen. Sie musste einmal mehr mit dem Krankenwagen ins Kantonsspital Chur gebracht werden. Dies war der Beginn einer längeren Odyssee. Claudia und ich besuchten Esther in jeder Zimmerstunde, wenn es nur irgendwie möglich war. Wir wussten schon nicht mehr, was wir zu Esther sagen sollten. Es kamen immer wieder dieselben Sprüchlein zu Stande, was von einem ernst gemeinten Zuspruch weit entfernt war. Weil eine wirkliche Besserung in keiner näheren oder weiteren Entfernung in Sicht war. Roland, der Freund von Carmen, hatte Esther einen kleinen Fernseher ins Zimmer gestellt. Damit konnte sie sich die schlimme Wirklichkeit ein wenig vertreiben. Der Gesundheitszustand von Mama hatte sich im Schatten von Esthers Krankheit unbemerkt verschlechtert. Das seelische Tief, das Mama ständig in sich trug, hatte zur Folge, dass auch der Körper immer mehr Schaden nahm. Sie konnte nicht mehr essen und die kleinste Kleinigkeit konnte sie ausser Fassung bringen. Darunter musste Papa am meisten leiden. Er war bei Gott nicht zu beneiden. Die übergroße Bürde, die er zu tragen hatte, schien ihn zu erdrücken. Wir hatten sogar ernsthaft Angst um ihn. Das Krankenbett von Esther wurde jeden Tag von den verschiedensten Bekannten und Verwandten belagert. Dazu kam noch eine Unmenge von Telefonanrufen, oft zu den dümmsten Zeitpunkten. Die Blumensträusse, die sich im Zimmer anhäuften, verströmten ein Duftgemisch, das eher an einen Friedhof erinnerte, als an ein Spitalzimmer, wo noch lebende Menschen zuhause waren. Nachts mussten sämtliche Sträusse in den Gang gestellt werden, um einigermassen ordentliche Luft zum Schlafen zu haben. Die Lungenentzündung von Esther konnte man nicht und nicht in den Griff bekommen. Es wurden die verschiedensten Antibiotikum ausprobiert, ohne greifbaren Erfolg. Der Husten sass tief und trocken in der Lunge und machte keine Anstalten sich zu lösen. Eine Wiederholung der unnützen Chemotherapie wurde ins Auge gefasst. Dieses Taktieren mit so wenig erfolg versprechenden Heilsmethoden konnte einem schon zur Verzweiflung bringen. Die ganze Behandlung von Esthers Krankheit basierte nur auf nackten Versuchsmethoden. Lupus ist eine so seltene Krankheit - man kennt sie zwar schon lange Zeit - dass man noch keine Erfolgsstatistik anlegen konnte. Jeder Arzt, der solche Patienten behandelte, kochte seine ureigensten Süppchen für seine mit Lupus geschlagenen Menschen. Da konnte keine einheitliche Linie für eine Heilungsmethode aufgestellt werden. So gut es Doktor Brunner mit Esther auch gemeint hatte, eine Zusammenarbeit mit anderen Spezialisten, wie Doktor Moser in Zürich, kam nie zustande, obwohl ich ihm diese Möglichkeit angedeutet hatte. Unter unseren Verwandten herrschte totales Chaos über den Wissensstand der Krankheit Lupus. Diese Ungewissheit machte Claudia und mir so zu schaffen, dass wir bei einem zuständigen Arzt nähere Informationen einholten. Diese Aussagen des Arztes erfüllten uns mit tiefster Trauer über die Schwere der Krankheit. Genau genommen hätte Esther Anspruch gehabt auf eine IV-Rente. Diese Überlegung stiess aber bei allen Angehörigen auf taube Ohren. Im Gegenteil, vor der letzten Einlieferung in das Krankenhaus hatte Esther noch eine Anstellung als Hotelsekretärin gesucht, obwohl bei genauer Kenntnis ihres Gesundheitszustandes eine solche Beschäftigung im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht in Frage kommen konnte. Es gab von medizinischer Seite einige Erfahrungswerte, die für Lupus-Patienten unbedingt zu beachten wären. Insbesondere war jede Art von Stress und grösserer Gemütserregung zu vermeiden, auch direkte starke Sonnenbestrahlung der Haut musste unbedingt vermieden werden. Alle diese Faktoren könnten Krankheitsschübe auslösen. Bei Esther war im Moment dieses alles noch Zukunftsmusik. Im Krankenzimmer, wo hie und da noch eine weitere Patientin hinein gebracht wurde, konnte sich zwischen Esther und der Zimmernachbarin nur ganz selten ein vernünftiges Verhältnis aufgebaut werden. Es kam öfters vor, dass die Patienten viel älter und deshalb nicht selten auch schwerhörig waren. So blieben Esther nur der vertraute Fernseher und nachmittags fanden sich in der Regel immer mehr oder weniger gern gesehene Besucher ein. Das stundenlange, langweilige Geschwätz ging Esther manchmal ganz schön auf den Keks. Sie hätte viel mehr Freude daran gehabt, sich zwischen 2 und 4 Uhr nachmittags einen spannenden Film im Fernsehen ansehen zu dürfen. Wenn Mama zu Besuch kam, fand sie es äusserst unhöflich, wenn der Fernsehkasten lief. Da könne man ja kein vernünftiges Wort miteinander reden. Das der Vorrat an vernünftigem Gesprächstoff schon längst erschöpft war, hatte Mama nicht wahrhaben wollen und sie hatte Esther des öffteren deswegen gerügt. Diese Aktionen hatten für Esthers Wohlbefinden nicht gerade positiven Einfluss. Sie wurde in ihrer Moral nur noch tiefer in ein Loch gedrückt. Wir hatten mit Claudia die geheime Abmachung getroffen, dass wir Esther um 2 Uhr besuchen, damit wir drei dann einen spannenden Krimi oder sonst einen guten Film ungestört ansehen konnten. Wenn aber trotzdem unvorhergesehen ein nicht gemeldeter Besucher eintrudelte, dann konnte Esther so herrlich ihre Augen verdrehen, zum Zeichen ihres unterdrückten Unmutes. Das Gotti von Claudia, Klärli Enzler, hatten wir auch in diesem Sinne informiert. Auf Klärli „Schwester von Papa“ konnte man sich immer verlassen, wenn es etwas verzwicktes zu lösen gab. Klärli ist auch von Natur aus eine fröhliche Person. Solche Menschen hatte Esther dringendst nötig. Mit ihr hatten wir auch den verkrampften Besuchermodus klammheimlich beeinflusst und so gut als möglich geändert. Der Lupus hatte aber mit Esther noch üble Dinge vor. Er hatte nicht die Absicht, sich in ein stilles Eck zurück zu ziehen. Er bearbeitete die inneren Organe von Esther in grausamer Reihenfolge. Die Lunge hatte nur mehr eine geringe Leistung, die für eine ausreichende Atmung nicht mehr aufkommen konnte. Esther benötigte zusätzlich Sauerstoff, um einigermassen über die Runden zu kommen. Es verursachte ein leises Rauschen im Raum, welches auf Esther sehr beruhigend wirkte. Die Nase wurde durch den Schlauch ziemlich lädiert. Ihr Tagesmenü konnte sie selbst auswählen. Der Appetit reichte aber meist nur für 1 bis 3 Löffel, dann blieb der Rest so gut wie unberührt stehen und wurde wieder abgeräumt. Das ging jeden Tag so. Das Gewicht wurde immer weniger und weniger. Für Spaziergänge im Zimmer oder auf dem Flur, konnte sie keine Kräfte mehr mobilisieren. Sie sah auch keinen vernünftigen Grund, warum sie solche Ausflüge tätigen sollte. Es hatte auch nicht viel Sinn, Esther für solche Übungen überzeugen zu wollen. Das Körpergewicht fiel schnell unter 50 Kilo. Der April stand da und Esther hatte schon 2 volle Monate im Spital zugebracht, ohne dass eine Besserung abzusehen gewesen wäre. Für notwendige weitere Untersuchungen wurden Esther immer öfters sehr schmerzhafte Eingriffe zugemutet. Sie hatte mehrmals eine Rückenmarkpunktion über sich ergehen lassen müssen. Das Stecken von Infusionen war für die Krankenschwestern fast unmöglich geworden, da die Venen von Esther keine gute Stelle mehr aufwiesen. Von den behandelnden Ärzten wurde das Einbringen eines Port a Cath vorgeschlagen. Damit wäre ein ständiger Zugang für etwaige Infusionen jederzeit gegeben. Durch die verschiedensten Behandlungen kam es zum Absinken der roten Blutkörperchen. Da musste wieder Blut gegeben werden. Das Einbringen des Port a Cath wurde als harmlose Operation dargestellt. In Wirklichkeit wurde es zu einem schmerzlichen Gemetzel, da die Operation von einem Anfänger durchgeführt wurde. Als wir hinterher diese Tatsache bei Doktor Brunner erwähnten, halfen alle gutgemeinten Beteuerungen nichts mehr. Die örtliche Betäubung hatte nicht lange genug gewirkt und hatte auch nicht die notwendige Stärke. Solche grössere und kleinere Missgeschicke passierten im Laufe von über 2 Monaten immer wieder, obwohl die Betreuung rund um die Uhr mit ausser-ordentlicher Aufopferung des Pflegepersonals ausgeführt wurde. Es ging alles einen mühsamen, steinigen Weg, der weder aufwärts, noch merklich abwärts ging, bis zu dem ominösen Tag, wo Grossmutter zu Mittag einen kurzen Besuch machte und Esther in einem - für die Grossmutter eigentümlichen - Zustand vorfand. Sie rief die Schwester und man stellte fest, dass Esther wieder so einen Anfall hatte. Diesmal ging es aber nicht wie gewöhnlich schnell wieder vorbei, sondern sie fiel in ein Koma. Sie wollte anscheinend sich in die Anonymität flüchten, da sie keinen Ausweg mehr sehen konnte. Esther wurde unverzüglich in die Intensivstation verlegt, um eine lückenlose Überwachung zu gewährleisten. Das bedeutete für uns alle wieder einen Schlag, der uns alle zu Boden drückte. Claudia besuchte Esther auf der Intensivstation und sprach auch mit der Nachtschwester über Esthers Zustand. Sie gab wenig Erfreuliches von sich. Ihr Kommentar lautete: "Esther habe nur mehr ein Gedächtnis von einem etwa 5 bis 7 jährigen Kind. Sie wird nie mehr normal denken können". Diese Aussichten waren mehr als nieder- schmetternd. Es wurden aber immer wieder helle Momente bei Esther festgestellt. Nach 2 - 3 Tagen konnte Esther aber schon wieder in die normale Abteilung gebracht werden, was wir zwar nicht verstehen konnten. Die normalen Besuche wurden ganz eingestellt. Es gab nur 2 Möglichkeiten: Entweder, es geht wieder bergauf, oder Esther wird sterben. Claudia hatte in diesem Falle einen Plan, die Betreuung von ihrer Schwester rund um die Uhr durchzuführen. „Es dürfe keine Schwester in ihren schwersten Stunden allein gelassen werden.“ Claudia übernahm die Nachtwache. Die übrigen Schwestern und Eltern übernahmen die Tagwache. Klärli hatte Claudia einige Male bei der Nachtwache abgelöst. Das Ganze lief eine volle Woche, ohne dass eine Veränderung zu verzeichnen war. Ich schlief in dieser Zeit allein in Walenstadt und hatte vorsorglich immer das Telefon ins Schlafzimmer mitgenommen. Eines morgens, am dreizehnten April klingelte das Telefon und Claudia berichtete mit tränenerstickter Stimme: "Stell dir vor, ein Wunder ist geschehen! Die Esther ist wieder wach, sie hat mit mir gesprochen, als hätte sie nur länger geschlafen". Die Zunge von Esther hatte durch die Anfälle Wunden abbekommen. Ehrlich gesagt, es fehlte ein gutes Stück an der rechten Seite. Die Zunge war auch sehr aufgeschwollen und dadurch die Aussprache etwas schwerfällig.
Esther schimpfte mit Claudia bei einer Umlagerung: "Warum hast du mich geweckt? Ich hätte gerade so gut geschlafen". Diese Stimme schien Claudia wie aus dem Jenseits zu kommen, so unerwartet kam der Satz aus dem Munde von Esther. Sie versuchte auch später noch von ihren Träumen zu erzählen. Es handelte sich durchwegs um Albträume in den schlimmsten Formen. Alle die sie umgaben, trachteten ihr nach dem Leben. Claudia wollte sie ständig mit allen möglichen Gegenständen bedrohen. Da gab es einen Keil, der Esther bei einem neuerlichen epileptischen Anfall zwischen die Zähne geschoben werden sollte, damit sie sich nicht wieder die Zunge so schrecklich verletzen könne. In ihren Träumen kam Claudia immer wieder zum Vorschein und trug ein hämisches Grinsen zur Schau und lachte schadenfroh: "Jetzt hab ich dich! Du kannst mir nicht entkommen". Esther musste immer wieder stark um ihr Leben kämpfen, vielleicht hatte dies ihr das Leben gerettet. Sie erinnerten stark an Streitigkeiten in der Jugendzeit, wie sie Kinder untereinander auszutragen pflegten. Als Esther die vergangene Woche im Koma lag, hatte der Lupus ganze Arbeit geleistet. Das letzte Organ welches er schliesslich bearbeitet hatte, war die Leber. Die Haut und das Weisse von den Augen hatte eine starke gelbliche Färbung. Esther hatte über die Krankheit gesiegt, so schien es wenigstens im Augenblick und das war vorerst das Wichtigste. Mama und Klärli machten sich die grössten Gedanken darüber, was Esther gerne essen würde. Es wurden in liebevoller Kleinarbeit die geheimsten Wünsche des Patienten zu erraten versucht. In dieser Woche ihres tiefsten Komas gab Esther nur unheimliche Laute und Schreie von sich, die vor allem nachts geisterhaft durchs Spital hallten. Ich hatte diese markerschütternden Schreie in meinen Ohren und musste sie zu Hause in meinen "Jupiter"- Synthesizer einspeichern. Dabei liefen mir die Tränen übers Gesicht, da ich damals noch nicht wusste, dass Esther jemals wieder aus diesen bösen Träumen erwachen würde. Mich erfüllte eine unsägliche, tiefe Traurigkeit. Nun hatten wir unsere Esther ja wieder zurück bekommen. Sie hatte nur mehr ein Körpergewicht von 39 Kilo. Durch die starken Medikamente und die Chemotherapie hatte sich der Körper total zurück gezogen. Die Monatsregeln blieben gänzlich aus. Die Verdauung spielte verrückt. Besser gesagt, sie funktionierte überhaupt nicht. Der Stuhl hatte sich als harter Klumpen im Dickdarm festgesetzt und machte nicht die geringsten Anstalten den Körper zu verlassen. Als Klärli eines Tages im Zimmer war und Esther wieder einmal einen Versuch machte, den Stuhlgang in Bewegung zu bringen und nichts, aber auch gar nichts weiter ging, nahm Klärli sich ein Herz, zog einen Gummihandschuh über und bohrte mit dem Fingern in den Darm und holte so Klümpchen für Klümpchen aus dem After. Es kam schliesslich eine grosse Schüssel voll von altem Kot zusammen. Diese Wochen lange Verstopfung hatte dem Körper auch nicht gerade gut getan, wo es für Esther überaus wichtig gewesen wäre, alles giftige schnell wieder ausscheiden zu können. Es war ungefähr um den 25. April, da hatte ein ganz unbedeutender Unterarzt die utopische Idee, Esther wieder nach Hause zu schicken. Damit sie wieder gesund werden könne, müsse sie aus dem Spital heraus und nach Hause gehen. Pfingsten fiel an diesem Jahr auf Anfang Mai. Claudia und ich machten uns ernsthaft Gedanken darüber, Esther zu uns nach Walenstadt zu nehmen, denn unsere Wohnung ist stufenfrei und über Lift erreichbar. Esther hatte nicht die Kraft, nur über eine Stufe zu gehen. Es gab einige kleine Dinge zu regeln, z.B. Sauerstoff oder eine Haltevorrichtung über dem Bett, um sich beim Umdrehen hochziehen zu können. Auf diesen Komfort musste Esther wohl oder übel verzichten. An ein Wohnen bei den Eltern in Zizers war gar nicht zu denken, da es Mama gesundheitlich sehr schlecht ging und die Zimmer im Haus von unten bis oben nur über Mengen von Stufen zu erreichen gewesen wären. Ich musste mir diese Angelegenheit nicht lange überlegen. Für mich war es eine Selbstverständlichkeit, unserer Esther zu helfen - so gut wir konnten - wenn es in unserer Wohnung in Walenstadt gute Voraussetzungen gab. Bei uns bot sich noch die Möglichkeit jederzeit, im hiesigen Spital erste Hilfe zu bekommen. So machten wir uns mit dem Auto auf den Weg nach Walenstadt mit Esther auf dem Beifahrersitz. Alle möglichen Kissen mussten hinter und unter gelegt werden, damit die Knochen von Esther keinen grösseren Schaden davon trugen. Wir meisterten den vorläufigen Umzug ohne nennenswerte Probleme.

„Zurück ins Leben.“

Die 7 Stufen in die Wohnung wurden mittels Lift überwunden. Esther musste vom Stuhl hochgehoben werden und auch wieder vorsichtig abgesetzt werden. Claudia hatte noch einige Tage frei. Später mussten Esther und ich alleine zu recht kommen. Die erste gemeinsame Mahlzeit werde ich nie vergessen. Es gab gebackenen Fleischkäse mit Kartoffel und Spinat. Nach ein paar Bissen kotzte Esther alles wieder quer über den Tisch. Wir liessen uns davon nicht beeindrucken und assen weiter. Esther schämte sich deswegen, wir aber beschwichtigten sie, man müsse nur Geduld haben, dann komme alles wieder in Ordnung. Wie Recht wir haben sollten. Nach den Feiertagen machten wir noch einen Kontrollbesuch im Churer Kantonsspital, um nach kurzer Visite wieder nach Hause zu fahren. Aus Angst sie müsse wieder im Spital bleiben, hatte Esther bitterlich zu weinen begonnen. Diese Bedenken wurden aber rasch zerstreut. Esther wohnte ab nun ständig bei uns in Walenstadt. Wir mussten uns einen Tagesablauf zusammen stellen, der ganz auf Esthers Bedürfnisse abgestimmt wurde. Die ersten Nächte musste Claudia einige Male aufstehen, um Esther bei ihren Lageänderungen behilflich zu sein. Wir gaben ihr zum Zudecken nur eine einfache Wolldecke, da sie nachts sehr starke Schweissausbrüche hatte. Die leichte Wolldecke hatte ihr wohl getan. Dann hatte ich noch die Idee, für etwaige Notfälle ein Trillerpfeifchen an einer Schnur an den Stuhl am Bett zu hängen. Aber als sie es einmal ernsthaft benützen wollte, hatten Claudia und ich gar nichts davon gehört. Esther beschwerte sich: „Ich könnte ja sterben und ihr würdet mich nicht hören!“ Ihre häufigsten Beschwerden bestanden in panischer Atemnot. In so einem Zustand konnte man nicht noch in ein Pfeifchen blasen, so laut, dass es auch von anderen gut gehört werden kann. Der erste Morgen bleibt mir sehr gut in Erinnerung. Wo Claudia kaum aus der Wohnung war und Esther schon durch ein kleines Geräusch wach wurde und nach mir rief: „Franky ich möchte aufstehen.“ „Ja, nun müssen wir zwei alleine zu Recht kommen.“ Ich Nahm sie an beiden Armen, damit sie im Bett aufsitzen konnte. Dann wurden vorsichtig die Beine aus dem Bett gebracht, damit sie seitlich im Bett zu sitzen kam. Dann begann das Ankleide-Manöver. Ich zog ihr die Unterhose an den Beinen bis zu den Knien hoch, da Esther sich nicht gut bücken konnte. So nach und nach folgten sämtliche Kleidungsstücke. Bei jedem musste etwas Besonderes beachtet werden. Wir schafften es schliesslich zur aller Zufriedenheit. Diese Zeremonie wiederholte sich in den nächsten Monaten jeden Tag. Nun sass Esther angekleidet auf dem Bettrand. Jetzt kam der Gang zum Esstisch. Mein Patient konnte ja nicht alleine gehen. Nach einigen Versuchen kam ich dahinter, wie es am besten funktionieren könnte. Ich stellte mich mit dem Gesicht zu ihr vor sie hin und nahm ihre beiden Hände und ging im Rückwärtsgang mit ihr so langsam zum Frühstückstisch. Da ich blind bin, hatte ich keine Schwierigkeiten, Im Rückwärtsgang mit Esther durch die Wohnung zu laufen. Beim Esstisch hatte ich vorher schon alles parat
gemacht. Ein weiches Sofa in vielen zusätzlichen flauschigen Kissen gebettet, damit die Druckstellen von Esther nicht noch mehr abbekommen konnten. Das Absitzen am Tisch wurde auch genau vollzogen. Zuerst positionierte ich Esther ganz knapp an den Tisch, dann schob ich vorsichtig das Sofa an sie heran. „Ist es so gut?“ Wenn ja, konnte sie sich nur nach hinten fallen lassen. Die weichen Kissen hielten diesen Stoss auf.
Zum Frühstück, am Teller ein Stück Brot und ein Weichkäse, sowie ein kaltes Schokoladengetränk. Sie trank mit einem Strohhalm direkt aus dem Tetrapack.
Als musikalische Berieselung stellten wir meist SWF 3 ein. Dies blieb auch für später Esthers Lieblingssender. Wir hatten noch das Glück, dass im Mai schon sehr schönes Wetter herrschte. Dadurch konnten wir fast täglich für Esther eine verhältnismässig für sie angenehme Liegestätte einrichten. Dazu musste ich aber erst den Stuhl vom Wohnzimmer auf den Balkon verfrachten. All diese Tätigkeiten konnte ich nur mit Ruhe ausführen, mit Stress wäre da nichts zu machen gewesen. Wenn Esther mich rief und etwas haben wollte, sagte ich immer: „Ich kann fast alles machen, nur nicht so schnell wie Andere.“ Das hatte Esther stets akzeptiert. So wuchs das Vertrauen zwischen Esther und mir von Tag zu Tag. Wir hantierten wie ein gut eingespieltes Team. Wenn das Klappbett auf dem Balkon seine richtige Stellung hatte, stellte ich noch das Radio und das Telefon in Greifweite von Esther. Wenn sie nachts schlecht schlafen konnte, dann holte sie dies nun in frischer Luft nach. Die Sonne hatte ich durch das Herablassen der Sonnenstoren entschärft. Esther konnte so herrlich von der schönen Aussicht schwärmen. Die Vögel hatten rings um die grösste Freude, Esther ein Schlaflied zu singen. Darunter befand sich aber ein Vogel, den konnte sie bei Gott nicht ausstehen. Ich sagte zu ihr: Der hört sich an, wie das vergebliche Starten eines Autos. Höre ich die Rufe des Vogels denke ich heute noch an Esther. Bei Ausfahrten mit dem Auto mussten wir mit allem möglichen weichen Material den Sitz auspolstern. Beim Besuch eines Querschnittgelähmten fanden wir die Superlösung. Dieser benützte ein spezielles aufblasbares Kissen, welches sich jeder gewünschten Form des Körpers anpasste. Diese Anschaffung kostete fast 200 Fr. Einen gewissen Teil zahlte sogar die Krankenversicherung dazu. Es hatte eine schwarze Farbe und hiess deshalb: „Das schwarze Drumm“. Es musste nunmehr zu allen Besuchen mitgeschleift werden. Esther hatte durch den grossen Gewichtsverlust praktisch keine Gesässmuskeln mehr, sie musste auf dem Steissbein und noch einigen anderen Knochen sitzen. Durch sorgfältiges Abföhnen und Einreiben konnte die offene Stelle am Steißbein bald abheilen. Durch die Aufmerksamkeit von Toni Enzler konnte Esther von zwei Versicherungen noch eine schöne Summe kassieren. Mit 10000 Fr. kaufte sie vor einiger Zeit einen Pfandbrief der mit 7 1/2 % verzinst wurde. An dieser Stelle muss ich noch nachtragen, dass es um Mamas Gesundheit so schlecht stand, dass sie die letzte Zeit nicht mehr zu Esther ins Spital gehen konnte. Da lauerte eine neuerliche Tragödie im Hinterhalt. Im gleichem Masse wie Esther wieder zu Kräften kam, verlor Mama diese. Alle ärztlichen Untersuchungen brachten keine brauchbaren Erkenntnisse. Alles wurde auf die Psyche geschoben, das war momentan die bequemste Ausrede. Eines Tages im Juni nahm Esther ein Telefonbuch zur Hand und organisierte ein Zimmer in einem 5-Stern-Hotel im Tessin. Nein! Es handelte sich um die Woche Ende Mai/Anfang Juni. Der Geburtstag von Mama fiel in diese Woche. Für den Frühstückstisch bestellte Esther noch einen Blumenstrauss. Dies alles half Mama nicht aus ihrem seelischen Tief. Papa konnte nicht helfen, er hatte auch nicht mehr die besten Nerven. So wurde der gut gemeinte Erholungsurlaub zu einem grösseren Fiasko. Beide kamen gänzlich frustriert wieder nach Hause. Nach einer neuerlichen Untersuchung im Kantonsspital in Chur stellte man plötzlich fest, dass die Nieren von Mama nur noch minimal funktionierten. Das Blut wurde nicht mehr genügend gefiltert, sodass sie sich mit ihrem eigenen Blut vergiftete. Der Harnweg wurde durch die erfolgten radioaktiven Bestrahlungen geschädigt. Solche Nebenerscheinungen könne es bei diesen Behandlungsformen manchmal geben. Bei einer Operation wird das ganze Können eines Chirurgen gefordert. Zum Glück gab es in Chur einen ausgezeichneten Spezialisten auf diesem Gebiet. Bei einer grossen Operation wurde der Harnleiter mit körpereigenem Gewebe wieder zusammen geflickt. Das war eine verkehrte Welt. Esther, die vor einigen Wochen noch mit dem Tode rang, kam nun zu Mama auf Besuch. Wir konnten immer nur kurze Zeit bleiben, da es Mama unheimlich anstrengte, mit Besuchern zu sprechen. Der für sie so wichtige Lebensgeist wollte nicht ohne weiteres wieder zurückkehren. Das bedurfte noch einer übergrossen Kraftanstrengung. Es benötigte ziemlich viel Zeit, bis der Körper sämtliche Gifte wieder ausgeschieden hatte, die sich in der Vergangenheit angesammelt hatten. Nun fuhren wir die Strecke ins Kantonsspital zu dritt, die Monate zuvor Claudia und ich zu zweit gefahren waren. Claudia sagte: "Das Auto kennt den Weg schon auswendig, ich muss gar nicht mehr viel steuern". Zu Hause hatte ich den ganzen Tag mit Esther zu tun. Sie konnte nicht allein auf die Toilette gehen. Ich musste ihr beim Absitzen helfen, wenn sie fertig war, rief sie: "Franky komm bitte, ich bin fertig." Ich positionierte mich wieder vor sie und nahm ihre beiden Arme und mit meinem Körpergewicht als Hebelkraft hob ich sie vom WC hoch. Abends zum Fernsehen zog ich den Campingstuhl vom Balkon wieder in die Stube und präparierte dieses Möbel wieder zu einem Fernsehstuhl um. Dazu benötigte man wieder jede Menge von Kissen und Decken. Den Stuhl konnte man in der Höhe verstellen, was für den jeweiligen seelischen, psychischen oder körperlichen Zustand sehr praktisch war. Je besser Esther sich fühlte, desto flacher konnte sie liegen. Da konnte sich auch ihr wundes Steissbein gut erholen. Wenn sie aber Mühe mit Atmen hatte, musste sie fast senkrecht sitzen. Wenn sie so verkrampft im Stuhl kauerte, ging ich öfters von hinten an sie ran und massierte ihre Schultern. Da hatte sie noch immer Schmerzen wegen des ausgerenkten rechten Arms. Als diese Beschwerden nicht besser wurden, organisierte Claudia eine Physiotherapeutin. Das war Anfangs ein Problem, da Esther nicht in die Praxis gehen konnte, weil es 2 Stufen zum Eingang hatte. Deshalb kam Ruth ins Haus. Die beiden hatten schnell innige Freundschaft geschlossen. Während der Massagen und Übungen konnten die beiden gegenseitig ihr Herz ausschütten. Zu diesem Zeitpunkt kam Pius regelmässig noch auf Besuch. Wenn er in Abwesenheit von Esther sprach, hatte er nur Mitleid für sie und das liess nichts Gutes ahnen. Ich sagte oft zu Claudia: "Du wirst sehn, der haut demnächst ab". Wir konnten unsere Befürchtung Esther nicht mitteilen. Sie hatte mit sich selber so viel zu schaffen. Jedes seelische Leid müsse man, so gut es geht, von ihr fern halten. Pius hatte in Aarau eine neue Stelle angenommen. Hier geschah es öfters, dass Pius sich am Telefon verleugnen liess. Dafür gab er immer mehr oder weniger fadenscheinige Gründe an. Esther konnte sich momentan zwar fürchterlich aufregen, liess es dann aber gleich wieder auf sich beruhen, ohne irgendwelchen Argwohn. Ihr tragischer Irrtum war, dass sie sich des Pius so sicher war, dass die Frage einer etwaigen Trennung nie ernsthaft zur Diskussion stand. Claudia ging es mit den Nerven auch nicht am besten. Die zusätzliche Aufgabe mit Esther und ein unbewusstes, gewisses Unbehagen, dass ich mit Esther den ganzen Tag allein in der Wohnung verbrachte, schürte in ihr eine unterschwellige Eifersucht. Diese bestand aber völlig zu Unrecht. Ich pflegte Esther mit einem Gefühl, als ob es mein eigenes Kind wäre. So gab ich ihr des Öfteren vor dem Einschlafen einen Kuss auf die Wange und strich ihr zärtlich über das Gesicht. Sie hatte diese Berührung auch nie als etwas anderes angesehen. Bei jedem Fortschritt den Esther zu verzeichnen hatte, wurde ein riesen Trara gemacht. Die ersten Schritte, die sie wieder ohne Hilfe machen konnte, lösten in uns einen herzlichen Jubel aus. Die anfängliche Schwierigkeit, ein Bad zu nehmen, wurde mit einigen Tricks überwunden. In die Wanne wurde ein 5 cm dicker Schaumstoff gelegt. Zum Aussteigen stellten wir einen Stuhl knapp vor die Badewanne. Das Gewicht nahm auch langsam aber ständig zu. Was Esther noch täglich bis zu 3-mal zu sich nehmen musste, war eine Unmenge von verschiedensten Medikamenten. Darunter wohl eines der wichtigsten, es wurde eine Woche bevor Esther aus dem Spital entlassen wurde, neu gegen Lupus eingesetzt. Es wurde bei Organtransplantationen schon erfolgreich angewandt. Es verhinderte das Abstossen des verpflanzten, fremden Organs. Da Lupus auch immer wieder versuchte, die zwar eigenen Organe abzustossen, war dies eine logische Überlegung. Das Medikament hiess Sandimun. Eine Packung kostete an die 500 Fr. Zum Cortison und den sonstigen Medikamenten summierte sich das Ganze auf eine ansehnliche monatliche Summe. In diesem Falle gab es aber eine Berechtigung. Nach dem Frühstück musste Esther die grösste Menge von Tabletten verschiedenster Farben und Giftinhalten hinunter schlucken. In der Woche einmal musste sie zu Doktor Brunner nach Chur fahren um den Gesundheitszustand zu überprüfen. Da wurde die Eine oder andere Dosis verändert. Bei plötzlich auftretenden Schmerzen an den verschiedensten Stellen des Körpers, vor allem an den Gelenken und wegen Atemnot. Da half eine erhöhte Dosis von Cortison. Das hatte aber wieder zur Folge, dass Esther ein unnatürlich aufgeblasenes Gesicht bekam. Ausser der Betreuung von Esther, musste ich auch noch das Mittagessen für uns kochen. Die Claudia kam Viertel nach 12 nach hause und da sollte gewissermassen schon gekocht sein. Verständlich bei dem Job auf zwei Seiten. Zu dieser Zeit machte ich auch noch intensiv Musik in meinem Hobbi-Studio. Ich konnte mitten in der Nacht aufstehen und mit dem Kopfhörern, die tollsten Kompositionen fabrizieren, ohne dass es die Nachbarn hören konnten. Höchstens öfter Mal ein lautes Fluchen: SCHEISSE! Wenn mir der Sequenzer wieder einmal einen Streich gespielt hatte und ich eine fertige Nummer mit einem falschen Knopfdruck auf nie mehr Wiedersehen gelöscht hatte. Bei einem öffentlichen Wettbewerb von Radio Gonzen machte ich mit. Beim Lied: Jeder hat Sehnsucht wie du. Sang ich die letzte Stimme zwischen Nudelkochen und Salatsosse Zubereiten, aufs Band. Im aller letzten Moment gab ich die Kassette persönlich in Buchs im Radio studio ab. Ich machte mir nicht die geringsten Hoffnungen in die Auswahl der letzten 10 zu kommen. Aber es kommt immer anders, als man denkt. Eines Tages flatterte mir ein Briefchen ins Haus, wo ich zur Teilnahme der besten 10 Lieder gratuliert wurde. Aber wie so oft in meinem Leben, wenn ein grösserer Erfolg greifbar nahe schien, legte sich beim Öffnen des Erfolgstores, ein Stein in den Weg, so dass die Türe beinahe wieder zugefallen wäre. Ich musste mir einen neuen Interpreten suchen, da Fredi an dem Aufführungstermin nicht zu Verfügung stand. In der Eile musste ich einen anderen Sänger finden. Ich engagierte Rico Riesch. Wie ich zu meinem Entsetzen feststellen musste, hatte er eine total andere Gesangsauffassung als es mein Lied erfordert hätte. Nun musste ich mein Lied ins Rennen schicken, obwohl ich von vorn herein wusste, dass dies nicht gut gehen konnte. Zu allem Überfluss hatte Rico beim Auftritt auch den Text vergessen. Ich war der einzige Teilnehmer mit einem selbst komponierten Titel, den ich auch ganz alleine auf dem Sequenzer arrangiert hatte und im Chrischasound-Studio bei Mirco Biondini aufgenommen hatte. Das hatte mir nur einiges Geld gekostet und nichts eingebracht. Da hatte mein Schicksal wieder mal Buchgeführt, bei solchen Geschäften zog ich meist den Kürzeren. Für diese Schlappe konnte ich trotzdem niemand die Schuld in die Schuhe schieben. Es hielt mich auch nicht davon ab, in den nächsten Jahren bei allen Möglichen Ausschreibungen mit ungebrochenem Eifer mitzumachen. Esther konnte nun schon wieder alleine in der Wohnung herumgehen. Nur vom W C konnte sie noch nicht alleine aufstehen. Beim Absitzen musste sie immer noch darauf achten, dass sie nicht mit dem Steissbein auf den Klobrillenrand knallte. Sonst lief alles schon sehr zufriedenstellend. Claudia redete mit Esther ein ernsthaftes Wort, sie könne mir beim Kochen behilflich sein. Anfangs geschah dies noch mit Widerwillen, nach wenigen Tagen konnte Esther schon ganz alleine ein Essen zubereiten. Ich musste ihr nur die Pfannen von ganz unten aus dem Schrank holen. Mit dem Bücken hatte sie noch gewisse Schwierigkeiten. Claudia hatte man in diesem Jahr das Fahrrad gestohlen. Sie musste sich ein Neues anschaffen, wobei ihr die Versicherung 300 Fr. für ein Neues ersetzte. Dies gab Esther auch den Anstoss sich ein Fahrrad zuzulegen . Damit konnte sie ein praktisches Muskeltraining durchführen. Für ausgedehnte Spaziergänge hatte Esther überhaupt keinen Bock. Dafür fehlte ihr auch die nötige Luft. Mit dem „Schnuf“ hatte sie immer ihre liebe Not. Da Esther bei uns sozusagen, auf Kost und Logis war, trat Claudia an Papa heran um von ihm einen finanziellen Beitrag für Esther zu verlangen. Anfangs hatte ich mich dagegen gewehrt, mich aber dann für die Richtigkeit ihrer Entscheidung überzeugen lassen. Wir hatten unsere Haushaltskasse von 600 auf 900 Fr. aufgestockt.

Claudia und ich hatten eine Woche Ferien auf Rodos gebucht. In dieser Woche von Achten bis Fierzehnten September hatte sich Pius bereit erklärt, Esther zu betreuen. In diesem Zusammenhang hatten wir die stille Hoffnung, dass Pius mit Esther wieder besser zusammen kommen würde.
Unsere Ferien auf Rodos hatten nicht die gewohnte Erholsamkeit wie es dringend nötig gewesen wäre. Der Zugang zum Strand stellte sich als beschwerlich für uns beide da. Ein relativ langer Weg durch den Sand wurde für mich jeden Tag zur Qual. Auch für Claudia erwies sich dieser Weg zum täglichen Zankapfel. Damit wir in einem Gang, sämtliche Sachen, die zum Baden erforderlich waren, auf einmal zum Strand bringen konnten, musste ich auch einen schweren Sack über die Schulter nehmen. Dies hatte meinen Beinstumpf so zum aufschwellen gebracht, dass ich jeden Tag mehr Mühe hatte die Prothese an zu ziehen. Vom Zweiten Tag bis zum Vorletzten herrschte zwischen Claudia und mir eine ungute Spannung. Die zu einem gewissen Teil interessanter Weise auch von einem Buch herrührte, welches Claudia vor Begeisterung verschlang. Aber auch ihre unterschwellige Eifersucht Esther und mir gegenüber wurde geschührt. Sie identifizierte sich total mit der Figur im Roman. Nur mit größter Mühe konnte Ich ihr diese Einbildung ausreden. Am letzten Tag hatte sich die Angelegenheit deutlich gebessert. Wir hatten uns telefonisch in Walenstadt erkundigt, ob alles in Ordnung sei? Es schien alles bestens zu laufen, nur die Zimmertemperatur betrug 19 Grad und das anfangs oder Mitte September. Wir rieten den Heizlüfter an zu stellen. Am Tage der Abreise musste ich heimlich in der Hotelhalle, meine Prothese neu anziehen. Mein Stumpf war durch die grosse Belastung so angeschwollen dick, dass ich nur mit grösster Mühe in den Prothesenschafft schlüpfen konnte. Wie vor eine Woche angereist, flogen wir mit Lauder-Ear wieder nach Hause. Vom kleinen Flughafen Salzburg, fuhren wir mit dem Zug bis Sagans, wo uns Esther und Pius mit dem Auto abholten. Immer wenn wir vom sonnigen Süden in die kühle Heimat zurück kamen, hatten wir Schwierigkeiten mit der hier herrschenden Kälte. Da hatte sich noch eine andere Kälte eingeschlichen. Und zwar bei Pius. Esther schwärmte von den schönen Tagen mit Pius und wie gut er für sie gesorgt habe. Pius hatte sich von Esther verabschiedet, als würde er nicht mehr wiederkommen. In seinem Kopf hatte er die Trennung schon längst vollzogen, nur hatte er nicht den Mut es Esther von Angesicht zu Angesicht zu gestehen. Diesen, für Esther, grausamen Beschluss, konnte er nur telefonisch mitteilen. Ich sass im Musikzimmer als der Anruf von Pius kam. Nach einigen Minuten hörte ich Esther laut und bitterlich weinen. Da wusste ich, jetzt ist es geschehen. Für Esther war dies wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Es traf sie so tief, dass sie sagte: Ich will nicht mehr leben. Ihr noch magerer Körper bebte vor heftigem schluchzen und Weinen. Pius hatte mit dem Trennungsgedanken so lange gezögert, bis Esther wieder eine halbwegs gute Verfassung hatte. Für uns kam alles ja nicht überraschend, deshalb konnten wir Esther noch relativ gut trösten. Die Statistik hatte durch Untersuchungen erwisen, dass 3 von 4 Männer, wenn Schwierigkeiten auftreten, sich aus den Staub machen. Das hatte bestimmt seine Richtigkeit. „Die sind ja von allen guten Geistern verlassen!“ Die mähen zu zweit mit Handmähmaschinen hinten zwischen den Weinreben. Tragen bei der Arbeit Ohrenschutz und wir müssen uns diese akustische Umweltverschmutzung mit freiem Ohre über uns ergehen lassen. Solche Geräte müssten schon längst vom Umweltschutz aus dem Verkehr gezogen werden. Diese Narrenfreiheit von Gehörnerven Zerstörer müsste längst abgestellt werden und unter Strafe verboten werden. An dieser Stelle muss ich mich über die Hohlköpfigkeit einiger Herrschaften in den Überprüfungsgremien der Geräte Erzeuger auslassen, die außer Profit nichts in ihrer Zyste haben. Diese Fantasietrottel können uns Produkte aufs Auge drücken, um später noch aus der Entsorgung mit kaltblütigster Schlitzohrigkeit die grössten Gewinne zu ziehen. Die Verpackungsindustrie ist ein solcher Verein, die so eine starke Lobby haben, dass ihr alle Beteiligten den Arsch lecken, um aus der trüben Brühe auch einen Happen abzubekommen.
Es ist 9 Uhr 50 Minuten am Dritten Oktober 95, ich sitze hier am
Schreibtisch und bin total in der Gegenwart. Ich werde aber wieder die Kurve in die Vergangenheit finden. Ab heute ist wieder die akustische Vogelscheuche eingestellt. Die gibt durch rotierende Lautsprecher, verzweifeltes Vogelgeschrei von sich, wie es auf grossen Flughäfen verwendet wird. Das Anbringen von Schutznetzen wurde von den Tierschützern verboten, da sich die Vögel oft rettungslos in die Maschen verfingen und zu Tode kamen. Warum sollen diese gefiederten Freunde nicht auch ein paar Tropfen von dieser Ernte abbekommen?! Dafür hätte einer oder zwei sich einige Kopfschmerzen ersparen können. Anfangs September, bevor Claudia und ich in die Ferien fuhren, kam meine Schwester Franziska aus der Steiermark zu uns auf einen Kurzbesuch. Franziska hatte Esther sofort ins Herz geschlossen. Meine Schwester sollte einmal mit unserem Auto ein Stück fahren. Sie aber sagte heimlich zu Esther, ob sie nicht für sie fahren könne. Das kam für Esther so überraschend, dass sie es nach kurzem Zögern versuchte. Als es ohne weiteres klappte, hatte Franziska riesige Freude, dass Esther wieder ein Stück vorwärts gekommen ist. Seit dem Tag, fuhr sie ständig mit dem Auto, was für Claudia wieder eine gewisse Erleichterung darstellte. Ende September, trug sich Esther mit dem Gedanken, sich eine Halbtagsstelle zu suchen. Wir fragten bei Treuhand Schlegel, ob bei ihm so eine Stelle frei wäre. Genau gesagt, hatten wir vorher durch Zufall erfahren, dass eine Frau dort eine Halbtagsstelle aufgegeben hatte. Da sich das Büro nur ein paar Häuser weiter befand, wurde sehr schnell eine Arbeitsvereinbarung gefunden. Sie begann ihren Halbtagsdienst eine Woche am morgen, die andere Woche nachmittags. Als Herr Schlegel die Zeugnisse von Esther sah, bemerkte er so nebenbei, Mit diesen ausgezeichneten Qualitäten werden sie nicht lange bei uns bleiben. Wo mit er auch recht behalten sollte. Nun lernte Esther die andere Seite der Medaille des Geschäftslebens kennen. Bisher hatte sie zu sorgen, dass die Umsätze Gebucht und geordnet zur Buchhaltung geliefert werden konnten. Jetzt musste sie diese Aufzeichnungen abschliessend verarbeiten. Da erlebte sie ihre Wunder, was einige Geschäftsleute für unqualifizierte Eintragungen produzierten. Die zu allem Überfluss auch noch unvollständig angeliefert wurden. Bei solcher schlampigen Geschäftsgebarung, kann die beste Firma in den Konkurs schlittern. An Stelle von Esther, musste ich meine Kochkünste wieder voll aufnehmen. Das fehlte dann wieder in meiner Heimstudio Produktion. Mein Kopf kochte über vor phantastischen Einfällen. Ich musste oft mitten in der Nacht in mein Zimmer gehen, um irgendeine Idee mittels Sequenzer aufzuzeichnen. Ich benötigte über Drei Jahre, bis ich dieses Gerät, mit einem Mikroprozessor und einem Diskettenlaufwerk ausgestattet, als Blinder beherrschen konnte. Trotz wochenlangen Irrwegen und fast aussichtslosem Stillstand, fand ich durch mühevollem, täglichem Suchen, wieder in die richtigen Bahnen. So dass ich heute sagen kann, ich kann den Sequenzer fast vollständig bedienen. Dieses Stück Arbeit könnte ein Sehender nicht ohne wahnsinnig zu werden, vollbringen. Ich hatte im laufe der Jahre noch einige Module dazu gekauft. Das ganze überhaupt möglich gemacht, hatte René, mein Sohn. Der besuchte mich ende Dezember 88 und installierte mir sehr professionell ein kleines Heimstudio. Ich kaufte bei ihm ein Achtspur Kassettengerät. Er erklärte mir auch in kurzen Zügen, wie man damit umgeht. Ich hatte es ziemlich rasch im Griff. Wo mein Lied: Jeder hat Sehnsucht wie du, in der öffentlichen Veranstaltung, die von Radio Gonzen im Hotel Löwen in Mels, abgehalten wurde, zur Aufführung kam, Wir, Claudia, Esther und ich besuchten dieses Konzert. Mein Lied hatte die Startnummer 10 und wurde schliesslich auch Zehnter, praktisch, Letzter. Rico hatte in der Aufregung den Text vergessen und deshalb auch eine sehr unsichere Ausstrahlung. Was sich bei der Jury negativ auswirkte. Heute sitzt Rico selber in einer Jury und teilt Noten aus, die er vor Jahren selber nicht erhalten konnte. So können sich die Blätter wenden.
Ich stehe meist im toten Winkel der Zeit und muss ständig aufpassen, nicht von irgend jemanden niedergetrampelt zu werden. Mein Glück besteht darin, dass ich noch am Leben bin, das ist immer noch das grösste Glück. Das galt im gleichem Masse auch für Esther. An diesem Abend musste Claudia mit ihr früher nach Hause fahren, da Esther nicht mehr gut sitzen konnte, da die Veranstaltung bis Zwölfuhr dauerte und die Knochen an allen möglichen Stellen zu schmerzen begannen. Ursi Sacki und René Mermann hatten wechselweise die Moderation über. Als Stargast wurde Andi Borg eingeladen. Der lustige, sympathische Österreicher hatte den Saal sehr rasch in Stimmung gebracht.

*
© by F. J. Puschnik


Inhaltsverzeichnis
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Kommentare zu diesem Text

chichi† (80)
(10.05.13)
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 franky meinte dazu am 10.05.13:
Hallo liebe Gerda,

Vielen Dank, dass du nur die Hälfte meines langen Textes gelesen hast. "Wenn der Pechvogel dich mal in den Krallen hat, dann läßt er nicht so rasch wieder los."

Schicke dir ganz liebe Abendgrüße

Franky

 Dieter_Rotmund antwortete darauf am 11.05.13:
Ob das autobiographisch ist oder nicht, ist mir nicht nur egal, ich gehe in einem Literaturforum wie kV grundsätzlich davon aus, dass es das nicht ist, sonst kann man wohl kaum unbefangen diksutieren, oder?
Mir ging es ähnlich wie Chichi, mir war's auch zu lang. Aber was ich gelesen habe, hat mir gefallen. Diese Kombination von absatzloser, fast plapperhafter Sachlichkeit, angenehmen unprätentiös runtererzählt. Kein "ja'accuse" kein Gejammer, leicht zynisch. Hier und da sind allerdings noch ein paar Schlampigkeitsfehler zu entdecken.
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