Katharsis

Bild zum Thema Einsamkeit

von  mondenkind

Das gelbe Blattwerk vor ihrem Fenster verhöhnte
das Grau ihrer Augen. Sie senkte die Gardinen,
doch die Wipfel stachen messerscharf aus dem
Licht. Sie zuckte zusammen. Es war wie ein
Erwachen; Ohrfeigendes aus einer Ohnmacht.

Hörst du, Ben, dieser Ort legt sich auf mich,
dieser Mantel ist zu schwer. Sie sagen dort oben ist
Himmel, aber ich sehe es nur auf mich zustürzen.


Sie lief auf dem eingestaubten Teppich ihrer
berstend schauernden Haut. Auf und ab. Auf und.
Unselige Fliegen summten bereits gierig über den
modrigen Resten. Mit einem einzigen keuchenden
Atemzug stieß sie sich aus der Bahn. Ans Telefon.

Ich höre es Rauschen. Wie eine Welle, Ben! Eine
riesige Welle, die sich zwischen meinen Schulterblättern
auftürmt. Doch wenn ich mich umschaue, sehe ich
dort nur Disteln wachsen.
Ich brauche dich! Hörst du? Es ist niemand sonst
da, der es so kennt wie du. Ich falle! Ich stürze
unter mich!!


Sie riss die Tür auf und fand die Straßen voll
Menschen. Jemand hatte sie wie Puppen
aufgestellt. Sie zeigten keine Regung, sprachen
kein Wort.
Und sie rannte, rannte durch ihre Reihen. Wie ein
Kind durch Maisfelder rannte. Stieß sich an, schnitt
sich an den scharfen Kanten. Vor ihr wölbte sich
der Weg zu einem einzigen sterbenden Schrei.
Ihre Füße ahnten von ihrer Flucht und ließen sich
Stück für Stück zurückfallen. Und dann stand sie
wieder in ihrer Wohnung.

Die Zeit, Ben!! Sie rauben sie uns! Ich spüre die
Fäuste an meinen Schläfen.. ich höre sie flüstern!
Überall! Und sie kennen deinen Namen, Ben!! Sie
kennen dich!!


Es mußte jetzt sein. Die Dringlichkeit schwang im
diffusen Licht der porzellanischen Stehlampe. Sie
war so unumstößlich wie die viel zu kahlen Wände,
die auf die Leere im Raum starrten. Diese Leere
brauchte sie. Eine Matratze nur und den
Telefonhörer.
Ein Feuer ließ Wärme ahnen, als sie ihre Mäntel
verbrannte.

Ben?!

Sie nahm die Schere und schnitt sich einen Namen
ins Haar. Eine Strähne legte sie in den
hoffnungshungrigen Schlund ihres großen Koffers.
Sie war bereit. Endlich bereit.

Bleib wach. Ich bin dir näher denn je. Heute
Nacht werde ich eine Fahrkarte kaufen. Ich sehe
den Bahnhof schon nach Aufbrechern geifern.
Du wirst mich erkennen. Du kennst meine Stimme.
Bist der einzige, dem ich sie je anvertraute. Mit
Haut und Haar.
Ben? Die Leitung klingt so kalt. Ist alles in Ordnung
bei dir? Ben?? ...



Die Nacht zog sich verschämt ein dunkles Laken
übers Gesicht, als sie verzweifelt seinen Namen in
den Hörer rief.
Doch kein Atem schmiegte sich je
an das ewige Freizeichen.

Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren

Kommentare zu diesem Text

Fabi (50)
(03.12.13)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 mondenkind meinte dazu am 03.12.13:
vielen dank! :)
Fabi (50) antwortete darauf am 05.12.13:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 AZU20 (03.12.13)
Starker Text. LG

 mondenkind schrieb daraufhin am 03.12.13:
danke!

 EkkehartMittelberg (03.12.13)
Liebes Mondenkind,
bitte verstehe es nicht als Kritik, wenn ich dich frage, ob du den Titel "Katharsis" ironisch verstanden wissen möchtest.
LG
Ekki
Graeculus (69) äußerte darauf am 03.12.13:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 mondenkind ergänzte dazu am 03.12.13:
hallo ihr zwei! inwiefern glaub ihr, dass der titel ironisch zu verstehen sei? :)
p.s. ich werte kritik eigentlich immer positiv für den lerneffekt ^^
Graeculus (69) meinte dazu am 03.12.13:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 mondenkind meinte dazu am 03.12.13:
die katharsis ist meines wissens nach die seelische erlösung (oder reinigung) durch den schmerz selbst.. erst das durchleben und sich stellen bewirkt eine besserung..
Graeculus (69) meinte dazu am 03.12.13:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.
hagan (35) meinte dazu am 04.02.14:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.
KoKa (45)
(03.12.13)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Erdbeerkeks (21.12.13)
Ich wünschte, ich könnte mit Worten solche Bilder schaffen wie du das tust. Wirklich toll.

Hochachtungsvoll,
Der Keks
Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram