Wie ich eine Geschichte fing, die aus dem Mund der Einsamkeit tropfte

Text zum Thema Andere Welten

von  unangepasste

Die Einsamkeit ist ein großes Tier. Ich balanciere auf ihren Zähnen. Weit aufgesperrt hält sie das Maul, in ewigem Gähnen erstarrt. Nach Vergissmeinnicht riecht ihr Rachen. Wenn sie weint, fallen Seen aus Nacht auf das Land, die den Sonnenball schlucken.
Auf Waldwegen lässt sie Strähnen ihrer Mähne fallen, die im Mondlicht silbrig glänzen. Einst folgte ich dem Seidenschimmer, ging immer weiter, bis ich in ihr Gesicht sah.

In einem anderen Wald marschierte ein Wanderer seines Weges. Nach vielen Stunden auf engen und steilen Pfaden erreichte er eine Lichtung und setzte sich auf einen umgefallenen Baumstamm. Um ihn herum tönte und trällerte es in strahlendem Gelb. Auf einmal entdeckte er zu seinen Füßen ein vierblättriges Kleeblatt. Voller Freude pflückte er es und steckte es in sein Knopfloch, um es immer bei sich zu tragen.
Doch nur wenige Stunden waren vergangen, und es ließ bereits den Kopf hängen. Er tauchte seinen Finger in die Flasche mit Wasser, die er für unterwegs mitgenommen hatte, und benetzte den Stängel. Am nächsten Tag hingen die Blätter noch tiefer. Er brauchte eine Vase, aber dann konnte er das Blatt nicht mehr so eng an seinem Herzen tragen. Während er darüber nachgrübelte, kam ihm in den Sinn, dass das Kleeblatt auch in einer Vase nur noch wenige Tage sein Gemüt erfreuen konnte. Hätte er es nicht gepflückt, um es ganz für sich allein zu haben, hätte es noch lange ein Lächeln auf seine Mundwinkel gelegt.
Wenige Tage später war es schrumpelig, und man konnte kaum noch erkennen, dass es einmal vier prächtige Blätter gehabt hatte.

Zur gleichen Zeit kletterte ich viele Kilometer entfernt auf einen Berg. Als ich mich schon weit nach oben vorgekämpft hatte, wurde die Oberfläche immer rauer. Plötzlich stand ich vor einer Spitze, nein, es waren viele Spitzen, und eine Brücke führte von dort zu einer Höhle. Erst da wusste ich, wo ich mich befand.

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Kommentare zu diesem Text

BellisParennis (49)
(12.07.14)
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 unangepasste meinte dazu am 12.07.14:
Interessant, dass selbst Prosa von mir kryptisch rüber kommt. Welche Stelle / Metapher ist denn für dich unverständlich?
BellisParennis (49) antwortete darauf am 12.07.14:
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 unangepasste schrieb daraufhin am 12.07.14:
Es geht beides Mal um das Scheitern bei der Suche nach Glück, das an verschiedenen Orten parallel stattfindet. Der Titel deutet an, dass die zweite Geschichte aus der Einsamkeit entsteht, man kann sie also als innere Vorstellung des lyrischen Ichs lesen, wenn man es mit Worten jenseits der Märchenebene ausdrücken will. Das lyrische Ich stößt sozusagen auf eine Geschichte, die seiner eigenen entspricht.

 Lluviagata (12.07.14)
Tolle Metaphern ...

Liebe Grüße
Llu ♥

 unangepasste äußerte darauf am 12.07.14:
Danke!
Teichhüpfer (56)
(12.07.14)
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 unangepasste ergänzte dazu am 12.07.14:
Stimmt. Wobei es dann trotzdem tot wäre ("nur" konserviertes und kein unmittelbares Glück sozusagen). Allerdings würde es langsamer an Farbe verlieren und erst nach vielen Jahren gelb und allzu brüchig werden, als wenn man gar nichts unternimmt.
(Antwort korrigiert am 12.07.2014)
Teichhüpfer (56) meinte dazu am 12.07.14:
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 Dieter Wal (15.07.14)
In meinen Augen kein Märchen, sondern ein um die Ecke gedachter parabelhafter Text mit erheblichen lyrischen Elementen. Mir erscheint vieles darin unnötig metaphorisiert. Teil 2 und 3, Wald und Berg sind in meinen Augen viel zu abstrakt. Keine Handlung, eher Assoziation. Am besten gefällt mir der erste Absatz. Der erinnert mich an prophetische Texte der Bibel.
(Kommentar korrigiert am 15.07.2014)

 unangepasste meinte dazu am 15.07.14:
Es ist auch kein Märchen. Dort, wo ich den Text ursprünglich veröffentlicht habe, hieß der Titel "kein Märchen". Allein die Ich-Erzählsituation schließt die Gattung im klassischen Sinne aus. Trotzdem habe ich märchenhafte Elemente verwendet.

Inwiefern Wald und Berg abstrakt sind, ist mir nicht klar, da es für mich sehr konkrete, greifbare Dinge sind.

Zu der fehlenden Handlung: es gibt wenig, aber nicht keine Handlung. Es ist mehr ein Fragment. Der Sprung zwischen erstem und zweitem Absatz und dann zurück zum lyrischen Ich ist vermutlich nicht optimal in dem Text und macht ihn schwer verständlich, sollte aber ursprünglich einen Zweck erfüllen. Einerseits spiegelt er die Situation des lyrischen Ichs, andererseits wird darin erzählt, wie es dem lyrischen Ich ergangen sein könnte, bevor es den Berg erklomm, der sich auf einmal als Einsamkeit entpuppte (denn es wird ja sonst gar nicht darauf eingegangen, warum es sich dort befindet). Vermutlich ist an dem leserunfreundlichen Sprung noch zu arbeiten und vielleicht der fragmentarische Charakter etwas abzumildern, sollte ich noch etwas daraus machen wollen.

 Dieter Wal meinte dazu am 15.07.14:
Stimmt. Wenig Handlung, nicht gar keine. Etw. an den Haaren herbeigezogen finde ich z. B. die Schilderung des Gipfels. Das schreit nach "Seht her, ich bin metaphorisch!". Fände es besser, würde es hier natürlicher wirken, weniger gekünstelt.

 unangepasste meinte dazu am 16.07.14:
Hab es etwas abgemildert.

 Dieter Wal meinte dazu am 17.07.14:
Besser ohne Ausschmückungen. Dein voriger Schlusssatz gefiel mir.
Mondscheinsonate (39)
(18.07.14)
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 unangepasste meinte dazu am 18.07.14:
Danke. Stimmt. Habe mir Baumstumpf vorgestellt und Baumstamm geschrieben. Aber umgefallener Baumstamm ist auch eine Option, habe es mal so geändert.

 Ganna (25.07.14)
...je höher man steigt, je größer der Abstand zum Urgrund und der Überblick, auch der Blick auf Zurückliegendes werden, umso näher kommt man der Einsamkeit...dort oben findet man nur Zuflucht bei sich selbst...

 unangepasste meinte dazu am 25.07.14:
Stimmt leider.
Agneta (62)
(22.04.18)
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 unangepasste meinte dazu am 22.04.18:
Liebe Agneta,
genau das wollte ich ausdrücken. Das freut mich, dass dir diese alte Geschichte gefällt.
Über den letzten Satz denke ich noch mal nach.
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