"Du musst noch viel lernen, Kind"

Text zum Thema Lebenseinstellung

von  unangepasste

So sehr ich es auch schätze, wenn andere für mich putzen – sobald sie anfangen, einem Aufräumwahn zu verfallen, ändert sich meine Einstellung grundlegend. Meist ist ihr Bedürfnis nach Ordnung von einer speziellen Vorstellung geprägt. Wenn sich die Tassen in den eigenen vier Wänden im rechten Hängeschrank befinden, ist ein anderer Ort nur schwer vorstellbar.
Vielleicht habe ich diese geteilte Meinung von meinem Vater geerbt. Früher machte sich meine Großmutter häufig auf den Weg zu uns, um seine Wohnung "in Ordnung zu bringen". Als Verstärkung nahm sie eine Freundin mit, eine alte Hausfrau, deren Kopftuch und Schürze im Gegensatz zu einer rebellierenden 15-Jährigen gut in das Bild der unmittelbaren Nachbarschaft passten. Mit schwäbischer Gründlichkeit half sie, Fenster, Boden und Bad zu schrubben.
Doch das allein reichte nicht. Sobald der letzte Streifen mit Zeitungspapier von den Fenstern gewischt war, machte sich das Team daran, die Küche aufzuräumen. Vielmehr müsste man von Umräumen sprechen, denn hinterher war kaum ein Gegenstand mehr an seinem Platz. Mein Vater fand keinen Gefallen daran, denn so begannen von ihm ungeliebte Tätigkeiten wie das Kochen stets mit einer Suche. Manchmal fragte ich ihn, warum er sich nicht gegen diese Auftritte wehrte, doch dann meinte er nur schulterzuckend: "Es ist wichtig, gebraucht zu werden." Vermutlich weiß meine Großmutter bis heute nicht, dass ihre Arbeit zwiespältige Empfindungen hervorrief; schließlich bedankte er sich jedes Mal, beherrschte die Rolle, die ihm zugedacht war, perfekt.

Zum Glück hält meine Mutter von derartigen Nachmittagen nichts. Allerdings darf man nicht vergessen, dass das Geschlecht für meine Großmutter solche Aktionen zur Pflicht machte. Sie rechtfertigte nämlich ihre Arbeit für meinen Vater stets mit den Worten: "Er ist doch ein Mann!" Jeder Einwand meinerseits wurde mit entschuldigendem Achselzucken abgetan: „Du musst noch viel lernen, Kind!“
Meine Abneigung gegen Aufräumhilfen wirkt sich heute sogar auf meine Einstellung gegenüber Hotels aus. Die gedankenlos dahingeworfenen Kleidungsstücke werden zusammengelegt, zum Schlafanzug erklärt und unter die Bettdecke gesteckt, oder als Pullover für den Tag identifiziert und sorgsam über die Stuhllehne gehängt. Eine Einordnung, die offenbar nicht einfach ist. Unter die Sprudelflasche auf dem Boden wird ein Bierdeckel geschoben. Das schmutzige Tempotaschentuch, das ich versehentlich auf dem Nachttisch liegen gelassen habe, finde ich gefaltet zwischen zwei anderen Gegenständen wieder. Eine Ausbreitung der Bakterien auf das Buch, das darunter liegt, will sich meine Phantasie zwar lebhaft ausmalen, doch ich befehle ihr zu schweigen.
Als ein Mensch der mäßigen Unordnung empfinde ich die Herstellung von Ordnung beinahe als Vorwurf. Die Stimme meiner Mutter wird in meinem Kopf lebendig: "Wenn du dich so anstellst, muss ich es wohl selber machen." Am zweiten Tag werden die Kleidungsstücke immer noch gefaltet und gewissenhaft sortiert, am dritten, als ich sie wieder nur lieblos über die Stuhllehne geworfen habe, nicht mehr angetastet. "Verstehst du es immer noch nicht? Nun habe ich es dir zweimal vorgemacht", höre ich meine Mutter in meinem Kopf zu mir sprechen. "Bei dir ist jede Mühe vergebens."
Früher gab es eine Belohnung, wenn wir unser Zimmer aufgeräumt hatten. Sie bestand meist aus einem kleinen Stück Schokolade mit bunten Zuckerperlen darauf. Wurde die Unordnung jedoch zu groß und blieben die Anreize ohne Erfolg, konnte der Ton auch rauer werden: "Du gehst nicht auf den Spielplatz, bevor ..."
So klingt die Stimme in meinem Kopf, wenn ein Hotelzimmer für mich aufgeräumt wird. Und obwohl es als Freundlichkeit, als Dienstleistung gemeint ist, kann ich nicht umhin, mich wie ein unartiges Mädchen zu fühlen – ein Kind, das noch viel lernen muss.

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Kommentare zu diesem Text

BellisParennis (49)
(18.10.14)
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 unangepasste meinte dazu am 18.10.14:
Ob Sartre mit "L'enfer, c'est les autres" wirklich Recht hatte oder ob man es nicht selbst ist?
Ja, die Schwaben sind ein Fall für sich. Ich bin sehr froh, dass ich mir nicht über einzelne Laubblätter auf dem Gehweg Gedanken machen muss.

 FRP (18.10.14)
Also ich wäre sehr froh über jede Art "Aufräumbrigade"
bei mir - ich neige dazu, alles offen rumliegen zu lassen.
Wo die Tassen dann stehen, ist mir völlig Schnuppe,
solange von meinen 7000 Büchern und 4000 CD's nur der
darauf- und dahinter-lieg Staub entfernt-, nicht aber die Grundordnung zerstört wird. Allerdings habe ich kaum noch
Platz für irgendwas. Von 30 m2 Wohn-Küche sind 25 voll
mit Büchern. Viele Pfannen / Töpfe stehen im Geschirr-Spüler,
weil dafür sonst nirgendwo mehr Platz ist - der Spüler fungiert
quasi als Schrank, der eigentliche Zweck wird fast nie mehr
aktiviert.

Meldungen von Interessentinnen bitte bei mir, wenn ihr in
Leipzig sed. Zur Belohnung gibt es ein individuell nach euren
Wünschen zusammengestelltes 3-CD-Paket mit der Musik
eures Geburtsjahres und eine Stadführung
Graeculus (69) antwortete darauf am 18.10.14:
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 FRP schrieb daraufhin am 18.10.14:
Ich (be)treibe das Versandantiquariat Wortwahl aus meiner
Wohnung heraus. Wir (also seine Antiquiertheit FRP) haben
auf Wunsch für sie auch geöffnet, alphabetisch, und nach Sachgebieten geordnet. Wir verstehen und tolerieren auch Schwäbisch

 unangepasste äußerte darauf am 18.10.14:
Putzbrigade gerne, aber keine Aufräumbrigade Wo die Tassen stehen, ist mir auch relativ egal (meine Küche wurde nach dem letzten Umzug auch nicht von mir eingeräumt), aber manche Sachen finde ich gerne mit einem Griff wieder.
Graeculus (69) ergänzte dazu am 18.10.14:
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 AZU20 (18.10.14)
Aufräumen: Schrecklich. LG

 unangepasste meinte dazu am 18.10.14:
Seh ich auch so Trotzdem mache ich es lieber selbst, denn suchen ist auch schrecklich ...
Violetta (40)
(18.10.14)
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 unangepasste meinte dazu am 18.10.14:
Danke, freut mich. Inzwischen halte ich mich da auch raus. Als meine Großmutter nicht mehr in der Lage war, selbst bei meinem Vater zu putzen, bezahlte sie seine Exfreundin dafür (geht es noch bescheuerter?). Aber man kann andere Menschen nicht ändern. Jedem das seine.
ues (34)
(18.10.14)
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 unangepasste meinte dazu am 18.10.14:
Danke!

 princess (19.10.14)
Ich lese hier von ordentlich prägenden Erlebnissen. Dem Augenzwinkern, das ich mitlese, entnehme ich aber auch eine sauber gewachsene Distanz zu dem, was da mal war. Ach, übrigens: Ich glaube fast, Oma muss noch viel lernen, Kind!

Liebe Grüße
princess

 unangepasste meinte dazu am 19.10.14:
Danke Sie lebt mittlerweile in einem Altenheim, ist aber geistig immer noch wie früher. Vielleicht ist es ab einem gewissen Alter ein positives Zeichen, sich nicht mehr zu verändern. Wenn wir noch vor einigen Jahren über spitze, gut und beinahe höflich in den Satz eingebettete Angriffe verärgert die Augen verdrehten, denke ich heute bei solchen Äußerungen: Sie hat sich gut gehalten.

 Regina (19.10.14)
Was Übernachtungen betrifft, gäbe es billige Hostels oder Jugendherbergen, die deswegen weniger kosten, weil man das Bett selber bezieht und niemand zum Aufräumen kommt. Im einem großen Hotel denkt der Zimmerservice aber kaum an Fürsorge, sondern alle Handgriffe sind standardisiert. Wenn meine Oma früher bei uns aufräumte, fanden wir nichts mehr und es war ein Service, den man eigentlich nicht wollte.

 unangepasste meinte dazu am 19.10.14:
Die Person, die das Zimmer macht, denkt natürlich nicht an Fürsorge, da gebe ich dir Recht. Das sind nur theoretische Gebilde dahinter. Solche Überlegungen werden nicht direkt in dem Augenblick und unter dem Druck des schnellen Fertigwerdens gemacht, sondern von anderen Personen, die vielleicht eine Hotelphilosophie ausarbeiten.
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