Epochentypische Gedichte. Expressionismus (1910-1925). Jakob van Hoddis: Weltende

Interpretation zum Thema Untergang

von  EkkehartMittelberg

Kurzbiografie des Autors
Am 16. Mai 1887 wurde Jakob van Hoddis in Berlin als Sohn des jüdischen Sanitärrats Davidsohn geboren. Der Künstlername van Hoddis ist ein Anagramm, gebildet aus dem Namen Davidsohn.                                                                                                                                                    Im Alter von 10-18 Jahren besuchte van Hoddis das Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in Berlin.
Er war kein angepasster Schüler, denn er musste das königliche Friedrich-Wilhelm-Gymnasium 1905 wegen einer Auseinandersetzung mit einem Lehrer verlassen. Dennoch bestand er ein Jahr später 1906 am städtischen Friedrichsgymnasium das Abitur.
Er begann 1906 mit einem Architekturstudium in Berlin und wechselte 1907 in Jena zur Philosophie. Danach kehrte er nach Berlin zurück, wo er 1908/1909 Altphilologie studierte.
Wegen so genannten „Unfleißes” wurde er drei Jahre später exmatrikuliert. Es blieb ein allgemeiner Hohn und Spott auf die akademische Welt.
Gefördert durch seinen Studienfreund Kurt Hiller veröffentlichte van Hoddis 1908 seine ersten Gedichte. Der endgültige Durchbruch folgte jedoch erst drei Jahre später, als das Gedicht “Weltende” in der Zeitschrift “Der Demokrat” erschien und den Weg für den Expressionismus ebnete.
1912 verschlechterte sich in München sein psychischer Zustand, bedingt durch eine Psychose. Nach einem kurzzeitigen Kuraufenthalt verließ er München, um nach Paris zu reisen. Als van Hoddis 1914 nach Berlin zurückkehrte, wurde er in eine Heilanstalt überwiesen,
Ab 1922 wurde er in Tübingen privat gepflegt, weil er vermehrt aus der Heilanstalt ausbrach. Nach der Entmündigung wurde er in eine Privatklinik für Nervenkranke eingeliefert.
Am 30. April 1942 wurde Jakob van Hoddis aus den Israelitischen Kuranstalten in Bendorf-Sayn von den Nationalsozialisten nach Polen deportiert und im Mai ermordet.

Quellen: http://www.rhetoriksturm.de/jakob-van-hoddis.php

Eine sehr fesselnde ausführliche Biografie, deren Autor ich leider nicht ermitteln konnte, findet sich bei Litde.Com jakob-van-hoddis-ii.php.htm

Epoche des literarischen Expressionismus
Einen guten Überblick bietet http://www.kreuzschule.de/www/files/Expressionismus_1.doc


Jakob von Hoddis: Weltende

1 Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
2 in allen Lüften hallt es wie Geschrei.
3 Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
4 und an den Küsten – liest man - steigt die Flut.

5 Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
6 an Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
7 Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
8 Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.

Interpretation

Welche Bedeutung das Gedicht „Weltende“ für die Dichter des Expressionismus hatte, beschreibt Johannes R. Becher:
„Auch die kühnste Phantasie meiner Leser würde ich überanstrengen bei dem Versuch, ihnen die Zauberhaftigkeit zu schildern, wie sie dieses Gedicht „Weltende“ von Jakob van Hoddis für uns in sich barg. Diese zwei Strophen, o diese acht Zeilen schienen uns in andere Menschen verwandelt zu haben, uns emporgehoben zu haben aus einer Welt stumpfer Bürgerlichkeit, die wir verachteten und von der wir nicht wussten, wie wir sie verlassen sollten. Diese acht Zeilen entführten uns. Immer neue Schönheiten entdeckten wir in diesen acht Zeilen, wir sangen sie, wir summten sie, wir murmelten sie, wir pfiffen sie vor uns hin, wir gingen mit diesen acht Zeilen auf den Lippen in die Kirchen, und wir saßen, sie vor uns hinflüsternd, mit ihnen beim Radrennen. Wir riefen sie uns gegenseitig über die Straße hinweg zu wie Losungen, wir saßen mit diesen acht Zeilen beieinander, frierend und hungernd, und sprachen sie gegenseitig vor uns hin, und Kälte und Hunger waren nicht mehr. Was war geschehen? Wir kannten das Wort damals nicht Verwandlung. […] Alles, wovor wir sonst Angst oder gar Schrecken empfanden, hatte jede Wirkung auf uns verloren. Wir fühlten uns wie neue Menschen, wie Menschen am ersten geschichtlichen Schöpfungstag, eine neue Welt sollte mit uns beginnen, und eine Unruhe, schworen wir uns, zu stiften, dass den Bürgern Hören und Sehen vergehen sollte und sie es geradezu als eine Gnade betrachten würden, von uns in den Orkus geschickt zu werden.“ (Expressionismus. Aufzeichnungen und Erinnerungen der Zeitgenossen. Hrsg. von Paul Raabe. Olten/ Freiburg i. Br., 1965, S. 51 f.)

„Weltende“ entstand vermutlich 1910, erschien 1911 in der Berliner Zeitschrift „Der Demokrat“ und wurde 1919 als epochentypisch von Kurt Pinthus an den Anfang seiner Anthologie „Menschheitsdämmerung“ gestellt, die der frühen expressionistischen Lyrik große Aufmerksamkeit verschaffte. 
Gottfried Benn (in der Einleitung zu „Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts, München, dtv 1974), später Peter Rühmkorf (Hrsg.: Expressionistische Gedichte, Wagenbachs Taschenbücherei 2010) und Robert Gernhardt, der „Weltende“ sogar als Evergreen bezeichnet, als besondere Kenner der Lyrik des Expressionismus haben die programmatische Bedeutung des Gedichts hervorgehoben.
Wie aktuell es noch immer ist, zeigen mehrere Lesungen und Verfilmungen bei You Tube.

Zwar hat das Gedicht ein sensationelles Thema. Aber wer unter der Überschrift „Weltende“ erschütternde apokalyptische Endzeitvisionen erwartet, wird ein wenig erstaunt sein, dass ein in dieser Hinsicht relativ distanziertes Gedicht mit Ironiesignalen (Zeilen 1, 5, 7) zum Vermächtnis der Avantgarde des Expressionismus werden konnte und auch heute noch so viel Beachtung findet. Doch es traf den künstlerischen Nerv einer auf Veränderung bedachten Generation von Dichtern mit
- seiner Wendung gegen das philiströse Bürgertum (Zeile 1)
- seiner Kritik am Imponiergehabe, das zur Zeit des Wilhelminismus (1890-1918) allgemein verbreitet war (Zeile 2)
- seiner unterkühlten Diktion : „gehn entzwei“ „die wilden Meere ‚hupfen’“ (Zeile 3, 5)
- seiner Distanz gegenüber dem Bedrohlichen: „liest man“ (Zeile 4)
- seiner Akzentuierung des grotesk Komischen im Kontext des Fürchterlichen, Vernichtenden (Zeile 5,6)
- seinem Blick auf das Banale bei der Schilderung der Katastrophe (Zeile 7)
- seiner Skepsis gegenüber der Technikeuphorie in der Wilhelminischen Zeit (Zeile 8)

Abgesehen von diesen Einzelbeobachtungen ist „Weltende“ für zeitgenössische Leser auch durch seinen Reihungsstil, durch seine Simultantechnik faszinierend gewesen und vermittelt damit vielleicht auch heute noch den Eindruck des unverbraucht Modernen.
Mit Ausnahme der durch einen Zeilensprung verbundenen Zeilen 5und 6 evozieren die einzelnen Zeilen in je einem Satz eigenständige Metaphern/Bilder, die unverbunden nebeneinander stehen (Reihungsstil) und den Eindruck vermitteln, dass Disparates gleichzeitig geschieht (Simultantechnik), zum Beispiel das Abstürzen der Dachdecker und das Steigen der Flut an den Küsten (Zeilen 3,4)
Mit einer durchgehend ironischen Perspektive werden die bedrohlichen Geschehnisse des Weltendes auf Distanz gehalten: Das beginnt mit der Komik des davonfliegenden Hutes des Spießbürgers , setzt sich fort mit den verdinglichten Dachdeckern, die wie ein Gegenstand entzwei brechen, mit dem Hinweis, dass das alles nicht unmittelbar erlebt wird, sondern offensichtlich Zeitungslektüre von Schlagzeilen ist („liest man“), mit den wilden Meeren, deren Dämme zerdrückende Gewalt durch das verniedlichende Verb „hupfen“ verharmlost wird , durch die Erwähnung des Schnupfens, der wie mit einer Cut- up-Technik scheinbar zusammenhanglos eingefügt erscheint, und endet mit Ironie an der Technologiegläubigkeit am Beispiel von Eisenbahnen, die von den Brücken fallen.

Silvio Vietta und Hans-Georg Kemper haben in ihrem Buch „Expressionismus“ (München: Fink, 6. Auflage 1997, S. 32 f.) darauf verwiesen, dass der Schein trüge, den das lyrische Ich mit seiner ironischen Sicherheit erwecke: Aber auch die Form des Gedichts „Weltende“ habe etwas Bedrohliches. In den zusammenhanglosen Bildern, in der Simultaneität des Disparaten spiegele sich die „Orientierungslosigkeit“, die „Zusammenhanglosigkeit der Zeit als tödlicher Zeitlosigkeit der modernen bürgerlichen Welt’“. […] „Zum andern ergibt sich ein untergründiger Zusammenhang aus der funktionalen Zuordnung der Bilder. Sie alle evozieren – auf den verschiedensten Ebenen - Zusammenbruch der bürgerlichen Welt, Chaos, und bilden somit eine einheitliche Klasse von Sätzen, die durch ihr Thema ‚Weltende’ definiert ist.“

Ein besonderer ästhetischer Reiz des Gedichts entsteht dadurch, dass die scheinbar zusammenhanglosen, ohne ordnende Absicht assoziierten Ereignisse des Zusammenbruchs der Welt durch eine strenge Form gebändigt werden: Die erste Strophe besteht aus einem umarmenden Reim (abba) mit einheitlich männlichen Versausgängen, die zweite aus einem Kreuzreim (abab) mit weiblichen Kadenzen. Das dynamische Geschehen wird der metrischen Ordnung eines fünfhebigen Jambus unterworfen.

© Ekkehart Mittelberg, Dezember 2014

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Kommentare zu diesem Text


 TrekanBelluvitsh (23.12.14)
Die Bedeutung für die Zeit, lässt sich heute natürlich nur noch schwer nachvollziehen. Ich persönlich, das gebe ich zu, habe auch Probleme damit, wenn Texte (oder auch Situationen) als eine Art Erweckungserlebnis geschildert werden. So etwas ist zumeist eine Deutung ex post und von daher kritisch zu sehen.

Aber sei es, wie es sei, das interessante an diesem Gedicht ist doch eben die Mischung zwischen dem "unheilschwangeren Großen" und den "Kleinigkeiten". Aber das macht es ja lebendig, denn auch in der Katastrophe ist nicht alles melodramatisch überhöht.

Schön, dass du uns dieses Gedicht näher gebracht hast, Ekki.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 23.12.14:
Danke, mir geht es wie dir, Trekan. Ich finde das Gedicht auch sehr interessant, aber es erstaunt auch mich, dass ein solches Erweckungserlebnis von ihm ausging. Es ist jedoch eine Tatsache, dass es wegweisend für die Epoche des Expressionismus war.

 TassoTuwas (23.12.14)
Hallo Ekki,
das ist seit ewigen Zeiten eines meiner Lieblingsgedichte.
Es kommt so leicht daher und ist doch eine Prophezeiung sowohl auf die kommenden Gräuel des Nationalsozialismus als auch auf sein eigenes Schicksal.
Herzlichen Dank, dass du dieses großartige Gedicht hier vorgestellt hast.
TT

 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 23.12.14:
Merci, Tasso. Ja, man kann das 1910 entstandene Gedicht auch als Vorausdeutung auf die folgenden Weltkriege lesen.

Herzliche Grüße
Ekki

 HerrSonnenschein (23.12.14)
Sehr gerne gelesen.Ich kannte zwar das Gedicht, über die Hintergründe und den Autor wußte ich allerdings nichts.
Eine wirklich bewegende Geschichte.Und wieder was gelernt.
Danke dafür Ekki! Liebe Grüße Jörg

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 23.12.14:
Interpretationen von Gedichten finden relativ wenig Widerhall. Umso mehr freue ich mich über dein Interesse, Jörg, Merci.

Liebe Grüße
Ekki
wa Bash (47)
(23.12.14)
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 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 23.12.14:
Ich danke dir, wa Bash.

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 25.12.14:
Danke, wa Bash.

Heitere Weihnachten
Ekki

 Dieter Wal (24.12.14)
Was das spezifisch Außergewöhnliche dieser an außergewöhnlichen deutschen Gedichten so reichhaltigen Epoche war, wurde analysiert. Gut gemacht!

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 25.12.14:
Merci, Dieter. Das Außergewöhnliche ist ein treffendes Stichwort.

 FrankReich (07.04.21)
Super eruiert, Ekki,

außerdem ist und bleibt "Weltende" eines meiner Lieblingsgedichte, die Epoche des Expressionismus ist m. M. n. neben der des Barock die bisher noch bemerkenswerteste und der Biographie über Davidsohn werde ich bei Gelegenheit mal nachgehen, da mich besonders interessiert, wann und warum die Psychose bei ihm diagnostiziert wurde.

Ciao, Frank

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 07.04.21:
Vielen Dank dafür, Frank, dass du dieses Gedicht wieder aus der Versenkung hervorgezogen hast.
LG
Ekki

 Dieter Wal meinte dazu am 07.04.21:
@Ralf: Ohne seine Andersartigkeit wäre das Gedicht niemals derart originell geworden. Ähnlich verhielt es sich mit Van Gogh.

Kennst Du die Anthologie: https://de.wikipedia.org/wiki/Menschheitsd%C3%A4mmerung ?

 FrankReich meinte dazu am 07.04.21:
@Dieter
Na klar, kennst Du sie denn auch? 😂😂

 Dieter Wal meinte dazu am 07.04.21:
Das freut. Die "Bibel expressionistischer deutscher Lyrik". Ich lese in ihr, als seien die meisten enthaltenen Gedichte wirklich prophetisch. Na und das sind sie.
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