Der teutonische Tanzbär

Erzählung zum Thema Tanz(en)

von  EkkehartMittelberg

Stellen Sie sich eine romantische Tanzbar auf dem Dach eines italienischen Mittelklassehotels vor: Der Discjockey legt Oldies auf, die Beleuchtung ist sanft gedimmt, das Publikum ist chic bürgerlich gekleidet, die Tänzer sind teils internationale Urlaubsgäste, teils Italiener, teils fest liierte Paare, teils Singles. Die Herren fordern die Damen traditionell mit einer leichten Verbeugung und einer höflichen Floskel zum Tanzen auf. Fast jede der allein erschienenen Damen findet einen Tänzer, denn das Hotel hat zwei Eintänzer bestellt, die formvollendet distinguiert ihre Gunst verteilen. So entsteht eine heitere gelöste Atmosphäre und Herr Knigge hätte außer der Feststellung, dass heute alles ein wenig lockerer geworden ist, wohl nur wenig zu bemängeln.

Doch es gibt eine Ausnahme in diesem bürgerlichen Ambiente, wenn er erscheint: der Tanzbär. Er ist ein teutonischer Hüne, mit dem Kreuz eines Klaviertransporteurs, muskulösen Oberarmen, die sein Jackett zu sprengen scheinen, und einem leicht x-beinigen tapsigen Gang.

Er bietet jedem Gast die Möglichkeit, ihn zu mustern, denn er verschmäht einen festen Sitzplatz.
Stattdessen lehnt er sich an eine der Säulen, die die Tanzfläche einrahmen. Von dort aus taxiert er mit vor der Brust verschränkten Armen unter schweren Augenlidern die Tänzerinnen.

Er ist geschätzte 50 Jahre alt und wirkt ungepflegt, fast ungewaschen. In seinem fleischigen Gesicht spiegelt sich unbändige Kraft, aber es zeigt keinen Anflug von Sensibilität. Seine Kleidung ist nachlässig, ohne jede Eleganz. Er trägt, gleichgültig, wie warm es ist, einen alten ausgewaschenen Pullover. Kurz, er ist der Antityp eines Playboys.

Bald richten sich alle Augen auf ihn, nicht nur wegen seiner massigen Gestalt und wegen seiner Gleichgültigkeit gegenüber seinem Outfit. Auch deshalb, weil er den Tänzerinnen schlüpfrige Bemerkungen zuruft, gerade noch unterhalb der Schwelle einer Beleidigung. Wenn er die Tanzfläche gemustert hat, beäugt er die Damen, die an ihren Tischen gerade eine Tanzpause machen und ihn ihrerseits fasziniert mehr oder weniger direkt anstarren.

Er setzt sich schwerfällig in Bewegung, um eine von ihnen zum Tanz aufzufordern. Dabei ignoriert er jede Etikette: nicht die Andeutung einer Verbeugung, keine Bitte um den Tanz.  Nur sein Blick fixiert die Aufgeforderte und mit einer leichten Drehung des Kopfes deutet er zur Tanzfläche. Aber es bedarf dessen auch nicht. Die Animierte erhebt sich sogleich wie magisch angezogen und eilt ihm entgegen. Sie strahlt, wenn er sie in seine gewaltigen Arme schließt und mit einem fantasielosen Wechselschritt auf der Stelle dreht. So betanzt er eine Vielzahl von Damen, auch solche, die mit einem festen Partner gekommen sind, und sie alle reagieren in gleicher Weise entzückt, ohne ein Anzeichen der Verstörung durch seinen Bruch der bürgerlichen Umgangsformen.
Manchmal gibt er sich nicht einmal die Mühe, seine Tanzpartnerin von ihrem Sitzplatz herzuholen, sondern fixiert von seiner Standsäule her eine von den Formationstänzerinnen, die sich, durch seinen Blick gebannt, aus der Gruppe löst und ihm vergnügt entgegeneilt. Seine Tänze ähneln Ringkämpfen mit Klammergriff bei langsameren Rhythmen. Bei den schnellen Tänzen tritt er gemächlich von einem Bein auf das andere und lässt die Dame unter seinem langen ausgestreckten Arm Figuren tanzen.

Wenn der Tanzbär von der Zurschaustellung seines Schwofs genug hat – wobei ich nicht sicher bin, ob er eitel genug ist, die neugierigen Blicke des Publikums zu genießen -  schleppt er eine seiner Tanzpartnerinnen ab, die strahlt, als habe sie soeben das große Los gezogen.

Ich bin sicher, dass meine Frau und ich nicht die Einzigen sind, die darüber nachgedacht haben, warum dieser ungeschlachte Kerl, der so gar nicht dem Bild eines Don Juans oder Casanovas entspricht, so attraktiv auf Frauen wirkt. Wir haben natürlich unsere Theorie, die ich aber jetzt noch nicht verraten möchte. Mich interessiert, was und wie meine LeserInnen darüber denken.

© Ekkehart Mittelberg, Mai 2015

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Kommentare zu diesem Text

Graeculus (69)
(28.05.15)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 28.05.15:
Merci für deinen anregenden Kommentar, Graeculus. Du hast sicher Verständnis dafür, dass ich mich mit meiner Erklärung noch zurückhalte. Aber ich werde auf deine Deutung zurückkommen.
CoffeeTint (35) antwortete darauf am 28.05.15:
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 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 28.05.15:
Es ist doch gut, wenn der Autor den Kommentaren nicht vorgreift. Mit diesem habe ich nicht gerechnet. ))
Graeculus (69) äußerte darauf am 28.05.15:
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 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 29.05.15:
Wolfgang, ich wollte auf deine Eingangsthese noch einmal zurückkommen. Sicherlich kann man das Verhalten der Tänzerinnen nicht eindimensional erklären, aber meine Frau und ich kamen auch zu deinem Ergebnis. Es ist sehr wahrscheinlich.
Graeculus (69) meinte dazu am 29.05.15:
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 29.05.15:
Schau mal bitte zum Thema Pheromone weiter unten unter James Blond
Graeculus (69) meinte dazu am 29.05.15:
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Scheester (80)
(28.05.15)
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 Irma meinte dazu am 28.05.15:
Er scheint sich dieser Wirkung auf Frauen bewusst zu sein, und dieses extreme Selbstbewusstsein, diese übermäßige Selbstsicherheit, wirken anscheinend unwiderstehlich anziehend auf Frauen. Er ist der Hahn im Korb. Das Alpha-Tier. Der Gorilla unter all den Lackaffen. LG Irma

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 28.05.15:
@Scheester: Danke Detlef, der Tp, den Billy Sanders besingt, scheint nicht eitel zu sein. So wirkte auch der Tanzbär und damit haben wir eine Teilerklärung.
LG
Ekki

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 28.05.15:
@ Irma: Merci, ja, das extreme Selbstbewusstsein scheint eine wichtige Komponente seiner Wirkung zu sein. Seltsam, dass er zugleich frei von offensichtlicher Eitelkeit ist. Vielleicht erklärt sich beides dadurch, dass der Typ sich selbst nicht reflektiert.
LG
Ekki
chichi† (80)
(28.05.15)
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 niemand (28.05.15)
Die Animierte erhebt sich sogleich wie magisch angezogen und eilt ihm entgegen.

Hast Du dieses Wort [Animierte] bewußt gewählt, weil es klanglich ans "Animalische" erinnert? Ein Synonym für "animiert" ist auch
erregt.

Man beobachtet solches häufig bei Frauen, die wie Schlafwandlerinnen in Richtung solcher ungepflegten Kraft-Machos
streben. Mich sprechen solche Typen absolut nicht an, sprachen nie an. Daher mein Unverständnis. Ich tendieren zum geistigen,
charakterlich wie äußerlich gepflegten Mann.
Die Welt möge es mir verzeihen ))
LG Irene

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 28.05.15:
Grazie, Irene, ja. ich habe das Wort "Animierte" bewusst gewählt und teile deine Assoziationen ans Animalische und Erregte.

Mich wundert keineswegs, dass dir so ein Kraft-Macho nicht gefällt. Wärest du als Beobachterin dabei gewesen, hätte dich wahrscheinlich wie mich irritiert, dass Frauen auf den Tanzbären abfuhren, von denen man geglaubt hätte, sie würden ihn keines Blicks würdigen.
Ich drücke es mal geschwollen aus: Unter der dünnen Tünche der Zivilisation scheint das Animalische kräftig zu regieren.

LG
Ekki
(Antwort korrigiert am 28.05.2015)
flirtmaschine (50)
(28.05.15)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 28.05.15:
Danke Flirty, die Kraft stellt eine Parallele zwischen Tim Wiese und dem Tanzbären her.
Aber ich glaube, dass Tim mehr in der Birne hat. Sonst hätte er nicht etliche Millionen auf dem Konto.
Gringo (60)
(28.05.15)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 28.05.15:
So isset, Gesine. Man sollte die Damen, die mitmachen, nicht vorschnell alle als triebgesteuerte Dummerchen hinstellen. Die böse Mädchen-Nummer macht nicht weniger Spaß, wenn sie bewusst gewählt wird.
Gringo (60) meinte dazu am 28.05.15:
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 28.05.15:
Jawohl, mit uneinholbarem Abstand. Sie ist aus der Sonderkollektion "summa cum laude".

 AZU20 (28.05.15)
Deine Frau hat ja dann wohl auch mit ihm getanzt und kam so dem Geheimnis auf die Spur, oder? LG

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 28.05.15:
Danke der Nachfrage, Armin. Wenn er in ihre Richtung tapste, hat meine Frau sofort mich aufgefordert, sodass er sie nicht in Versuchung führen konnte.

LG
Ekki
Fabi (50)
(28.05.15)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 28.05.15:
"weil im Kontrast zu ihm jede zum strahlenden Stern wird."
Grazie Fabi, wieder ein Aspekt, an den ich nicht gedacht habe. Er stimmt, denn der Bär war alles andere als ein Adonis.
Der Hinweis auf Instinkte ist auf jeden Fall richtig. Im Thread ganz oben spricht Gaeculus den Instinkt auf gesunde Nachkommen an von wegen der animalischen Kraft. Diese Erklärung leuchtet mir besonders ein.

LG
Ekki
JamesBlond (63)
(28.05.15)
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Gringo (60) meinte dazu am 28.05.15:
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 28.05.15:
Gracias James, ich schließe mich Gringo an. Fragt sich nur, welches Deo. Ich denke, es ist das körpereigene des Bären, das alle künstlichen Düfte verdrängt.
JamesBlond (63) meinte dazu am 28.05.15:
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wa Bash (47)
(28.05.15)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 28.05.15:
Danke. wa Bash. Ich glaube, die Damen haben sein üppiges Fell "gewittert", obwohl er es mit Pullover und Jackett verdeckte. )
CoffeeTint (35) meinte dazu am 29.05.15:
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 29.05.15:
Im Ernst, Tini, ich vermute, dass über den Kerl einige Gerüchte circulieren, warum nicht auch verdeckt getwitterte.

 monalisa (29.05.15)
Eine 'bärig' erzählte Geschichte, lieber Ekki . Unter 'bärig' versteht man in unserem alpenländischen Naturvolk-Dunstkreis schlicht GROSSARTIG. Jetzt frag ich mich, ob das im Zusammhang mit deinem Tanzbären stehen könnte?
Ein Aspekt scheint auch, dass Dame von Welt sich fragt, was all die anderen an diesem Kerl finden und das höchstselbst herausfinden möchten, nicht?

Liebe Grüße,
mona

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 29.05.15:
Grazie, Mona. Auch ich möchte die Neugier als Motivation nicht ausschließen, vermute aber, dass sie als Ausrede herhalten muss für eine Triebkraft, die tief im endothymen Grund sitzt.

Liebe Grüße
Ekki

 TrekanBelluvitsh (29.07.15)
Lieben Frauen nicht "böse" Männer, jene die anders sind? Hach, wie aufregend... Und dann wundern die Damen sich, wenn er wirklich böse ist und sie vermöbelt. Aber danach tut es ihm bestimmt ganz Leid und es wird nie wieder passieren... Ich würde das den "Ensslin-Komplex" nennen...

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 29.07.15:
Danke Trekan, eine ganz neue Interpretationsvariante. Wer kann sie ausschließen?
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