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Text zum Thema Abschied

von  keinB

Das erste: Auf dem Weg läuft im Radio „Best day of my life“ von den American Authors.

Drei Stunden später starre ich die Wanduhr an. Der Sekundenzeiger scheint völlig normal, ticktack, ticktack, aber der Minutenzeiger will und will nicht wandern. Es ist kurz nach elf, Freitagmorgen. Wir warten.

„Wir stellen das Intervall der Lungenmaschine niedriger. Die Morphiumdosis bleibt unverändert, aber das Schlafmittel wird verdoppelt. Da die Lunge selbstständig arbeitet, werden Blut und Zellen nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt. Während die Sauerstoffsättigung im Blut sinkt, hört zuerst das Gehirn auf zu arbeiten, bis der Hirntod eintritt. Das Herz wird noch ein wenig weiter schlagen, aber dann schließlich auch die Funktion einstellen.“
Pause. Bedeutungsschwangere Pause, dachte ich. Scheiß Job. Ob das jemals zur Routine wird?

„Natürlich müssen Sie alle drei damit einverstanden sein.“
Natürlich. Abstimmen oder losen wäre eine scheiß Idee. Man könne sich ja nachher gegenseitig Vorwürfe machen. Dabei musste man ihn doch nur ansehen, um zu sehen, dass jedwede Hoffnung nur lachend und höhnend auf unseren Nasen tanzen würde.

„Sie treffen die richtige Entscheidung. Selbst, wenn er noch einmal aufwachen sollte, wissen wir nicht, wie geschädigt das Gehirn ist. Oder was er davon hat. Einen Tag. Zwei. Eine Woche, vielleicht drei.“
Kopfintern: „Oh, hey, Papa, du bist wach, schön. Wir haben allerdings eine schlechte Nachricht für dich: Deine Lunge ist komplett verkrebst, die Ärzte gehen davon aus, dass die Metastasen schon überall gestreut haben, also, naja, genieß, dass du wach bist, solang du noch wach bist.“

„Er wird nichts merken und keine Schmerzen haben.“
Natürlich nicht. Die haben wir.

Mutter sitzt am Kopfende. Die Verzweiflung steht ihr ins Wesen geschrieben.
Ich sitze zur Rechten, habe meine Hand auf seinem Arm, seinem grauen, unwirklichen Arm. So kalt.
S. steht am Fenster und starrt durch die Jalousie nach draußen.

Mutter bat ihn, Vater anzufassen, damit dieser merkt, dass er nicht allein ist. S. weigerte sich, und mir brachen die Hilflosigkeit meiner starken Mutter und dieses unglaublich fremde, verwaschene Übrig meines noch stärkeren Vaters schlicht das Herz.

Mutter beginnt zu reden, erinnert sich laut, an Flausen und Dummheiten meines Vaters, Sturheiten, Charakterzüge, und nichts davon macht es leichter. Da bleibt nur immer der Blick auf dieses eingefallene, unendlich alte Gesicht, diese fahle, aschgraue Haut, der man schon ansieht, dass, was an Leben noch in ihr ist, nicht mehr der Rede wert ist. Mutter möchte glauben, dass er unsere Anwesenheit spürt, streichelt ihm unentwegt übers Gesicht, flüstert ihm Kleinigkeiten ins Ohr, und ich starre wieder zur Uhr und es hat sich wieder nichts getan.

Die Graphen und Werte auf den Monitoren verändern sich ständig. Ich kann nichts herauslesen, verstehe ihre Bedeutungen nicht und habe die Hälfte von dem, was der Pfleger erklärt hat, mir nicht gemerkt und die andere Hälfte vergessen. Gelegentlich piepst einer der Apparate, dann kommt der Pfleger herein, drückt ein paar Knöpfe und lässt uns wieder allein.

Die Situation ist surreal. Der Raum ist surreal. Ich trete zurück, über, mag nicht in mir sein, mag nicht hier sein, mag nicht all diesen Stürmen in mir ausgeliefert sein und mache aus. Die emotionale Dunkelheit, mit der ich geschlagen bin, ergießt sich aus meinen Augen in den Raum, mein Sehen wird überdimensional, in den Peripherien flackern Punkte. Der emotionale Part ist eingefroren, die Hülle strafft sich, sitzt grade, funktioniert. Nimmt wahr und sieht doch hindurch durch Uhr, Mutter, Bruder, andere Hülle. Die Zeit gerinnt mir noch mehr – das ist der Nachteil – aber erträglicher. Ich reibe wiederholt mit dem Daumen der linken Hand über die Innenseite der Rechten, um mich zu vergewissern, dass ich mich nicht aufgelöst habe. Habe ich nicht, da ist Druck. Auflösung. Druck. Auflösung. Druck.

Irgendwann kommt der Pfleger herein. Er schaut auf die Monitore und erklärt uns, dass es vorbei sei. Was die Monitore jetzt noch anzeigten, seien – ich höre nicht mehr zu. Es wird Zeit, dass ich an die Luft komme.

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Kommentare zu diesem Text

janna (66)
(28.01.16)
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 keinB meinte dazu am 28.01.16:
Danke.

 Theseusel (28.01.16)
Erleben auf der Flatline.

 keinB antwortete darauf am 28.01.16:
Danke.
managarm (57)
(28.01.16)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 keinB schrieb daraufhin am 28.01.16:
Danke.

 Lluviagata (16.02.16)
Ich war leider nicht dabei, als mein Vater starb. Ich kam drei Minuten zu spät. Mir blieb nur noch, vor der leeren Hülle zu erstarren. Dies hält bis heute an.

Danke dafür.

 keinB äußerte darauf am 16.02.16:
Ich danke dir.
Graeculus (69)
(16.02.16)
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 keinB ergänzte dazu am 16.02.16:
Danke.
Das Alter.

 Dieter Wal (21.08.16)
Unglaublich gut geschrieben. Wie die übrige Prosa.

 keinB meinte dazu am 08.09.16:
Danke.
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