.
Boris ging heute mit einem festen Vorsatz zur Schule. Heute wollte er endlich Julia ansprechen. Julia war etwas jünger als er und ging in die Klasse unter ihm. Sie war ihm sofort aufgefallen, als sie neu in die Schule kam. Sie war so hübsch, dass er dachte, jeder Junge müsse sich auf der Stelle in Julia verlieben. Aber schnell merkte er, dass es nicht so war. Seine Klassenkameraden beachteten Julia kaum. Sie schauten den Mädchen hinterher, denen sie immer hinterher schauten – Julia schien es für sie nicht zu geben.
So sehr das Boris erstaunte, so sehr freute es ihn auch. Dann hatte er wenigstens keine Konkurrenz zu fürchten.
Julia besuchte schon ein halbes Jahr die neue Schule. Sie fühlte sich noch nicht wohl hier. Die Scheidung ihrer Eltern hatte sie traurig gemacht. Zwar hatte es ihr auch Angst gemacht, wenn die Eltern sich stritten. Aber sie hoffte doch, dass in ihrem Elternhaus bald wieder Ruhe einkehren würde. Oft betete sie abends vorm Einschlafen darum, dass Mama und Papa sich wieder liebhaben sollten, aber es sah so aus, als ob der liebe Gott sie nicht erhören wollte. Mit den Eltern und ihren Streitereien wurde es immer schlimmer. Wenn Julia weinend in ihrem Bett lag, fühlte sie sich schuldig. Vielleicht lag es an ihr, dass es keinen Frieden in der Familie gab?
Als die Scheidung der Eltern erfolgt war, zog Julia mit ihrer Mutter zusammen in eine neue Wohnung in einer neuen Stadt – und Julia kam auf diese neue Schule.
Sie war auch vorher schon ein stilles Mädchen, das stundenlang alleine sein konnte. Sie las viel, manchmal mehrere Bücher gleichzeitig. Wenn sie bei einem Buch das Lesen abbrach, weil gerade nichts Spannendes passierte, griff sie zu einem anderen und las dort weiter.
Oft schweiften beim Lesen die Gedanken ab. Dann legte Julia das Buch aus der Hand und schaute zum Fenster hinaus. Sie flog mit ihren Gedanken in die Welt der Phantasie. Wie auf Flügeln aus weißen Wölkchen. Ja, so würde sie es beschreiben: wie einen Flug in eine unbekannte Welt. In dieser Welt gab es keinen Krieg, keinen Streit und keine Scheidungen.
Durch die Veränderungen und das neue Leben mit der Familie, die nun nur noch aus Mutter und Tochter bestand, wurde Julia noch stiller. So still, und immer ein wenig traurig wirkend, fand sie keinen Anschluss in der Schule. Ihre Klassenkameraden hatten mit sich selbst zu tun.
Julia war eine durchschnittliche Schülerin. Sie war weder auffallend gut, noch auffallend schlecht – deswegen fiel sie niemandem wirklich auf.
Bis auf eine Ausnahme: Toni. Tonio, wie er richtig hieß, wurde von allen Toni genannt. Toni sah sehr gut aus und galt in der Klasse als „Weiberheld“. Die Mädchen kicherten, wenn Toni einen dummen Spruch abließ und sie anmachte. Sie fanden das cool, und die meisten wünschten sich Toni als Freund.
Seit Julia in die Klasse gekommen war, richtete Toni seine ganze Aufmerksamkeit auf sie. Zuerst bemerkte Julia es gar nicht richtig. Dann wurde Toni immer aufdringlicher. Seine laute und geschwätzige Art stieß Julia jedoch ab. Sie hielt ihn für einen Dummschwätzer ... was er ja auch war.
An diesem Dienstag, an dem Boris endlich Julia ansprechen wollte, hatte auch Tonio einen Vorsatz gefasst. In der großen Pause wollte er Julia vor möglichst vielen Zeugen in die Enge treiben. Er wollte sie aus der Reserve locken und so eindeutig ansprechen, dass sie ihn einfach beachten musste.
Julia stand nichtsahnend an ihrem Stammplatz unter einem Baum am Rande des Schulhofs. Toni näherte sich ihr. Wie der Rattenfänger von Hameln die Ratten, so zog Toni einen Schwarm Mädchen hinter sich her. Alle gingen in Richtung Baum. Julia biss gerade in einen Apfel, als Toni sich vor ihr aufbaute und sie dumm anredete. Beinahe hätte Julia sich an dem Apfelstückchen verschluckt, so erschrak sie. Toni erklärte den Mitschülern laut und angeberisch, dass Julia schon lange auf ihn scharf sei. „Wir wissen doch alle, was hinter deiner Maske steckt. Du willst mich für dich alleine, gib es doch endlich zu! Guck dich doch an, wie du aussiehst. Und dann guck mich an! Ich kann jede haben, auf dich Zicke bin ich nicht angewiesen!“
Das laute Prahlen Tonios hatte noch mehr Schüler angelockt, die nun in einem lockeren Kreis um Julia und den Baum herum standen. Alle sahen Julia an und warteten gespannt darauf, wie sie reagieren würde.
Julia hatte plötzlich Angst. Was sollte sie tun oder sagen? Tonio war beliebt bei den Mitschülern. Gegen ihn käme sie niemals an, was sie auch sagte oder tat. Aber sie wollte die Situation beruhigen. Deshalb sagte sie nur kurz: „Lass mich einfach in Ruhe, Toni, ja?“ Prompt kam von Tonio ein höhnisches Lachen zurück. „Ich soll dich in Ruhe lassen? Du bist doch diejenige, die mir ständig nachrennt!“
Plötzlich trat jemand durch den Kreis der Zuhörer in die Mitte und baute sich vor Toni auf. Boris war nicht nur älter, sondern auch größer und muskulöser als die anderen. „Hast du nicht gehört, was die Lady gesagt hat? Lass sie gefälligst in Ruhe – verzieh dich, Dumpfbacke!“
Respektvoll wichen die Schüler zurück. Manche lachten nach diesen Worten. Aller Augen waren auf Boris gerichtet, der nun auf Julia zuging. „Komm, hier haben wir zwei nichts verloren.“ Er nahm die überraschte Julia an der Hand und ging mit ihr ruhig und freundlich lächelnd durch die Menge der Mitschüler über den Hof ins Schulgebäude. Vor Julias Klassenzimmer verabschiedete er sich mit den Worten: „Ich hole dich nach der letzten Stunde hier ab.“
Die folgenden Unterrichtsstunden vergingen für Julia wie im Flug. Ihre Mitschüler schauten ihr nicht offen in die Augen. Aber sie hatten plötzlich wohl eine andere Meinung von ihr, und sahen sie nicht mehr abschätzend an. Toni hingegen wurde einfach übersehen ... so, als gäbe es ihn gar nicht.
Nach der Schule gingen Julia und Boris in den nahegelegenen Park und setzten sich auf eine Bank. Dort redeten sie und redeten und redeten...
Es stellte sich heraus, dass Boris auch ein Scheidungskind war. Er lebte mit seinem Vater und dem jüngeren Bruder zusammen. Er hatte das Glück gehabt, in seiner Heimatstadt bleiben zu können. Nun freute er sich darauf, Julia nach und nach alle Sehenswürdigkeiten dieser schönen Stadt zu zeigen.
Julia begriff im Laufe der Zeit und der vielen Gespräche mit Boris, dass sich Eltern wegen der Partnerschaft scheiden lassen – nicht wegen der Kinder. Julias Schuldgefühle verflogen ganz, als sich die Stimmung zwischen ihren Eltern soweit gebessert hatte, dass sie wieder freundlich miteinander sprachen. Ab und zu kam ihr Vater mit seiner neuen Frau zu Besuch. Dann saßen alle friedlich am Kaffeetisch und erzählten. Auch Boris war dabei, und Julia sagte: „Das ist mein Held. Er war da, als ich Hilfe brauchte. Am richtigen Ort und zur richtigen Zeit.“
.