Ich werde dir erzählen

Text zum Thema Weihnachten

von  atala

Es ist kalt draussen, doch es liegt kein Schnee. Ich kann ihn riechen, er muss noch oben in den Wolken stecken. Ich recke den Kopf in Richtung Himmel und sehe keine Sterne. Meine Beine schlottern und deshalb renne ich los. Dicht neben mir läufst du, deine Beine tragen dich gut. Ich renne die Strasse bis zum Ende, strecke die Arme seitlich aus und stelle mir vor ich sei ein Flugzeug. Manchmal kreuzt du meine Flugbahn, du fliegst im Slalom. Die Bommeln deiner Mütze flattern im Wind.
An der Kreuzung umkreise ich einen Pfosten und blicke mich nach Mutter um. Sie steht ausserhalb des Strassenlaternenlichts, ihr grauer Mantel ist kaum zu erkennen. Doch ihr Schal ist ein roter Fleck und ich stelle mir vor, dieser sei ein Lichtsignal auf der Landebahn und renne geradewegs darauf zu. Ich schreie, sie solle sich beeilen. „Zuerst willst du nicht gehen und jetzt kannst du es kaum erwarten dort zu sein“, schüttelt Mutter den Kopf, als ich bei ihr bin. Heute möchte sie nicht wütend werden, sie schmunzelt sogar etwas. Ich mag es, wenn sie lächelt, sie tut es nicht oft. Soll ich neben ihr her gehen, überlege ich kurz. Doch du stehst mitten auf der unbefahrenen Strasse und rufst mir über der Schulter zu, ich solle kommen. „Gleich!“, schreie ich zurück und zu Mutter, die verdutzt schaut, sage ich schnell: “Wir warten vor der Kirche auf dich.“ Ich renne wieder los und höre sie noch fragen:“ Wer ist wir?“

Vor dem grossen Kirchentor stehe ich nun schon eine Weile. Ich hüpfe von einem Bein aufs andere. Du sagst:“ Die Türschwelle ist ein Graben aus Feuer.“, dann springst darüber und wieder zurück. Wie hoch du deine Beine hievst ohne viel Anlauf zu nehmen. Ich versuche es dir nachzumachen, doch schaffe es nicht ganz so weit. Die Leute, die in die Messe hinein wollen, schütteln den Kopf. Einer grummelt:“ Da hast du dir ja den passenden Platz zum Spielen ausgesucht.“ Ein grosser Mann schiebt mich mit seinem Arm auf die Seite. Sein Ärmel rutscht etwas nach hinten und ich sehe seine Hände sind Pranken. Als der Mann mich zur Seite gedrängt hat, ist mein Fuss dem Höllenschlund zu nahe gekommen. Nun brennt mein Stiefel, die Flammen lecken schon am Hosenbein. Die steinernen Stufen vor der Kirche sause ich auf einmal herunter und ersticke das Feuer in dem ich meinen Schuh über den Kies des Vorplatzes nach mir ziehe. Es gibt dunkle Streifen, sie sehen im Steinchenmeer aus wie die Wasserspur eines Schiffes bei Nacht. Die Geräuschkulisse, die aus dem Bauch der Kirche kommt, ist nicht mehr zu hören. Jemand hat das Tor von innen geschlossen. Es ist plötzlich ganz dunkel und still auf dem Platz vor der Kirche.

Ich sehe mich nach dir um. Du stehst mit dem Gesicht zum Weihnachtsbaum gewandt, der in der Mitte der Fläche steht. Die riesige Tanne leuchtet prachtvoll vor sich hin. „Schau, ein Stern sitzt auf der Spitze!“, rufst du und zeigst mit dem Finger auf das vergoldete Metall. „Den hol ich dir“, sagst du noch, bevor du zum Baum läufst, in die Zweige greifst und dich bis zum Gipfel hangelst. Oben angekommen, klemmst du zwischen den Knien den Stamm ein und nimmst mit beiden Händen den leuchtenden Stern. Bevor ich genau erkennen kann, wie du es machst, hast du dich mit ein paar Zwischengriffe in die Äste wieder hinabgleiten lassen. Mit einem breiten Grinsen übergibst du mir den Stern. Er erleuchtet dein Gesicht, das gesund und rosig aussieht. Der glitzernde Komet liegt schwer in meinen Armen. Ich wundere mich, wie du ihn so leicht vom Baum genommen hast. „Wo bleibt denn Mutter?“, fragst du und blickst dich um. Ich wende meinen Hals und sehe sie kommen. Sie winkt mir zu, steigt die Treppen zur Kirche hinauf und sagt: „Lass doch den Stein hier draussen“.

Als wir eintreten, hat der Gottesdienst noch nicht begonnen. Doch auf den Bänken sitzen die Leute schon Schulter an Schulter und sie stehen auch in den Gängen. Wir bahnen uns der Wand entlang einen Weg durch die Menge. Plötzlich stehen Nina und ihr Mann vor uns. Du rollst mit den Augen, als du sie siehst und Nina kreischt auf und kneift mir in die Wange. „Wie heisst der Mann schon wieder?“, frage ich dich. „Fischkopf“, grinst du zurück. Ich versuche nicht zu lachen, denn seine Augen sind gross und ausdruckslos, sein Mund leicht offen. Auch er scheint meinen Namen vergessen zu haben, er schüttelt mir mit gelangweiltem Gesicht stumm die Hand. Wir finden noch drei freie Plätze am Rand der Bänke. Ninas Mann sagt, er wolle lieber hinten stehen und verschwindet in die Menge. Ein Sitz liegt hinter zweien und von ihnen aus haben wir nur Sicht auf eine Säule. Mutter und Nina setzen sich vor mich hin und du hockst dich neben mir im Schneidersitz in die Schwebe. Mutter sage ich es nie, aber dir flüstere ich es ins Ohr:“ Ich mag es an Heiligabend hier.“ Es ist schön warm, weil alle so eng beisammen sitzen, es riecht gut und überall brennen Lichter.
Nina fragt Mutter über dich aus. Ich versuche ihr Gespräch zu übertönen und summe vor mich hin, doch ich höre es trotzdem. Mutter sagt, du seist immer noch im Krankenhaus und immer müde. Heute bräuchtest du Ruhe, doch morgen gingen wir zu dir. Ich schaue auf die Seite, neben mir schwebt niemand mehr in der Luft. Bist du jetzt bei deinem Körper, der sich immerzu ausruhen und schonen muss? Wenn ich dich besuchen gehe, sehe ich deine Venen auf der Schläfe. Die Haut in deinem Gesicht ist ganz hell geworden. Doch morgen, wenn ich zu dir komme, werde ich dir erzählen, dass du trotzdem bei mir warst und was wir alles zusammen erlebt haben. Ich bin mir sicher, du wirst dich freuen.

Mutter pellt sich aus ihren Mantel und legt den Schal ab. Sie fasst sich ins dunkle Haar und legt es hinter ihre Schultern. Es liegt glatt vor mir. Ich würde ihr gerne über den Kopf streichen und mit den Fingern durch ihr Haar gleiten, doch ich traue mich nicht. Ihr Haar ist schön, fast so schön wie deines.
Die Leute um mich herum sind aufgestanden und blättern im Gesangsbuch. Von hinten erklingen Orgeltöne. Auch ich erhebe mich und blättere bis zum Titel Gloria. Jemand brüllt in mein rechts Ohr. Da bist ja wieder! Du stehst neben mir, öffnest deinen Mund absichtlich viel zu weit und schreist aus voller Kehle einen falschen Text mit. Wir müssen andauernd wieder aufstehen und singen. Irgendwann wirst du unruhig. „Komm, lass uns nach vorne gehen“, sagst du und nickst geradeaus. Zusammen laufen wir an die Seite der Erhebung, auf welcher der Pfarrer steht. Wir stehen direkt vor der Ecke, auf der hölzerne Tiere um eine Krippe aufgestellt sind. Nach und nach kommen Kinder auf die Bühne, sie führen die Weihnachtsgeschichte auf. Das Mädchen, das Maria spielt, kenne ich. Sie geht mit dir in die Klasse. Ihr Kopf ist von einem Tuch bedeckt und sie trägt ein langes Gewand. Mit Joseph geht sie von Haus zu Haus und fragen, ob sie dort übernachten können. Eigentlich hättest du Maria spielen sollen. Du hast in deinem Zimmer schon die Lieder geübt. Ich möchte deine Hand halten, doch du hast dich wieder aufgelöst.
Später sagt der Pfarrer wir sollen beten. Ich schliesse die Augen und denke dich. Ich wünsche mir, dass du ganz gesund wirst und wieder bei uns wohnen kannst. Nächstes Jahr stünde ich dann in einer Reihe und du wärst vorne neben dem Pfarrer und würdest singen. So schön klängest du, dass alle ganz still wären. Mutter würde die eine Hand ans Herz halten, so wie sie es immer macht, wenn sie ergriffen ist. Der Pfarrer segnet uns und zum Schluss singen wir noch ein Lied. Ich brauche kein Buch, ich kenne das Lied aus der Schule, unser Lehrer übt es immer mit uns. Wir stehen dann um sein Klavier mit den Strophentexten in der Hand und er spielt die Melodie dazu. Danach stehen die Leute auf, ziehen ihre Mäntel enger und gehen in Richtung Ausgang. Du stehst plötzlich wieder vor mir, lächelst und sagst:“ Es schneit draussen.“ Du rennst an allen vorbei und ich dir nach, wir springen über die Schwelle des Tors in die kalte Luft. Und tatsächlich fallen dicke Flocken aus den dunklen Wolken. Wir rennen auf den Vorplatz, den Kopf in den Nacken. Die weissen Flocken schmelzen auf unseren Handflächen, die wir gegen den Himmel halten und fallen in unsere aufgerissenen Münder.

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Kommentare zu diesem Text


 miljan (15.08.20)
Schade, dass diesen Text bislang niemand kommentiert hat. Ich wiederhole mich zwar, aber du schreibst wirklich schön.

 miljan meinte dazu am 15.08.20:
Gerade, nachdem ich meinen Kommentar abgeschickt habe, fiel mir übrigens ein Video ein, dass ich schon seit sehr langer Zeit nicht mehr angesehen habe:
https://www.youtube.com/watch?v=norpjDBSGo0
Es ist eher eine Assoziation als alles andere, aber dieser melancholische Grundton in deinem Text, der Schnee, der Gesang, das Spiel, daher wohl der Einfall.

Antwort geändert am 15.08.2020 um 21:38 Uhr
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