Trennung I, II

Erzählung zum Thema Trennung

von  pentz

1. Teil

Er

Trennungen laufen immer schmerzhaft vonstatten.
Ihr erster Anruf nach der Trennung.
„War an der Ostsee in Lübeck gewesen!“, eine Bemerkung, sehr überflüssig, aber effektiv, für sie, unbedingt notwendig, die sich mit der Begründung getrennt hat: „Mit Dir fehlt mir der Luxus und das Geld!“
Manch einer mag einwenden, es gibt schlimmere Bemerkungen, womit er Recht hat. Nämlich solche die unter die Gürtellinie zielen. Das sind die schlimmsten. Wie die sein können, überlasse ich aber der Phantasie des Lesers. Außerdem ist die Erinnerung daran sehr schmerzhaft. Ich will meinen Schlummer keineswegs wecken. Ich gehe dem lieber aus dem Weg.
Nach sechs Wochen diese Rückmeldung, einer Begegnung, der ich aus dem Weg gehen wollte. Aber es kam anders.
Sie hatte schon vor zwei Wochen angerufen, um ein Treffen mit mir anzukündigen, war aber kurz davor zu ihrer Luxus-Besuchs-Reise, zu einer richtig „teueren“ angetreten, was sie mit mir nicht machen konnte angesichts meiner chronischen Ebbe im Geldbeutel. „Doch, doch, ich würde Dich liebend gerne vorher noch einmal treffen, aber....“ Es war eine Finte, ein Vorwand, um später erzählen zu können, m e i n geliebtes Reiseziel, das Meer, besucht zu haben – um mich damit ins Herz zu treffen.
Vielleicht sehe ich das auch falsch, indem ich es nur auf mich beziehe. - Nein, in Wirklichkeit will sie mir gar nichts mehr beweisen, nur sich selbst. - Nach dem Ende der Beziehung stellt sie unter Beweis, dass sie sich richtig entschieden hat, sich von mir zu trennen. - Das ist ganz natürlich, verständlich und nachvollziehbar. - Sie muss sich vor Augen führen, dass es gut und richtig und wohltuend ist, sich von mir armen Schlucker getrennt zu haben. – Dies sage ich mir, halte mir vor Augen, sind meine Gedanken dabei!
Soll sie diese Frau jetzt in Bauch und Bogen und vollen Zügen ihre Freiheit genießen von mir und also das Leben. Wenn sich damit ihr Leben erschöpft, bitte sehr. Oft, denke ich, finden Menschen Sinn im Leben, wenn sie sich gegen andere abheben oder etwas genießen können, was dieser nicht besitzt. Ich habe keine Luxusurlaube zu bieten - sie soll sie auch und gerade ohne mich genießen. Ich liebe das Meer, sie auch, umsomehr im Bewusstsein, dass ich es nicht mehr kann, weil sie sich von mir getrennt hat. Soll sie!
Jedenfalls ist die Nagelprobe das erste Wiedersehen nach der Trennung. Das ist mit Erlaub noch interessanter und aussagekräftiger als das Trennungsgespräch. Der Inhalt letzteres: sie habe es leid, dauernd allein mit mir rumzuhängen und zuzubringen, ihr fehle ihre Freunde, die Gemeinschaft, das Gruppenerlebnis, was leider nicht mir möglich sei. Zu antworten, was Wunder, wenn Deine Freunde mich von Anfang an nicht mochten, hätte uns erneut in die altbekannte Endlosschleife von Vorwürfen katapultiert. Ich schwieg einfach. Außerdem, sie möchte noch einmal sehen, wie viel sie noch Wert war, sprich, wie viel Männer sie noch in die Kiste locken könne, für eine feste Beziehung fühle sie sich einfach noch zu jung, oder besser gesagt, weil sie doch erst in der dritten Lebenshälfte angelangt war, noch nicht alt genug.
Sie drängte nun darauf, mich bald wiederzusehen. Die vorgeschobenen Gründe waren die verbliebenen Besitztümer auszutauschen, mein Kritzelheft, meine Gitarre, die sie eigentlich gekauft hatte, aber egal, ich könne sie gerne haben. Ich ahnte, was im Grunde dahinter steckte. Und wenn ich es nicht geahnt habe, so doch wusste ich klipp und klar, als ich ihr keine zwei Minuten gegenüberstand. Sie lachte übers ganze Gesicht und pries unsere verlorene Beziehung als das verlorene Paradies auf Erden. Oha, so eine Probe auf Trennung war das Ganze bloß.
Aber in Wahrheit steckte letztlich etwas anderes dahinter. Ich hasse den Ausdruck, wie ein Mensch „tickt“, aber in diesem Fall meiner Freundin traf dieser wirklich zu. Sie wurde von gewissen mechanistischen Zwängen in ihrem Handeln bestimmt und sich jetzt wieder zusammenzutun war solch einer. Denn stets, wenn ihr etwas gefallen hat, sei es eine Kneipe, ein Ort im Urlaub, drängte es sie nach einer gewissen Zeit wieder dorthin. „Es war doch so schön!“ Im Nachhinein erlebte sie wohl unsere Beziehung als gar nicht so schlecht, also warum nicht wieder von Neuem anfangen?
Ich lehnte mich in meinem Sitz zurück und dachte nach. Hatte sie mich nicht stets verabscheut nachgerade, zumindest mir das Gefühl dafür vermittelt, dass ich nicht so wie sie, einer geregelten Arbeit nachging? Geregelt musste alles bei ihr sein, die ein festen Arbeitsplatz in einer städtischen Klinik hatte, wohingegen ich mich mit Gelegenheitsaufträgen herumschlug. Fehlte ihr also nun die Regelmäßigkeit einer festen  Beziehung? Brachte es sie durcheinander, mal mit diesem, mal mit jenem in die Kiste zu springen? Waren ihre ehemaligen Freunde mittlerweile nicht mehr bereit, Ausflüge und Zusammenkünfte wie ehedem zu pflegen, weil das nun einmal eine Periode gewesen ist, die vorbei war? Fühlte sie sich nun einsam? Lieber sich mit einem Partner herumärgern als einsam und verlassen zu sein und zu fühlen?
Wie immer, ich empfand kein Mitleid. Ein Zurück, eine stehende Phrase von mir, gab es nicht im Leben. Wie heißt es bei irgendeinem Autoren: Es führt kein Weg zurück. So soll es auch in meinem Leben sein!
Es gab die Verbindung BRING-MIR-MEINE-SACHEN vorbei, wobei es an ihr lag, mir diese vorbeizubringen, bzw. es günstiger, weil auf einem ihrer Arbeitswege liegend. „Gut, bring Du es mir vorbei, Du musst ohnehin mit dem Zug an meiner Station vorbeifahren.“ „Stimmt!“  Ich hatte das Gefühl, sie tat es gerne, freute sich darauf. Das brachte mich auf Idee, da ich neue Schuhe brauchte und sie so gerne Schoppen ging, dass sie mir doch welche besorgen könnte. Sie machte es ja so gerne. Schoppen hieß in diesem Zusammenhang, Ware übers Internet bestellen. Sie antwortete prompt bereits einen Tag darauf, dass sie diese Schuhe schon bestellt habe und am nächsten Donnerstag vorbeikäme. Ich hatte richtig gerechnet, sie tat es gerne, übers Internet Dinge zu besorgen. Ich fand, das war auch eine gute Basis, eine neue Plattform, dass sie etwas für mich tat, was sie ohnehin gerne tat. Dazu wird mir jeder zustimmen.
Aber verflixt, kam es mir plötzlich in den Sinn, am Mittwoch, den Tag zuvor, wollte ich doch für eine Woche in den Urlaub fahren. Ich teilte es ihr mit. Daraufhin kam eine E-Mail, höchst ungewöhnlich für sie, auf diese Weise mit mir in Kontakt zu treten, dass sie, weil  sie nur eine 14tätige Frist habe, die Schuhe wieder zurückschicken musste. Die Nachricht steckte voller Rechtschreibfehler, entweder, sie war von ihrer Arbeit gestresst oder sie schrieb diese Nachricht nur ungern, weil es sie zudem ärgerte. Ich konnte es mir heraussuchen.
Als ich zurückkam, schrieb ich ihr wieder sofort. Ich bot ihr auch an, sie könne mir ruhig die Addy von dieser Schuhmanufaktur geben, ich könne es mir auch selber bestellen. Diese Option bot ich ihr an und ließ sie offen. Aber anstatt Nachricht zu bekommen, hüllte sie sich unerwartet oder auch nicht, einige lange Zeit, jetzt schon eine Woche in Schweigen. Jedenfalls antwortete sie nicht sofort und sogleich. Obwohl sie es vor meinem Urlaub doch so eilig gehabt habe, wenn ich mich nicht schwer getäuscht hatte. Oder aber es war Zufall, dass sie gerade Zeit gehabt hatte. Darüber konnte ich nun brüten, bis sich gnädige Frau herabließ, wieder eine Lebenszeichen von sich zu geben. Darauf war ich verurteilt zu warten. Und ich wartete und wartete. Okay, dachte ich ingrimmig zu mir, der Punkt geht an Dich.
Einige Zeit sahen wir uns nicht. Plötzlich tauchte sie in der Disko auf, in der ich schon immer verkehrte. Bislang hatte sie diesen Ort gemieden. Meinetwegen, jeder konnte dorthingehen, wohin er wollte. Wir pflegten ein bisschen Konversation auf hohem Niveau, dann ging jeder für sich seinen Tanzbewegungen nach. Das war’s. Das nächste Mal das gleiche Spiel. Es war ja nichts dabei. Sie kam regelmäßig jetzt. Einmal meinte sie, du bist wohl seit neuesten auch immer hier, ein Formulierung, die von mir zu ihr gesagt besser angestanden hätte. Im ersten Moment war ich irritiert, denn ich hatte begonnen, mich zu verteidigen. Bis ich ins Lachen einfiel: „Das sagst gerade Du?“ Dann fiel auch sie ins Lachen. „Das stimmt, das trifft eigentlich auf mich mehr zu!“ Das beweist, sie hatte Chuzpe, sie hatte sich wieder gefangen und Kraft genug, über unsere gescheiterte oder ehemalige Beziehung zu scherzen. Bedauern, Trauer, nichts dergleichen war angebracht, kurzum, daraus schloss ich, sie hatte unsere Trennung überwunden, gut so! wir fühlten einander wie Fremde zueinander, zwar kam ab und an ein kleiner Erinnerungsschub bei mir hoch, einmal, wenn ich mir ihren festen Busen mehr erahnte als wahrnahm, wahrscheinlich besser gesagt, in Erinnerung rief - mehr nicht. Die Erinnerung erschöpfte sich schnell. Gut so!
Dann kam sie nicht mehr. Gut? Endlich, wurde ja auch Zeit, nach einem Jahr hatte sie denn doch einen gefunden, einen Lover, einen Stecher, einen Stemmer, einen Mann, eine Kerbe für ihren Gürtel: die Männer waren noch nicht tot! Somit konnte ich nicht mehr das Rad herumdrehen und mein Cowboyspruch erfüllte sich auch: es führt kein Weg zurück. Das war mir Trost, dass ich mich an dem hielt, was ich sagte, wenngleich ich damit nichts in der Hand hielt. Der Schein war gewahrt worden! Ich schlief allein im Bett. Neben mir lag niemand. Das schönste Spielen, das mit dem Körper zweier Menschen, vergaß ich zwar nicht, aber verlernte es, vermisste es mehr oder minder...
Sie
Ich musste nach der Trennung sofort meine langjährige Freundin in Lübeck besuchen. Wir waren vor vier Wochen bei ihr gewesen, wobei ich ihn nicht hätte mitnehmen sollen. Er hatte Marlene zutiefst verletzt. Es war die Zeit, als ihr Mann überraschend gestorben war. Entsprechend war sie in einer sehr sensiblen Phase, leicht verletzlich und empfindlich, obwohl es nicht ihre Art war, verletzt zu wirken. Sie ist nämlich die stärkste Persönlichkeit, die ich kenne. Sie hat mit ihrem Mann die größte ambulante private Pflegeversorgung für alte Menschen aufgebaut, was ihr Durchhaltevermögen, ihre Elefantenhaut und ihre Stärke beweist. Aber er hat es natürlich fertiggebracht, in ein weiches Nest zu stoßen und es auzureissen.
Und so fühle ich mich ihr gegenüber schuldig, denn ich kenn meine Lübecker Freundin bereits seit meiner Ausbildung als Krankenschwester, wir haben uns immer wieder in Unterbrechungen von wenigen Jahren regelmäßig besucht, wenn nicht, so doch sehr oft, mindestens alle halbe Jahre telefoniert.
„Ihr seit ausländerfeindlich!“ Das waren seine Worte. Dabei haben wir nur gesagt, bezugnehmend auf die Reinmachefrau von meiner Freundin, dass die schon wissen, wie sie zu ihrem Geld kommen, was ja auch stimmt. So waren wir entsetzt, ich am meisten, obwohl ich ihn kenne, dass er gerne ins Fettnäpfchen tritt, aber Marlene blieb fast der Atem stehen. Zum Glück konnte sie es gut überspielen, bzw. sich nicht anmerken zu lassen. Aber unter vier Augen, am nächsten Morgen, wo er noch auf der Toilette war, da offenbarte sie ihre Gefühle. Es war nicht ihre Art anzuklagen, aber ich spürte es, dass sie verletzt war. Das nahm ich ihm natürlich sehr übel. Da zeigt man so viel Vertrauen, dass man ihn zu einer dicken Freundin mit nach Hause und in Urlaub nimmt – „ich liebe das Meer so sehr und über alles“ – tut ihm einen wahrhaften Gefallen und bei nächster Gelegenheit fällt er einem in den Rücken, mißbraucht das Vertrauen. Aber ich hätte es wissen müssen, wes Geistes Kind er war, schließlich hatte er sich ausnahmslos mit allen meinen Freunden und Bekannten von mir angelegt. Aber Marlene war nun einmal etwas Besonderes. Meine langjährigste Freundin! Mit der wollte ich es mir niemals verscherzen, zumal sie auch in einem schönen Umfeld lebt, in Lübeck, wo man schön Urlaub machen kann. Sie hat ein Haus am Meerufer, für ihre Neffen und Nichten, sie selbst hat natürlich keine Kinder. Dort pfeift der Wind so schön durchs Haar, wenn  man abends auf der Veranda sitzend in die Abendsonne schaut, wenn sie blutorange am Horizont ins Meer taucht...
Dann mit seinem Künstlertum! Ist ja recht und gut, würde selbst auch gerne etwas in meinem Leben tun können, was über den Tag hinaus bleibt, aber dazu habe ich keine Zeit. Außerdem, hat er schon einen Preis bekommen, soziale Anerkennung – nein! Wozu ist Kreativität gut, wenn es nur den Künstler anspricht? Klar, Kunst passiert meist in der Einsamkeit, aber, aber mir ist die jetzt zu viel, nur immer mit ihm zusammen im Urlaub, im Kino, bei Veranstaltungen, ich vermisse das Gruppenerlebnis, vielen Menschen um mich zu haben, gemeinsam zu planen, da kommt man zusammen, trinkt Kaffee, isst Kuchen, das Geschirrklappern und das Besteckscheppern, und dann mal ein Schnäpschen zwischendrin, um locker und leger zu planen, was sich oft bis in die Nacht hineinzieht, dann selbst das Organisieren, Züge, Autos, Fahrräder und der Höhepunkt, wenn man dann mit vielen unterwegs ist, kann man mal mit dem plaudern, mal mit dem anderen, hört viel von wiederum anderen, die gerade nicht dabei sind, oder bekannt sind vom Sehen und Hören über drei Ecken herum, wunderbar. Bisschen Chaos, nicht diese asketische Strenge, die so ein Eremitendasein mit sich bringt, wenn man nur zu zweit ist. Man spürt die Stille und Einsamkeit dauerhaft, als ob man allein leben würde, bei diesem Nur-zu-Zweit-sein. Wer will das schon? Nein, ich nicht! Ich will etwas erleben, geschehen sehen, geschehen lassen, dies und das, jenes und anderes.
Sicherlich, ich geh einmal die Woche karteln ins Wirtshaus mit Bekannten, einmal im Monat mit einer andere Gruppe, aber zu wenig, zu wenig ist mir das.
Vor kurzem habe ich Claudia kennengelernt, die mit ihrem Mann in ihrem Haus wohnt, er unten, sie oben, sie hat einen neuen Freund, hat sich getrennt, ohne sich scheiden zu lassen, nach dem sie sich ein Haus gebaut haben, gemeinsam errichtet, nun funktioniert es nicht mehr zwischen ihnen. Sie steht dazu, wenn es nicht mehr geht, sollte man einen Schlussstrich ziehen, es geht auch so, wenn man sich getrennt hat, das Leben ist so lang. Sie hat mich in letzter Zeit oft zu ihr eingeladen. Sie wohnen auf dem Land. Das Haus, das sie mit ihrem Mann errichtet hat, ist wirklich sehr beeindruckend. „Aber was soll jetzt noch kommen?“, hat Claudia gefragt, während ich aus dem Staunen über dieses schöne Nest nicht mehr herauskam. Sie hat mit ihrem Mann keine Kinder gewollt oder gekriegt, nun saßen sie gefangen in ihrem goldenen Käfig. Da hat sie den ersten Schritt getan. Ach, ich bewundere sie so sehr, wie sie so entspannt dasitzt, die Füße in den englischen Sandalen ohne Strumpfe gebuhlt, neben ihr ihr neuer Freund, der breit und entspannt aus dem Fenster schaut, während einen Stockwerk tiefer ihr Mann wohnt. Aber das macht nichts aus. Claudia macht es nichts aus, ihm auch nicht. Am wenigsten der neue Freund, der auch gut verdient und sich auch getrennt hat von seiner Angetrauten. Wir schauen auf die Hopfenfelder, auf die Kirsch-Bäum-Plantagen, über die nunmehr bereits die Schwalben ihren schnell Flug absolvieren, auf das dörfliche Einerlei mit seiner Ruhe durch das riesige, große Fenster im weitläufigen Wohnzimmer vor der Veranda, an dem ein Kamin eingebaut worden ist, richtig in das Fundament, in die tragenden Mauern des Hauses hinein, welches von Anfang an auf Luxus und Bequemlichkeit hin konstruiert und erbaut worden ist, phantastisch! Claudia öffnet das Panoramafenster, wir bewegen uns mit sämtlichen Tassen, Untertassen, Flaschen, Schüsselchen und Kännchen nach draußen, Claudia schreit auf, als sie den Ruß auf den Stühlen und dem Tisch mit einem Finger darüberstreichend auf ihren Fingerkuppen gewahrt, meint: „Die Hechselmaschine des Großbauern des Dorfes!“ Aber kein Problem, ich hole schnell einen Lappen aus der Küche, Claudia protestiert zwar, und schwuppdi-wupp, aber nein, schon ganz schön dick, aber es geht, ist der Tisch sauber. Ich denke an meinen Bruder, der hat eine große Siloanlage, eine Bio-Gasanlage, einen Kuh- und Saumastbetrieb, der...  Endlich, haben wir alles weggewischt gehabt, ich dachte an  meinen Bruder, der mit seinen großen Maschinen, Hallen und Anlagen so viel Arbeit hatte dabei, der Arme, da ging es mir besser, wenn auch...
Claudia schüttelt sich, während ihr Freund lächelnd sagt: „Schon noch etwas kalt im Mai!“ und Claudia antwortet harmonisch ergänzend: „Später können wir noch in die Sauna im Keller gehen!“ Ja, so einen Freund hätte ich auch gern gehabt!
„Was macht Dein Freund übrigens?“, fragte der Freund von Hedwig.
„Nichts!“, entkam es mir. Was sollte ich sonst sagen: komponieren, malen, schreiben und hier und da ein bisschen Nachhilfe geben – wer konnte das schließlich nicht?
Ich versuchte abzulenken. „Meinen Bruder geht es genauso. Er lädt immerhin seine Nachbarn einmal im Jahr ein...“ „Damit sie nicht zu sauer sind auf ihn, wegen des Saueren Regens sozusagen...“, ergänzte der Freund Hedwigs. Schon ein bisschen provokant, der neue Freund. Aber ich setzte mein besten Lächeln auf.
„Ja, Wohlstand verpflichtet eben!“ Dieser Ironiker soll ruhig merken, mit wem er es zu tun hat.
Unsere Familie ist mittlerweile keine Bagage mehr oder wie das auf französisch heißt, muss ich mal meinen Freund fragen, sondern wir sind jetzt sozusagen ein Dynastie. Mit einer solchen Familie braucht man keine Witze zu machen, dies soll dieser Freund Hedwigs ruhig merken. Auch mein Freund, der mit dem Nachfolger des Hofes, meinen Neffen, ständig im Hader ist. Weil der Kleine einmal nicht richtig „Katze“ geschrieben hat – wonach jetzt der Bernd auf meinen Freund sauer ist. Er gibt ihm schon nicht mehr die Hand, wenn wir zu meiner Familie kommen. Das regt wiederum seine Mutter, meine Schwägerin, auf. So entstehen Spannungen wegen dieser zwei Holz- und Sturköpfe. Ja, mein Freund wird zunehmend zur Belastung, für mich, für unsere Familie, wo wir jetzt doch endlich zu Wohlstand, zumindest zu einem der größten landwirtschaftlichen Betriebe des Landkreises expandiert sind.
Eindringlich vor Augen geführt, dass es zwei Welten gibt, zwischen ihn und mir, ja, wie soll ich sagen, überhaupt, nämlich so etwas wie Armut und Reichttum, nennt man das doch, wurde mir das, als wir im letzten
Urlaub unser Zelt an der Grenze zwischen Frankreich und der Schweiz aufstellten. Es herrschte schon seit einer Woche nur Nieselwetter, und hier, als wir ankamen, mussten es schon Monate gewesen sein, dem durchnässten Boden des Zeltplatzes nach zu urteilen, auf dem feuchter Laub von den Bäumen lag, es war schon Anfang September, vielleicht hatte ein Sturm die Bäume erschüttert. Es war zwar nicht mehr regnerisch, aber immer noch nebel-feucht und unwirtlich. Man kriegte fast klamme Hände des Nachts im Zelt, wenn man schlief, man war jedenfalls gezwungen diese mit einer Decke zu überspannen, damit man nicht kalte, feuchte, eklige Finger bekam. Gut, wir packten tagsüber unser Fahrrad und fuhren über die Grenze in die Schweiz nach Genf, um abends wieder zurückzukommen, aber was für ein Unterschied sich auftat, zwei Welten, das verarmte Frankreich dort, das reiche, saubere, klare Schweizerland da. Und in Genf, da waren die Menschen alle sauberer angezogen, als dort, wo wir herkamen, und wir waren schon vier Wochen unterwegs gewesen quer durch Frankreich. An den Promenaden des Genfer Sees gingen wir entlang, wo lauter vergnügte, schön angezogene, lebenslustige Menschen promenierten und liefen. Und Hunde hatten die mit sich, eine jegliche Familie, egal wie groß die Kinderschar war, leistete sich einen. Die Frauen gingen auf hohen Stöckelschuhen, die Kinder waren propper gekleidet und alle erfreuten sich an den reich geschmückten Auslagen der Schaufenster hier. Einmal sahen wir eine Mutter, hochhackig stolzierend und toll gekleidet, mit zwei Kindern, eins einen Kopf größer als das andere und das Kleine führte einen schwarz-weißen Dobermann mit sich an der Leine, der sie um Kopfeslänge überragte. Der Hand war wie ein kleines Rind, so dicke, langgliedrige Beine wie eine kräftige Gazelle. Das war die eine Welt, wie verblasste die andere, in der wir wie geschlagene Hunde und Bestrafte und gescholtenes Gesindel wieder zurückkehrten über die Grenze nach Frankreich. Musste das sein, frage ich mich. Du verdienst genug, um Dir einen vierwöchigen Urlaub in der Schweiz zu leisten, bedeutete zwar schon einen scharfen Einschnitt in mein Budet, aber es war machbar. Und lebt man nicht einmal, und muss man dann leben, um auf die Annehmlichkeiten des Lebens, wie es sich einem bietet, zu verzichten? Für was arbeite ich so hart, drei Tage acht Stunden in der Klinik und 10 Stunden in der Privatpraxis an zwei Tagen plus eineinhalb Stunden Anfahrtszeit, wenn ich das Auto benutze? Dann die Monate nähen, häkeln und stricken für den Weihnachtsmarkt, wo ich Krawatten, Hosenträger, Mützen, Schals und sonstiges schicke Accessoires feilbiete – alles für die Katze, nein, das musste nicht sein!
Obwohl ich es vermissen werde, das Gitarrenspiel abends am Lagerfeuer, auf dem ein Kaninchen auf einen Spieß über dem Feuer gegrillt wird, die kristallklaren Sterne am Firmament, die man nur so klar sehen kann, wenn es nicht von der Lichtreflexion einer nahen Stadt verunstaltet und verzerrt wird, das ist mir schon klar, das ich das nicht mehr haben werde. Was aber bekomme ich dafür? Ein warmes, geplustertes Doppelbett, ein in buntesten Farben, Formen und Ornamenten von Flieswerk ausgestattetes Badezimmer, mit Wanne, in denen locker zwei Personen Platz einnehmen können, durchwühlt und –gespült von einen Whirlpool und auf der Ablage, dem Sims der Wanne stehen zwei Sektgläser Champanier... Und, und, und...
Eindringlich vor Augen geführt, wie kurz das Leben doch ist, hat mir das Schicksal von Hans. Hans hat auch in Lübeck gewohnt, um die Ecke von meiner Freundin, mit seiner 30jährigen Ehefrau. Er war erfolgreicher Ingenieur gewesen, hatte eine unheilbare Bluterkrankheit, nicht gerade Leukämie, aber sein Blut war nicht ganz rein. Er hat es sich leisten können, sich alle Monat das Blut waschen, reinigen und mit neuem auffrischen zu lassen, so dass er sein Lebensende gut ein paar Jahre hat verlängern können. Wie kurz das Leben doch ist! Und wie unberechenbar! Denn meiner Freundin Mann ist auch plötzlich am Schreibtisch gestorben, Herzinfarkt. Das er gefährdet gewesen ist, wussten nicht die Ärzte, niemand. Später hat es sich dann herausgestellt, dass er an einer seltenen Art von Insuffizienz litt. Zuerst dachten die Nachbarn, als das Sanitäterauto bei ihnen vorfuhr, Hedwig sei etwas passiert, die immer schon, seit ich sie kenne, mit ihrer Gesundheit zu tun hat und ihr zu schaffen macht. Deswegen ist auch so erfolgreich gewesen in ihrer beruflichen Karriere, ihre Krankheit hat sie mobilisiert, vorangetrieben, ohne nach links und recht zu sehen, wobei sie immer mal wieder Rückschläge erlitt und ans Bett gefesselt war. Zum Glück war da ihr Mann, der die Lücke füllte und auch ihre Tätigkeit, Aufgaben und Pflichten übernahm. Sie waren schon ein eingeschworenes, tüchtiges Team, die beiden, ach, und deswegen auch so erfolgreich! Diese Gunst ist mir niemals zuteil geworden mit meinen Lebenspartnern, leider! Jedenfalls, unerwartet traf es jemanden anderen als meine Hedwig, von dem man bislang keine Klagen gehört hatte. ist das nicht ungeheuerlich! Man kann sich auf nichts und niemanden verlassen, selbst auf die hohe Kunst der Medizin nicht, so weit entwickelt sie heute schon ist. Auch ich kann morgen sterben, wer weiß es? Und mein Geld, mein Besitz, mein schwerverdientes Vermögen – für wen? Nicht für mich, nicht für mein Wohlergehen, keine Wellness die letzten Jahre werde ich gehabt haben – ich bin doch nicht bescheuert! Kurz oder lang will ich noch etwas haben von meinem Leben! Mein Freund ist mir leider ein Glotz am Bein. Dieser oder andere, ich glaube, ich werde mich nicht mehr binden. Ab und an mal ein Abenteuer – das war’s. Allein komme ich besser über die Runden, kann mehr auf die Seite legen, auf die hohen Kante, um es dann zu verjubeln, wenn es mir Spaß macht. Ich mach’s wie Hans und seine Frau, die sind auf einem Donauschiff von Koplenz nach Basel bis nach Budapest und zurückgefahren und haben sich von hinten bis vorne bedienen lassen von der Schiffsbesatzung, die hatten ein lustiges, gemütliches, bequemes Leben. Und warum auch nicht, wenn man sein Lebtag nur schuftet?
Er und Sie
Wir gehen die Treppe zu meiner Wohnung hinauf. An der Wand hängt ein Bild mit Katzen. Sie zuckt zusammen: „Ich sehe überall Aggressionen.“ „Wo?“ „Na, die eine Katze dort, sie schaut so zornig aus dem Bild.“ „Ich finde, sie sieht eher deprimiert aus der Wäsche. Melancholisch.“ „Ich sehe so viel Zorn!“
„Ich bin mit meiner Person unzufrieden zurzeit.“ „Warum?“ „Weißt, ich unterstelle Dir dauernd, dass Du dies und jenes nicht kannst.“ „Jetzt, wo ich das Auto repariert habe, es geschafft habe, den Auspuff zu erneuern!“ „Ja, zum Beispiel! Ich traue Dir nichts zu. Ich habe so ein negatives Bild von Dir!“  „Hm.“  „Das gefällt mir nicht. Ich bin von daher unzufrieden mit mir selbst.“

2. Teil

Er

Als ich ihr nach etwa drei Jahren wieder begegnete, traf ich eine zitternde, schwermütige, gebrochene Frau. Es war bezeichnend, daß es auf einem Weihnachtsmarkt stattfand. Wie zu erwarten hatte sie vier Monate zuvor dafür Abends für Abends gebuckelt, geschuftet, genäht, geplant, so daß neben ihren 50 Wochenstundentag mit 8 Stunden Fahrt inbegriffen kaum mehr etwas für ihre Freizeit übrigblieb, zumindest nicht für die Männer, die sie sich wünschte, daß sie einer nach dem anderen in ihre Kiste rein- und raussprangen. Sie lachte dazu sarkastisch, den Kopf schüttelnd. Bei den Luxusurlauben, ein Ziel, welches sie leicht und locker erreichen durfte angesichts der bloßen Frage des Geldes, reagierte sie genauso zerknirscht.
Nu, was denn?
„Am Freitag Abend kam kaum einer auf den Weihnachtsmarkt, so daß ich beinahe depressiv wurde!“, ein Geständnis, welches so gar nicht in diesem öffentlichen Rahmen einer Feier passte, so daß ich darüber erschrocken, daß sie sich derartig vor aller Augen gehen ließ, sofort beschwichtigend dazwischenfuhr: „Aber mittlerweile scheint es ja geklappt zu haben, was das Wichtigste ist.“ Sie trug einen bis zum Bauchnabel herabhängenden Beutel um sich, aus denen die Geldscheine herauswinkten und -lugten.
Naja, Geld hatte sie wenigstens. Was nur wollte sie mehr?
Sie schnaubte wie ein Ross, zitterte wie eine alte Mähre und lamentierte wie ein geschorenes Schaf. Ich dachte, sie habe bestimmt Parkinson, eine Nervenkrankheit, als ich sie so von oben herab betrachtete, ich, der gut 30 Zentimeter größer war. Sie war dicht an mich herangetreten, immer wieder schaute sie mir direkt in die Augen, als klammerte sie sich an mich. Ich erzählte, daß es mir gut ging, mir meine Zähne gerichtet hatte die letzten einundeinhalb Jahre, wobei sie, die ständig unter Zahnverfall litt, immer noch ihre unteren Zähne vernachlässigt kunterbunt neben- und voreinander standen, äußerte, daß auch sie sich dies endlich mal machen müsse.
Zeit genug, hätte sie ja gehabt. Geld nicht minder. Also was war mit ihr los?
Wahrhaft, sie hatte allen technischen, handwerklichen, zivilisierten Komfort. Aber leider ist dieser mitunter sehr schädlich für den Organismus. Wenn sie Spätabends heimkam, musste es schnell gehen mit dem Essenzubereiten. Also hatte sie eine die ganze Wand belegende Kochnische, Kochreihe, Kochapparatur, die unter Neonstrahlern optimal ausgeleuchtet war - daß der Küchen- und Essraum nur ein Fenster besaß, das zum kleinen Balkon hinauswies, war etwas zu wenig gespendetes Licht. Und künstliches Licht zerstört Hormone, beeinträchtigt die Drüsenfunktion, vielleicht auch das Zahnfleisch, so daß hierin die Ursache des Zerfall in ihrem Mund zu finden ist?
Was war nur los mit ihr?
Diejenigen Menschen, die sozialistisch, sozial und für den anderen denken, sind gut. Aber die Menschen verändern sich und werden zu dem gerade Gegenteiligem, dem, was sie einst verabscheut, bekämpft und wogegen sie neuralgisch waren. Später wissen sie es nicht mehr. Sie sind noch gegen einen Teil dessen, was sie als negativ erachtet haben, aber ein anderer Teil wurde bereits von diesem Negativen absorbiert. Sie merken es nicht.
Aber andere.
Sie verstand sich stets als Kapitalistin. Sicher, gegen die Umweltzerstörung war sie, deswegen diese Partei wählend, die vorgibt, gegen sie zu kämpfen, die Grünen, aber das widersprach nicht ihrem Anspruch, bei der Gruppe mit dabeizusein, die das Sagen auf der Welt haben, den Kapitalisten.
Ihr Bruder wurde ein kleiner Kapitalist dadurch, daß er das meiste geerbt hatte - ihr blieb wenig, das Wenige war ihr Ansporn, damit und darauf wieder Großes aufzubauen.
Besitz, das ist das magische Wort!
Eine Eigentumswohnung!
Abzahlbar in Raten, die sie bestimmt aufbringen würde!
Die Banken kauften ältere Häuser, Vielfamilien-Häuser auf und rüsteten sie auf. Besonders schmerzte es, die alten Holzvertäfelungs-Treppenhäuser von kruden Verkachelungen substituiert sehen zu müssen nach einer solchen Renovierung, aber egal, ihre eigene Wohnung würde sie um so schöner gestalten. Dies geschah, indem selbst der Boden so dick bearbeitet und verlegt wurde, daß der Nachbar unter ihr kaum etwas von den Schritten über ihm hörte. Leider mangelte diese Schalldämpfung darüber. Sie hatte es übersehen, diesen nachteiligen Aspekt ihrer Wohnung, so sorgfältig sie auch alle Für und Wider überlegte, zu wägen und taxieren imstande gewesen war - aber dies hatte sie übersehen.
Darüber wohnte ein bekennendes linkes Ehepaar. Der Mann, Gymnasiallehrer und kommunalter, linker Abgeordneter, die Ehefrau arbeitslose Buchhändlerin, ein Intellektuellenpaar par excellance ist es. Sie pflegen einen Literaturkreis, der sich einmal monatlich zur Besprechung einer Lektüre trifft, sind engagiert in der Flüchtlingspolitik, laden oftmals eine Autorin zum Kaffeekränzchen in ein schickes Bistro, Lokal oder Vorstadt-Lädchen ein. Das hebt das Renommeé des Mannes, der als Linker Stadtratskandidat in der Öffentlichkeit in Erscheinung tritt. Es wird auch einmal eine Sammelaktion für verfolgte Journalisten im Ausland unter ihrem weitläufigen Bekanntenkreis gestartet oder, was besonders gut ankommt, zudem in der Tagespresse verkündet – Spenden erwünscht – für eine Frau, die in einem Dritte Welt Land wegen ihres Frauseins oder ihrer Schreibe oder ihrer Ideologie verfolgt, eingekerkert und drangsaliert wird. Pamphlete und Briefe an den jeweiligen Präsidenten des Landes wurden versendet.
Während der Formulierung eines solchen Solidaritätsschreibens stolziert und stalkt die linke Dame mit ihren hochhackigen Stöckelschuhen durch ihre großen Eigentumswohnung, zum Leidwesen der unteren Mietpartie, ihr. Sie wird stets mit dem Feuerwerk eines Gedonneres, Gehämmeres und Gestakeles bearbeitet, eingedeckt und überschüttet, daß die Nerven blank liegen, denn der Lärm dringt in jeden Winkel ihrer Wohnung hinein, ausgenommen vielleicht ins Arbeitszimmer, in die kleine Schneidermanufaktur, in der ihre Nähsachen, -utensilien und –maschinen stehen – na gut, mach das Beste aus der Not, setz Dich halt an die Nähmaschine und arbeite und arbeite, dann hörst Du auch nicht die Dauerattacken von oben.
Ansonsten jedoch ist sie sich mit jedem Schritt über ihr, der zu hören war, bewußt, daß sie im Grunde nicht Dame ihrer Eigentumswohnung ist. Der linken Feministin über ihr, auf ihren Radau angesprochen, ist das herzhaft gleichgültig. Sie promeniert weiterhin wie es ihr gefällt. Sie, die unter ihr Wohnende, sitzt in der Falle, zu spät erkannt, denn jetzt hat sie schon den Ratenzahlungs-Vertrag mit der Bank unterschrieben, die Wohnung paradiesisch schön hergerichtet, mit nur einem übersehenen Makel: Es ist laut wie in einer Katakombe, über der die Gesteinsbrocken in einem kleinen Erdbeben immer wieder hin- und herrollen, auf sie drauffallen, eindonnern und auf ihren Nerven herumtrampeln.
Ihre Wohnung, selbst entworfen und geplant, keine Tür stößt mit einer anderen zusammen, alles ist wie es sein sollt eingerichtet, von Grund auf, aber leider nicht gehört und erkannt, dass die Decke zu dünn ist: nun lief ein Poltergeist über sie hin und her und zermürbte sie.

Es ist sehr schwer zu ertragen, im Reich der Schönen und Reichen hässlich und arm zu gelten. Zumal der leibliche Bruder, mit dem man, aufgewachsen und als ältere Schwester kommandiert, gewaschen und bekümmert hatte, zu den ersteren zählte. Da will man auch dazu gehören, das ist gleichsam ein erblicher Rechtsanspruch. Dafür muß man vielleicht kämpfen, aber man gehört dazu, gasklar. Jedenfalls würde sie keine törichte Jungfrau sein und die Stunde verpassen, wo das Tor vor ihrer Nase zugeschlagen würde. Sie würde die Zeit zu nutzen wissen - nimmt sie sich vor und schuftet und schuftet.
Aber die Realität spricht an ihrem Körper eine andere Sprache.

Ich kann mir gut vorstellen, weil sie dies während unseres Kennenlernens angesprochen hatte, als sie noch unschlüssig war und mich wieder loshaben wollte, stattdessen lieber einen sogenannten Callboy für ihre körperliche, geschlechtliche Befriedigung zu mieten, dass sie dies vielleicht heute tat...

*

Ich weiß nicht, ob sich die Dame über uns vorher anders verhalten hat. Aber als ich das erste Mal zu dem Literaturkreis kam, brach der Damm los. Da dies an einem der ersten Tage meines Einzuges war, weiß ich nicht zu sagen, ob sie vorher auch schon so rücksichtslos auftrat.
An der ersten Sitzung des Literaturkreises fing sie bereits an, mich mit ihrem Mann zu messen, der diesen ins Leben gerufen hatte und qua Ausbildung am meisten, zumindest sachverständigsten beizutragen hatte. Bis ich kam. Ich war nicht minder qualifiziert.
Hatte also ihr Mann, der Gymnasiallehrer für Deutsch, vorher meist das Wort geführt, meinte die Frau Ehefrau, dieser hätte das große Sagen. Qualitativ schon mal. Aber ich konnte auch so lange wie dieser reden, also reichte ich dem Platzhirsch qualitativ das Wasser.
Im freundschaftlichen Umgangston mit dem sehr persönlich klingenden Du-Pronomen gab sie pikiert im hohen Diskant wieder: „Der Werner redet mehr als mein Mann.“ Sie befand sich wechseljahrebedingt im Stimmbruch. Daraufhin fing übrigens, offenbar war die Identifizierung derart stark, auch Lina an, in solch gebrochener Tonlage zu reden, bis ich es stoppen konnte, indem ich sie darauf aufmerksam machte, sie rede ja wie Genoveva.
Diese fühlte sich jedenfalls durch mein Erscheinen, mein Auftreten, mein Eindringen brüskiert, herausgefordert und nachgerade auf die Palme gebracht.
Ich würde zu lange reden, ihr Mann käme zu kurz.
Als die Lady, Frau Beamtin und Reich-Erbin von Arbeitslosigkeit bedroht und sogar vom Entzug sozialer Unterstützung heimgesucht wurde, sagte sie lapidar: „Mein Mann ist Beamter!“, wobei sie kurz mit dem Finger auf diesen deutete, nicht der Mühe wert diese misslichen Umstände, aber ihre Konzentration lag voll und punktgenau auf die anwesende Lina. Diese zuckte zusammen. „Pech, was Lina, hast leider keinen Beamten abgekriegt!“, schien ihre Kontrahentin damit zu sagen. All die ganzen Bauernsmädchen, die ich kenne, einschließlich meiner Mutter, die unter diesem Mangel Zeit ihres Lebens litt, konnten sich nichts Besseres als Ehemann vorstellen als einen Beamten, der Sicherheit, Macht, vielleicht Korruptionsmacht, auf jeden Fall hauptsächlich lebenslange Sicherheit garantierte – schon eigenartig! Schaut er noch so verhaut aus, dieser Mann und Beamte, egal, sein sozialer Status war entscheidend und tröstete über alles andere hinweg. Bewunderswert und ekelerregend abstoßend, dass solche Frauen, mochte er so hässlich wie Quasimdo sein, ein Leben lang an der Seite eines solcher Kreatur verbringen konnten. Mir ist das ein Rätsel!
Einmal fiel ihr etwas nicht ein, zur Beruhigung sagte ich: „Wird nicht so wichtig sein!“ Einen Moment dachte sie immer noch nach, dann sagte sie, statt es zu akzeptieren, was ich ausdrückte: „Nein, nein. Das war sogar sehr wichtig!“ Ich war pass erstaunt, wie wichtig sich manche Menschen nehmen und sich keinen Fehler zugestehen können.
Hatte sie Informationen von Lina erhalten über meinen bourgeoisen Lebenswandel, weil sie plötzlich so fuchsteufelswild auf mich gewesen war? Kannte sie mich, nicht unwahrscheinlich in dieser nur Großstadt, aber nicht Metropole, vom Hören-Sagen, Sehen, der ich scheinbar mühsig jahrelang in der Bibliothek zu- und herumbrachte – ich habe keinen Schimmer von einer Ahnung.
Jedenfalls tobte sie über uns an der Decke.
Da ich mich ohnehin ins gemachte Nest Linas gelegt hatte, ihre imposante Wohnung war wohl kaum ein Monat vor meinem Erscheinen und „Einzug“ fertiggeworden, war dies vielleicht doch ein normales Verhalten von der aus bäuerlichen Verhältnissen stammenden, nämlich aus dem ehemaligen Armenhaus Bayerns, der Oberpfalz, gut verheirateten Pseudo-Intellektuellen.
Leider waren auch ihre musikalischen Bemühungen auf der Geige, wobei sie sich sehr abquälte, nicht die Besten und von keinen Früchten getragen und so konnte sie wohl nur im Machtzeigen punkten. Immerhin, ihr Mann, er spielte hervorragend Saxophon, war insofern ein bemerkenswerter Mensch, wenngleich er nicht den kleinsten Finger rührte ob der hysterischen Verstiegenheit seiner Ehegemahlin. Stattdessen fälzte er sich am Freitag Abend am Chaiselonge und stammelte davon, dass er es sich verdient habe, so sich „herumzulümmeln“, wobei er verklärt auf seine gemalten Ölbilder stierte, die irgendwelche Very-Import-People aus dem hiesigen, städtischen Establishment darstellten, wovor die zu den Sitzungen eingeladenen Teilnehmer gerne wie gebannt und scheinbar hin- und hergerissen ewige Minuten lang verweilten und scheinbar sprachlos und paralysiert über die umwerfende Qualität der Bilder oder der herausragenden Persönlichkeiten darauf waren.

copyright @ werner pentz

Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram