Philosophische Faustkämpfe (Marx vs. Sartre)

Gleichnis

von  autoralexanderschwarz

Philosophische Faustkämpfe I ( Sartre vs. Marx )

Der Kampf geht weiter, Sartre stürmt nach vorne. Er ist Marx körperlich unterlegen, eine ganz andere Gewichtsklasse, doch er gleicht dies durch seine Jugend und die dicken Brillengläser aus, die seine Sehkraft auf 115 % der normalen steigern. Auch wenn er den Kopf gesenkt hält, kann er die Arena bis auf den letzten Sitzplatz überblicken und entdeckt Simone, die am anderen Ende der Halle rauchend an einer Säule lehnt, dann richtet sich sein Blick auf Marx, der bislang regungslos in der anderen Ringecke auf ihn wartet.

Marx glaubt die Geschichte auf seiner Seite und da der Gewinner bereits feststeht und selbst eine Niederlage dialektisch gewendet zum Sieg führen würde, braucht er sich vorerst nicht zu bewegen. Sartre interessiert ihn nicht, er betrachtet das Publikum, sieht die privaten Logen in den oberen Rängen und die dürren Popcornverkäufer, die sich durch die spitzen Ellenbogen drängen. Auch wenn sie dabei servil lächeln, spürt er ihre Wut, riecht das Benzin. Sie bräuchten nur den richtigen Funken, um zu explodieren.

Sartre nutzt die geistige Abwesenheit seines Gegner für einen Überraschungsangriff, täuscht mit der Rechten an und schlägt mit der Linken zu, donnert seine Faust auf den feindlichen Kopf, ein Stück unterhalb der Schläfe, auf den Wangenknochen. Er hat für diesen Tag trainiert, seine Beinarbeit verbessert, trippelt vor, trippelt zurück und landet einen schweren Körpertreffer.

Den Schlag gegen den Kopf ignoriert Marx. Er hat schon viele solcher Schläge abbekommen, aber der Schlag in den Bauch hat weh getan. Widerwillig hebt er die Fäuste. Erst jetzt fixiert er Sartre, der ihn an unerwarteter Stelle getroffen hat. Sartre trippelt vor, Sartre trippelt zurück und bewegt sich dabei in einem Halbkreis um Marx herum. Durch die Brille wirken seine Augen riesengroß.
Marx versucht ihn einzuschätzen. Meint er es wirklich ernst oder spielt er nur mit seinem Existentialismus, er tritt einen Schritt nach vorne, geht den direkten Weg, reißt die Faust nach oben, schlägt zu und die Bewegung ist so schnell, dass die Zuschauer sie erst in der Zeitlupe auf den großen Bildschirmen begreifen. Flimmernd vor Geschwindigkeit rast Marx’ Faust durch das Bild, öffnet sich kurz vor Sartres Gesicht, so dass jeder Finger einzeln, vereint in einer gewaltigen Maulschelle in Sartres Gesicht explodiert. Die Wucht des Aufpralls verformt Sartres Gesicht auf den Bildschirmen und es gelingt dem Kameramann den Flug der Brille einzufangen, die sich – so als hätte sie einen eigenen Willen - in der Zeitlupe wie schwerelos vom Gesicht hebt, um dann ihrer vorbestimmten Flugbahn gegen einen der Ringpfosten zu folgen.

Sartre prallt zurück. Er hat nicht mit dem geballten Zorn gerechnet, der die proletarische Faust auf ungeahnte Geschwindigkeit beschleunigte. Wir sind nicht frei, sagt die Maulschelle, wir sind nie frei gewesen. Sartre taumelt, sein Gesicht brennt, ohne die Brille sieht er nur Schemen. Sein Blick sucht Simone, doch er kann sie nirgendwo entdecken. Orientierungslos bewegt er sich durch den Ring, tastet nach den Seilen, um sich zu orientieren.

Marx weiß, dass er nun leichtes Spiel hat. Ohne seine Brille ist der Feind ihm ausgeliefert. Noch immer schmerzt der Bauch von dem Schlag. Wütend muss es machen, wenn in den Salons die Knechtschaft als freigewählte proklamiert wird, er wendet sich von Sartre ab, um auf die Ringseile zu klettern. Um sich herum hört er aufbrausenden Jubel, steigt auf das erste, das zweite, das dritte Ringseil und dann fixiert er Sartre, der sich am Seil entlang tastend auf ihn zu bewegt.

Sartre tastet sich am Seil entlang. Der Kampf ist denkbar ungünstig verlaufen und er entnimmt den Reaktionen des Publikums, dass irgendein bedrohliches Ereignis unmittelbar bevorsteht. Er lauscht in die Arena und glaubt die verhasste Stimme von Camus zu hören, der seinen Gegner mit den falschen Parolen anfeuert. Während er sich mit der linken Hand am Ringseil festhält, tastet er mit der rechten Hand den Ringboden nach der Brille ab, doch er bewegt sich von ihr weg, immer weiter auf Marx zu, der sich nun über ihm, auf dem obersten Ringseil, zum Sprung bereit macht.

Marx springt, doch eben in dem Moment, als er sich abstößt und nach vorne schnellt, kommen ihm Zweifel. Noch im Flug gleitet sein Blick über die Gesichter des Publikums. Der lauteste Jubel dringt von oben aus den privaten Logen, auch vorne, auf den teuren Plätzen haben sich die Menschen jubelnd erhoben; nur die Popcornverkäufer und die anderen Ausgemergelten stehen unruhig still, geduckt, wie unter der Peitsche eines Sklavenhalters. Marx begreift, dass sie sich nicht mit der Faust des Proletariats sondern mit dem geprügelten Brillenträger identifizieren. Deine Maulschelle galt uns, sagen ihre traurigen Augen, sie galt unseren Hoffnungen und Wünschen.

Und es ist dieser Moment der Irritation, der Marx den Sieg kostet, viel zu spät blickt er nach vorne, viel zu weit ist er gesprungen und rast über Sartre hinweg auf den Ringboden zu. Hart schlägt er mit dem Kopf auf den Boden und mit einem lauten Knacken bricht sein Schädel auf.
Marx ist tot, verkündet der Kommentator.

In diesem Moment ertastet Sartre seine Brille.

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Kommentare zu diesem Text

Graeculus (69)
(17.07.17)
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